von Heike Kleffner
Anfang der Nullerjahre absolvierten über hundert bayerische KriminalbeamtInnen Fortbildungskurse in der aus den USA importierten Reid-Vernehmungsmethode. Deren Gefahren zeigen sich u.a. in den Ermittlungen zur NSU-Mordserie und im Fall der ermordeten neunjährigen Peggy K. aus Oberfranken.
Die auf die Angehörigen der neun migrantischen Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und Betroffenen der rassistischen Anschläge fokussierten Ermittlungen geraten in der medialen und parlamentarischen Aufarbeitung zunehmend in Vergessenheit. Auch in dem seit fünf Jahren andauernden Prozess vor dem Oberlandesgericht München gegen Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten mussten NebenklagevertreterInnen hart darum kämpfen, dass die Ermittlungsführung überhaupt thematisiert werden konnte. „Die Ermittlungsbehörden haben die Angehörigen nicht als Opfer von rassistischen Gewalttaten wahrgenommen, sondern sie kriminalisiert und diffamiert. Sie wurden als Beteiligte an kriminellen Machenschaften gesehen, die angeblich in organisierte Kriminalität, in Banden- und Rauschgiftgeschäfte, in Prostitution verstrickt waren. Nur weil im rassistischen Weltbild dieser Ermittler schlicht nicht vorkam, dass Menschen nichtdeutscher Herkunft Opfer rassistischer Gewalt werden“, lautete das bedrückende Resümee von Angelika Lex, der im Dezember 2015 verstorbenen Münchener Rechtsanwältin und Nebenklagevertreterin von Yvonne Boulgarides.[1]
Die unmittelbar an der sogenannten „BAO Bosporus“ beteiligten Ermittler haben sich allerdings bislang konsequent geweigert, einzugestehen, dass ihr von institutionellem Rassismus geleitetes Vorgehen sowohl die Hinterbliebenen der Mordserie als auch die Verletzten der Anschläge des NSU traumatisierte und letztendlich eine erfolgreiche Ermittlungsarbeit verhindert hat. Beispielhaft dafür ist die Zeugenaussage des langjährigen Leiters der Münchener Mordkommission 5, Josef Wilfling, am 11. Juli 2013 vor dem OLG München. Auf den Vorwurf von NebenklagevertreterInnen, nach dem Mord an dem Münchener Gemüsehändler Habil Kilic am 29. August 2001 seien die von ihm angeordneten Ermittlungsschritte von rassistischen Stereotypen, aber nicht durch Fakten geleitet gewesen, lautete Wilflings wütende Antwort: „Jetzt wollen wir mal bitte nicht so tun, als ob es keine türkische Drogenmafia gibt.“[2]
Die Reid-Methode in Bayern
Eine weitere beunruhigende Leerstelle in der Auseinandersetzung mit der Art und Weise der Ermittlungsführung vor allem bei den fünf in Bayern verübten NSU-Morden ist die Frage, inwieweit die Teilnahme von mindestens zwei Beamten der sogenannten „BAO Bosporus“ in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Česká-Mordermittlungen an Schulungen in der umstrittenen US-amerikanischen Reid-Verhörmethode dies befördert hat.
Mit der Anfang der 1950er Jahre von dem ehemaligen Chicagoer Polizisten John E. Reid entwickelten Verhörmethode sollen mutmaßliche Tatverdächtige vernommen werden: Ziel ist es, die im polizeilichen Gewahrsam befindliche Person zu einem Geständnis zu bringen – auch mithilfe von falschen Vorhalten und langen Sequenzen äußerst manipulativer Fragen.[3] Einen wissenschaftlichen Anstrich erhält die Methode dadurch, dass sie den Ermittlern einen strukturierten Ablauf für die Vernehmung von Beschuldigten insbesondere bei schweren Straftaten wie Tötungsdelikten und Vergewaltigungen sowie vermeintliche psychologische Tipps zur Interpretation von bestimmten Verhaltensmustern an die Hand gibt. So gilt beispielsweise das Vermeiden von Augenkontakt durch die oder den Beschuldigten als ein Hinweis dafür, dass eine Person die ihm oder ihr vorgeworfene Tat begangen hat.
Die Reid-Methode gliedert sich in drei sogenannte „Phasen“: die „Verhaltens-Analyse-Befragung“ (Behavioral Analysis Interview) als Phase I, die „neun Vernehmungsstufen“ bzw. -schritte, die im Mittelpunkt der Reid-Methode stehen, in Phase II und die schriftlichen Protokollierung eines Geständnisses in Phase III.[4]
In der circa dreißigminütigen Phase I soll dem Tatverdächtigen eine Reihe scheinbar harmloser Fragen gestellt werden, um die Verhaltensmuster der befragten Person kennenzulernen und einzuschätzen. Darüber hinaus sollen sogenannte „verhaltensprovozierende Fragen“ gestellt werden, die bei der vernommenen Person Stress auslösen und ein vom üblichen Verhaltensmuster „abweichendes“ Verhalten provozieren sollen. Dafür stellt die „Reid-Technik eine Reihe von Standardfragen und eine Kategorisierung von Verhalten zur Verfügung, wonach der bzw. die Vernehmer anhand von bestimmten Verhaltensmustern erkennen sollen, ob sich eine Person wahrheitsgemäß äußert oder lügt“.[5] Zum Schluss der „Verhaltens-Analyse-Befragung“ soll die sogenannte „Köder-Frage“ gestellt werden. Darin sollen die VernehmerInnen andeuten, dass belastende Beweismittel gegen die Beschuldigten existieren würden. Die Beschuldigten sollen durch Fragen wie „Wer könnte Sie vom Tatverdacht entlasten?“ oder „Wie fühlen Sie sich, wenn Sie zu dieser Tat befragt werden?“ zu Reaktionen provoziert werden, die dann anhand der Reid-Kategorisierung entweder als Belege dafür dienen, dass die beschuldigten Personen der Phase II unterzogen werden soll – oder aus der Vernehmung entlassen wird. Diese Bewertung soll durch zwei BeamtInnen getroffen werden.
Die Phase II umfasst dann die „neun Vernehmungsstufen“ nach Reid.[6] Bei der ersten, der „Direct Positive Accusation“ – dem direkten positiven Tatvorwurf, wird den tatverdächtigen Personen in einer Art Standardformulierung der Tatvorwurf derart vorgehalten, dass ihnen suggeriert wird, die ErmittlerInnen gingen ohnehin von ihrer Schuld aus. In Reid-Seminaren wird den TeilnehmerInnen empfohlen, routinemäßig zur Eröffnung der Vernehmung den Satz zu verwenden: „Unsere Ermittlungen gehen davon aus, dass Sie die Tat begangen haben“.[7] Während unschuldige Vernehmungspersonen auf derartige Vorwürfe schockiert und überrascht reagieren würden, so die Reid-TrainerInnen, würden die TäterInnen die Vorwürfe bestreiten und Augenkontakt vermeiden.
In der zweiten Stufe, dem „Theme Development“ – der Hypothesenentwicklung, hält einer der ErmittlerInnen einen etwa zehnminütigen Monolog, in dem die Tat und ihre Begehungsweise gerechtfertigt werden; beispielsweise dadurch, dass einem Vergewaltigungsopfer die Schuld für die Vergewaltigung gegeben wird, weil sie aufreizende Kleidung getragen und „es gewollt habe“ oder indem auf Beispielfälle mit SympathieträgerInnen als TäterInnen verwiesen wird. Grundsätzlich geht es bei dieser „Themenbildung“ darum, zum einen realistisch erscheinende Hypothesen zur Tatbegehung zu entwerfen, zum andern die moralische Verwerflichkeit einer Tat zu minimieren und somit die Hemmschwelle für ein Geständnis zu senken. Dieser Schritt zwei soll zudem den Druck auf die Beschuldigten dadurch weiter erhöhen, dass in dem Monolog die VernehmerInnen ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass die Tatverdächtigen die Tat auch begangen haben.
In der dritten Stufe, „Handling Denials“, geht es darum, wie die Vernehmenden auf das Leugnen der Schuldvorwürfe durch die Tatverdächtigen reagieren sollen. Dabei sollen die Verdächtigen scheinbar die Möglichkeit erhalten, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Gleichzeitig sollen die VernehmerInnen aber jegliche Einsprüche „ruhig, aber energisch“ unterbinden und stattdessen die „Themenbildung“, also das Entwickeln weiterer Tatablaufs-Hypothesen vorantreiben. Das Reid-Handbuch behauptet, dass sich in dieser Phase unschuldige Personen daran erkennen ließen, dass sie sich weigern würden, an der Vernehmung weiter teilzunehmen und vehement auf ihre Darstellung beharren. Schuldige Personen hingegen würden lediglich höflich darum bitten, dass ihnen das Wort erteilt werde.
In der vierten Stufe, dem „Overcoming Objections“ – dem Überwinden von Einwänden, sollen die Einwände der vernommenen Personen zwar angehört, aber lediglich als Beweise für deren Schuld in eine neue „Hypothesenbildung“ einbezogen werden.
In der fünften Stufe, dem „Attaining the Subject’s Attention“, der Wiedererlangung der Aufmerksamkeit der mittlerweile erheblich unter Druck stehenden, mutmaßlich erschöpften und in-sich gekehrten Beschuldigten, sollen die Vernehmungspersonen physisch näher an die beschuldigte Person heranrücken, sie beispielsweise auch berühren und dafür sorgen, dass der Gesprächsfaden nicht abreißt, damit die Beschuldigten keinen Raum hat darüber nachzudenken, welche Konsequenzen ein etwaiges Geständnis tatsächlich haben könnte.
In der sechsten Stufe, dem „Handling the Subjects Passive Mood“ – dem Umgang mit der passiven, zurückgezogenen Stimmung der Verdächtigen, würden laut Reid-Handbuch schuldige Personen nun „innerlich mit sich ringen“, ob sie wahrheitsgemäß aussagen oder weiter leugnen sollen, was die ErmittlerInnen u.a. an der Körpersprache wie beispielsweise einer in sich zusammengesunken Körperhaltung, nervösen Ticks oder lautem Weinen bzw. leisem Schluchzen erkennen würden. Ein derartiges Verhalten sei auch als Ausdruck von Scham oder Schuldgefühlen über die begangene Tat zu werten, lehrt Reid, und damit als ein weiterer „Beweis“ für die Schuld der Tatverdächtigen. Deshalb sollen die VernehmerInnen vermeintlich verständnisvoll reagieren sowie die Tathypothese dann auf ein oder zwei Sätze zuspitzen.
In Stufe sieben, dem „Presenting the Alternative Question“ – der Darstellung von zwei vermeintlichen Alternativen, bieten die VernehmerInnen den Beschuldigten zwei Antwort-Alternativen auf eine Frage an, die aber jeweils beide ein Schuldeingeständnis beinhalten. Die eine „Alternative“ bietet dabei eine scheinbar moralisch vertretbare Rechtfertigung für die Tatbegehung. Die andere „Antwortalternative“ soll möglichst moralisch so verwerflich dargestellt werden, dass die Beschuldigten sich quasi automatisch für die scheinbar akzeptable Begründung für ihre (vermeintliche) Tat entscheiden. Dabei werden die VernehmerInnen in den Reid-Trainings dazu angehalten, keine andere Art der Antwort durch die Beschuldigten zu akzeptieren und darauf zu bestehen, dass die Beschuldigten sich für eine der beiden vorgegebenen Antworten entscheiden.[8]
In Stufe acht, dem „Obtaining the Verbal Confession“ – dem Erhalt des mündlichen Geständnisses, sollen die VernehmerInnen durch offene Fragen darauf achten, dass die Beschuldigten in ihrem mündlichen Geständnis den Ablauf der Tat mit ihren eigenen Worten schildern – wobei Beschuldigte hier oft die von den VernehmerInnen in den Stufen zwei bis sechs präsentierten Tathypothesen und -abläufe wiedergeben, wie Recherchen von US-amerikanischen KriminologInnen und JournalistInnen sowie einzelne höchstrichterliche Urteile nachgewiesen haben.
In Stufe neun, den „Elements of a Written Confession“ – Elemente eines schriftlichen Geständnisses, geht es dann um die schriftliche Protokollierung sowohl des Geständnisses als auch des Nachweises, dass es sich um ein freiwilliges Geständnis handelt.
Eine „tektonische Verschiebung“ in den USA
Die Liste der KundInnen und Referenzen auf der Firmenwebsite von „John E. Reid & Associates“ liest sich wie ein Who-is-Who der Strafverfolgungs- und Sicherheitscommunity: von Air Force, dem Auslandsgeheimdienst CIA, der auf die Verfolgung von Drogenkriminalität spezialisierten Drug Enforcement Administration (DEA), den Polizeibehörden u.a. von Chicago, Boston, Alaska, Illinois und Philadelphia über das Ausbildungszentrum des FBI bis hin zu den Navy Seals und dem US-Marine Corps und zahlreichen multinationalen Unternehmen. Es gibt scheinbar kaum eine Institution, die MitarbeiterInnen nicht in der Reid-Verhörtechnik geschult hat.[9] Erst seit wenigen Jahren wird dies nicht mehr nur von StrafverteidigerInnen und KriminologInnen, sondern auch von US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden und in den Medien kritisch diskutiert. Dazu beigetragen haben mehrere spektakuläre Freisprüche von unschuldig Verurteilten, die unter Anwendung von Vernehmungstechniken aus der Reid-Methode falsche Geständnisse abgelegt hatten. Weil die Betroffenen zum Teil jahrzehntelang in Haft saßen, fielen Entschädigungen in Millionenhöhe an. Beispielhaft ist etwa der Fall von Darrell Parker, der nach dem Mord an seiner Ehefrau 1955 von Firmengründer John E. Reid persönlich vernommen worden war. Parker legte schließlich ein Geständnis ab und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. John E. Reid baute seinen Mythos als „super cop“ und seine Karriere weitgehend auf diesem Fall auf. Parker wurde schließlich 1991 offiziell für unschuldig erklärt. Doch erst 2011 entschuldigte sich auch der Generalstaatsanwalt von Illinois öffentlich bei Parker, nachdem DNA-Tests eindeutig nachgewiesen hatten, dass ein falsches Geständnis erzwungen worden war und Parker den Mord nicht begangen hatte. Parker erhielt 500.000 US-Dollar Haftentschädigung.[10]
Die höchste Entschädigung in ihrer Geschichte – zwei Millionen US-Dollar – musste die Firma John E. Reid & Associates im März 2015 dem heute 46-jährigen Juan Rivera zahlen. Juan Rivera war 1993 als 19-Jähriger für einen Mord an einem elfjährigen Mädchen im Bundesstaat Illinois zu lebenslanger Haft verurteilt worden, nachdem er im Hauptquartier der Firma John E. Reid & Associates in Chicago befragt, Lügendetektortests unterzogen und so lange vernommen worden war, bis er ein Geständnis unterschrieb. Obwohl Riveras Verteidiger dessen Unschuld schon 2009 mit Hilfe von DNA-Beweisen nachweisen konnten, dauerte es insgesamt zwanzig Jahre bis zu seinem rechtskräftigen Freispruch und zur Haftentlassung.[11] Der Fall Juan Rivera ist auch deshalb von großer Bedeutung, weil mehrere der an den Vernehmungen beteiligten Polizeibeamten in der Reid-Methode geschult worden waren und Juan Rivera sein „Geständnis“ abgelegt hatte, nachdem ein Mitarbeiter der Firma John E. Reid & Associates dem 19-Jährigen nach viertägiger Dauervernehmung vorgegaukelt hatte, das Ergebnis von Lügendetektortests beweise seine Schuld.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts von Illinois, das Rivera im Dezember 2011 freisprach, ist auch deswegen so bedeutsam, weil das Gericht eindeutig den fatalen Einfluss von zwei zentralen Aspekten der Reid-Methode aufzeigt: zum einen, dass die VernehmerInnen der beschuldigten Person wahrheitswidrig das Vorhandensein von belastendem Beweismaterial vortäuschen, und zum anderen, dass sie ihr zwei Varianten der Tatbegehung quasi in den Mund legen.[12]
Mittlerweile sind die Zweifel an der Wirksamkeit der Reid-Methode bzw. die Angst vor falschen Geständnissen und den damit verbundenen Folgen – straffreie TäterInnen begehen weitere schwere Straftaten, unschuldig Verurteilte erhalten eventuell hohe Entschädigungssummen – in den USA derart gewachsen, dass eine der größten Beratungsfirmen für US-Polizeibehörden, Wicklander-Zulawski & Associates, im Juli 2017 öffentlich erklärte, man werde die Reid-Methode nach 33 Jahren aus dem Lehrplan für KommissarInnen streichen und die Methode nur noch erwähnen, um PolizistInnen über die Risiken und Realitäten falscher Geständnisse zu informieren. Das „Marshall Project“, dessen AnwältInnen in zahlreichen Fällen unschuldig Verurteilte vertreten, die zumeist aufgrund ihrer Herkunft bzw. ihres gesellschaftlichen Status und/oder ihrer Hautfarbe im erstinstanzlichen Verfahren keinen Zugang zu adäquater Verteidigung hatten, bezeichnete diese Entscheidung als „tektonisches Veränderung“ in der Strafverfolgungs-Community.[13]
Reaktionen in Deutschland – widersprüchlich
Die Auseinandersetzung mit den Spuren der Reid-Methode in Deutschland befindet sich allenfalls am Anfang. In den Ausbildungsunterlagen der Bundespolizei von 2008 wird die Reid-Methode noch als eine von mehreren Vernehmungsmethoden wie folgt erwähnt: „Ziel der Reid-Methode ist es, durch einen strukturierten Aufbau der Vernehmung den Täter auf Grund seines verbalen, non-verbalen und paralinguistischen Verhaltens von einer unschuldigen Person zu unterscheiden, teilweise durch Angaben von Unwahrheiten“.
Eine ausführliche Darstellung aus kriminologischer Sicht – vor dem Hintergrund der Strafprozessordnung, die die Verwendung von falschen Vorhalten untersagt – und eine kritische Auseinandersetzung mit den vermeintlichen Verhaltenskategorien, nach denen „Schuldige“ von „Unschuldigen“ unterschieden werden können, findet sich etwa in der 2010 von der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik ausgezeichneten Masterarbeit des langjährigen Polizeipräsidenten von Schwäbisch-Hall, Ottmar Kroll, und in einem Aufsatz, den Kroll 2016 zusammen mit dem Kriminologen Thomas Feltes im „Behördenmagazin“ veröffentlichte.[14] Darin kommen die Autoren zu dem Schluss: „Viele Kritikpunkte … an der Reid-Methode bezüglich ihrer wissenschaftlichen Evaluation der Lügensymptome und extremer Beeinflussung der Aussagepersonen erscheinen berechtigt. Es fehlen bislang auch experimentelle bzw. empirische Belege dafür, dass die Reid-Methode zu besseren Ergebnissen führt als eine polizeiliche Standardvernehmung.“ Sowohl „aus rechtlichen als auch vernehmungspsychologischen Aspekten“ handele es sich bei der Reid-Methode „um ein Vorgehen, das in Deutschland in ihrer Gesamtheit so nicht zulässig ist und eine Umsetzung in die polizeiliche Praxis unterbleiben sollte.“[15] Auch „die Bundesregierung sieht die Reid-Methode im Hinblick auf § 136a der Strafprozessordnung (StPO) kritisch“, erklärte das Bundesinnenministerium im Mai 2014. MitarbeiterInnen von Bundesbehörden seien nicht in der Methode geschult worden und Bundesbehörden würden diese Methode auch nicht anwenden.[16]
In Bayern jedoch wurden zwischen 1999 und 2002 mehr als einhundert BeamtInnen in der Reid-Methode geschult. Knapp einhundert von ihnen waren im Jahr 2014 noch im aktiven Dienst. KritikerInnen werfen der bayerischen Landesregierung vor, in mindestens zwei zentralen Fällen, in denen bayerische Ermittlungen nachweislich fatale Konsequenzen hatten, seien BeamtInnen in den jeweiligen Mordkommissionen eingesetzt worden, die an Reid-Schulungen teilgenommen hatten: im Fall der sogenannten Česká-Mordserie und in der SoKo Peggy II, die die Ermittlungen zu der im Mai 2001 verschwundenen neunjährigen Peggy K. im Jahr darauf durch ein „Geständnis“ des geistig behinderten Tatverdächtigen Ulvi K. zu einem scheinbar erfolgreichen Abschluss gebracht hatte.[17] (Die Leiche des Mädchens aus dem oberfränkischen Lichtenberg wurde erst 2016 gefunden.) Von Februar bis Oktober 2002 leitete Kriminaldirektor Wolfgang Geier die SoKo Peggy II. Kurz nach dem „Abschluss“ im Fall Peggy wurde er Chef der Kriminaldirektion Nürnberg und leitete von 2005 bis 2008 dann auch die „BAO Bosporus“, die die bundesweite Koordinierung der Mordkommissionen in den Tatortstädten der Česká-Mordserie innehatte. Drei weitere Beamte waren an den Ermittlungen in beiden Fällen beteiligt.[18] Ein Nachweis dafür, dass Wolfgang Geier selbst an Reid-Schulungen teilgenommen hätte, liegt nicht vor.
Türöffner für Schulungen in der sogenannten „Reid-Methode“ in Deutschland war der damalige Chef der Mordkommission beim Polizeipräsidium München, Udo Nagel, der im Januar 2002 von dem seinerzeitigen rechtspopulistischen Innensenator Ronald Schill zum Polizeipräsidenten von Hamburg berufen wurde. Auf Initiative des Polizeipräsidiums München fand „1999 eine Präsentation für Befragungs- und Vernehmungstechnik nach ‚Reid‘“ statt, teilte die Bayerische Staatsregierung im August 2014 mit. An dieser Präsentation hätten „neben Angehörigen des Polizeipräsidiums München auch Beamte/Beamtinnen der regionalen Präsidien, des Bayerischen Landeskriminalamtes und des Fortbildungsinstitutes der Bayerischen Polizei teilgenommen.“ Die Veranstaltung sei „als sehr gewinnbringend bewertet und die bayernweite Umsetzung empfohlen“ worden.[19] In den Jahren 2001 und 2002 fanden jeweils drei Seminare statt. 2001 wurden insgesamt 56, 2002 60 TeilnehmerInnen geschult. Darunter waren auch BeamtInnen, die an den Ermittlungen zur NSU-Mordserie beteiligt waren, wie das Bayrische Innenministerium einräumt: „Aus den hier verfügbaren Unterlagen geht hervor, dass einzelne Beamte, die zur BAO Bosporus oder einer ihrer Vorläuferorganisationen abgeordnet waren, im Jahr 2001 bzw. 2002 an den Seminaren zur REID-Vernehmungstechnik teilgenommen haben.“[20]
Eine deutschsprachige Trainerin der Chicagoer Mutterfirma John E. Reid Associates leitete die Kurse. Zu den Kursinhalten äußerte sich die Bayrische Staatsregierung nur vage: Diese seien „von der Reid© Inc. in folgende Abschnitte gegliedert worden: 1. Vorbereitung 2. Gesetzliche Aspekte bei Befragungen, Vernehmungen und Geständnissen 3. Verhaltensmerkmale 4. Reid Behavioral Analysis Interviews (BAI) Befragung zur Verhaltensanalyse 5. Die neun Stufen der REID-Vernehmung.“[21] Knapp 40.000 Euro zahlte der Freistaat dafür an John E. Reid & Associates.[22] Nicht etwa wegen fachlicher oder rechtlicher Bedenken, sondern weil die Firma nach 2002 keine deutschsprachigen Lehrenden mehr zur Verfügung stellen konnte, wurde die Zusammenarbeit dann beendet. Das Fortbildungsinstitut der Bayrischen Polizei hatte schon Reid-Seminare bis ins Jahr 2005 geplant.[23]
Eine strukturierte Evaluation der Konsequenzen, die diese Schulungen der bayrischen BeamtInnen in der Praxis hatten, hat bis heute nicht stattgefunden – das musste auch die Bayerische Staatsregierung einräumen.[24] Mehr noch, die deutschsprachige Diskussion über die Reid-Methode setzt sich nicht mit der Frage auseinander, welchen Anteil diese Methode – die in den USA insbesondere bei Beschuldigten, die aus gesellschaftlichen Minderheiten und/oder armen Verhältnissen stammen „Erfolge“ verzeichnet – an dem Scheitern der aufwendigen Ermittlungen im Fall Peggy K. und der NSU-Mordserie, insbesondere an den entwürdigenden, stigmatisierenden, von rassistischen Vorurteilen geleiteten und kriminalisierenden Vernehmungen der Angehörigen der in Bayern ermordeten NSU-Mordopfer hatte.
Im Fall Peggy K. hat der Einsatz der Reid-Vernehmungsmethode nach Ansicht von ProzessbeobachterInnen wie dem Journalisten Christoph Lemmer dazu beigetragen, dass der lange Zeit als Hauptverdächtiger behandelte geistig behinderte Ulvi K. am 2. Juli 2002 ein falsches Geständnis ablegte, das am 30. April 2004 zu seiner Verurteilung wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe führte. Zehn Jahre später erstritt Ulvi K.’s neuer Anwalt, der Frankfurter Strafverteidiger Michael Euler, vor dem Landgericht Bayreuth einen spektakulären Freispruch für Ulvi K. „Ein Tatnachweis“ sei „nicht möglich“, befand das Gericht. „Bis zum heutigen Tag“ sei „kein einziger Sachbeweis für das damalige Geständnis von Ulvi K. gefunden worden.“[25] Im Wiederaufnahmeverfahren waren auch die auffälligen Parallelen zwischen der Tathergangshypothese der ErmittlerInnen der SoKo Peggy II und dem späteren angeblichen Geständnis von Ulvi K. ausführlich diskutiert worden.
Zwar erklärte die Bayerische Staatsregierung im März 2014, dass die BeamtInnen, die Ulvi K. verhört hatten, nicht in der Reid- und/oder in einer daran angelehnten/abgewandelten Methode geschult worden seien. Eine solche Methode sei auch nicht an Ulvi K. angewendet worden.[26] Allerdings lässt die Antwort erheblichen Interpretationsspielraum. Christoph Lemmer, Mitautor eines der Standardwerke zum „Fall Peggy“[27], kritisierte dagegen im November 2011 in einem Interview: „Ausgerechnet der geistig Behinderte Ulvi K., der vor neun Jahren für den Mord an Peggy verurteilt worden ist, war einer der Ersten, bei denen die bayerische Polizei die fragwürdige Reid-Methode angewandt hat … Interessant ist insgesamt vor allem, wie beharrlich der Soko-Leiter selbst deutliche und überzeugende Gegenbeweise ignorierte. Was in seine Theorie passte, fügte er in das Gerüst seiner Ermittlungen ein. Passte etwas nicht, wurde es aussortiert.“[28]
Fragt man Michael Euler, Ulvi K.’s Verteidiger, nach der Reid-Methode und deren Anwendung im Fall seines Mandanten, fällt die Bewertung zurückhaltender aus. „Die Reid-Methode, so wie sie lizensiert ist, findet mit Sicherheit in Deutschland keine Anwendung“, sagt der Strafverteidiger. „Aber Elemente daraus finden sich in Vernehmungen von Beschuldigten durchaus wieder“. Euler betont, dass auch die Auswertung von Vernehmungsprotokollen keineswegs immer präzise Antworten auf diese Frage geben würde. Schließlich seien die allermeisten Vernehmungsprotokolle keine Wortprotokolle, die Wortwahl insbesondere bei „einfach gestrickten Beschuldigten“ sei oft die Wortwahl der vernehmenden BeamtInnen und offensichtliche Täuschungen – gerade wenn sie als Fragen formuliert würden – würden ohnehin nicht zu Protokoll genommen. Euler betont auch, dass gerade die psychologischen Tricks und die Druck- und Einschüchterungselemente etwa der Reid-Methode vor allem „bei Verdächtigen, die sich nicht wehren können“, zu Geständnissen führen können. „Letztendlich ist die Methode durch das Internet inzwischen für jeden Interessierten frei zugänglich.“
Zu den nach § 136a StPO verbotenen Vernehmungsmethoden zählt explizit die Täuschung. Im NSU-Kontext haben die bayerischen Ermittler offenbar auch die Grauzone rings um den § 136a StPO ausgelotet. Hinterbliebene – darunter Adile Þimþek, die Witwe des ersten NSU-Mordopfers und erfolgreichen Blumengroßhändlers Enver Þimþek, sowie Yvonne Boulgarides, die Witwe des im Juni 2005 in München ermordeten Schlüsseldienstinhabers und siebten NSU-Mordopfers Theodoros Boulgarides – haben beschrieben, wie ihnen von den bayerischen Ermittlern Fotos einer ihnen unbekannten blonden Frau vorgelegt wurden – mit der Behauptung, ihre ermordeten Ehemänner hätten jeweils ein außereheliches Verhältnis mit dieser Frau gehabt. Semiya Þimþek beschreibt die nahezu buchstabengetreue Anwendung der Reid-Methode gegen ihre Mutter in erschütternden Details:
„Irgendwann erzählten sie uns, dass mein Vater noch eine zweite Familie gehabt hätte. Angeblich eine deutsche Frau – blond soll sie gewesen sein –, mit der er ebenfalls zwei Kinder hätte. Sie zeigten meiner Mutter sogar Fotos: Schauen Sie, Ihr Mann war mit dieser Frau zusammen. Auch diese bizarre Szene wiederholte sich, die Polizisten erzählten immer wieder, dass Vater andere Frauen hatte. Meine Mutter fiel darauf nicht herein, sie hat das nie geglaubt und antwortete: Wenn das stimmt, können seine anderen Kinder bei uns wohnen, und die Frau kann auch zu uns ziehen. Das sind dann auch meine Kinder, unser Haus ist ihr Haus. Die Polizei hat wohl einfach ausgetestet, wie wir reagieren. Einer von ihnen räumte lange nach einer dieser Vernehmungen ein, dass es nur ein Versuch war, reine Taktik. Er redete meiner Mutter zu, sie solle ihren Mann genauso in Erinnerung behalten, wie sie ihn kannte. Ihnen sei es nur darum gegangen, die Möglichkeiten abzuklopfen, sie zu verunsichern, herauszufinden, ob sie, mit solchen Behauptungen konfrontiert, etwas aussagt, das den Verdacht erhärtet.“[29]
Yvonne Boulgarides reagierte – fünf Jahre und sechs Morde im gesamten Bundesgebiet später – auf die „Hypothese“ der Ermittler, eifersüchtige Ehefrauen hätten in Serie ihre treulosen Ehemänner mit der immer gleichen Tatwaffe ermordet, mit Fassungslosigkeit und Zorn. Auf die Unterstellung, sie selbst oder ein von ihr engagierter Killer hätten ihren geschiedenen Ehemann umgebracht, entgegnete sie: „Und damit es nicht auffällt, habe ich vorher sechs Türken ermordet?“[30] Die Ermittler vernahmen gezielt auch mehrere minderjährige Kinder der Ermordeten, wie die damals 14-jährige Semiya Þimþek sowie die 15-jährige Tochter von Yvonne Boulgarides, unmittelbar nach dem Tod ihrer Väter und ohne Beistand einer erwachsenen Bezugsperson.[31] Erst die Selbstenttarnung des NSU im November 2011 und dessen an Medien versandtes Bekennervideo haben zu einem Ende der über viele Jahre andauernden, quälenden Vernehmungen der Angehörigen der Mordopfer und Verletzten der Sprengstoffanschläge des NSU geführt.
Die Berliner Strafverteidigerin und Nebenklagevertreterin im NSU-Prozess, Antonia von der Behrens, kritisiert die Widersprüchlichkeit, mit der „die Reid-Methode in Deutschland diskutiert wird“. Bezeichnenderweise veröffentlichte das „Behördenmagazin“ in derselben Ausgabe, in der Ottmar Kroll und Thomas Feltes die Reid-Methode als völlig ungeeignet kritisieren, einen dreiseitigen „lupenreinen Werbeartikel“. Unter der Überschrift „Mit diesen Psychotricks arbeitet die Polizei“ wird sie dort als „erfolgreichste Vorhörtechnik weltweit“ gefeiert.
Das Bayerische Innenministerium hat sich zwar mittlerweile vorsichtig von deren Einsatz distanziert: „In der Literatur und verschiedenen Veröffentlichungen in Bezug auf Vernehmungstechniken seitens der Sozialwissenschaften und der Psychologie wurde die REID-Vernehmungstechnik zunehmend kritisch gesehen. Aus Sicht des Fortbildungsinstituts der Bayerischen Polizei war es erforderlich, die Beamten der Bayerischen Polizei hinsichtlich Vernehmungen weiter zu qualifizieren, allerdings ohne die Firma Reid© Inc., da diese ab dem Jahr 2003 nicht mehr in der Lage war, einen deutschsprachigen Trainer zu stellen.“ Allerdings: Eine „Notwendigkeit einer gezielten Nachschulung der Teilnehmer der REID-Seminare“ sieht die Staatsregierung nicht. Schließlich seien „die Lehrinhalte auf deutsches Recht abgestimmt“ gewesen und hätten „den damaligen Erkenntnissen der Sozialwissenschaften und der Psychologie“ entsprochen.[32] Ein Verbot der Anwendung der REID-Vernehmungstechnik jedoch habe es „aufgrund der Vereinbarkeit der Seminarinhalte mit dem deutschen Recht nicht“ gegeben.[33]
Die Routinen des institutionellen Rassismus
Die Verweigerungshaltung, sich (selbst)kritisch mit der Ermittlungsführung auseinander zu setzen, betrifft im NSU-Komplex insbesondere den institutionellen Rassismus, der den Einsatz der Reid-Methode bzw. deren Elemente befördert. Nach der Definition der Macpherson-Kommission, die Ende der 1990er Jahre die Mordermittlungen im Fall Stephen Lawrence untersuchte[34], liegt institutioneller Rassismus immer dann vor, wenn Institutionen wie die Polizei rassistische Zuordnungen übernehmen und daraus für die so markierten Menschen systematische Benachteiligungen folgen. Das bedeutet nicht, dass notwendigerweise alle Personen, die in diesen Institutionen arbeiten, selbst rassistische Absichten verfolgen. Der Rassismus ist stattdessen oft in Routinen und Regelungen eingewoben.[35]
Letztendlich gestärkt werden die ErmittlerInnen und ihre Vorgesetzten in ihrer Verweigerungshaltung auch durch die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse: In keinem einzigen der zwölf Untersuchungsaufträge war institutioneller Rassismus ein eigenständiger Punkt. Die Feststellung, dass institutioneller Rassismus zu den Kernpunkten staatlicher Mitverantwortung im NSU-Komplex gehört, bleibt bislang vor allem den Betroffenen des NSU-Terrors und ihren NebenklagevertreterInnen sowie den Minderheiten- bzw. Sondervoten der jeweiligen Oppositionsfraktionen vorbehalten.[36] Die Forderung der Betroffenen – die zahlreiche Bürger- und Menschenrechtsorganisationen wie das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIM)[37] und Amnesty International unterstützen – nach einer umfassenden Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus in deutschen Ermittlungsbehörden – stößt bis heute auf eine Mauer der Abwehr.[38]