Polizeigewalt und Geschlecht: Sedimente eines vergeschlechtlichten Staates

von Hannah Espín Grau

Die wenigsten Fälle übermäßiger polizeilicher Gewalt landen vor Gerichten. Ein Fall aus Köln, in dem die Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen gerichtlich festgestellt wurde, zeigt wie unter einem Brennglas, welche Rolle Männlichkeitskonstruktionen bei Anwendung und Aufarbeitung übermäßiger Polizeigewalt spielen.

Äußerst selten stimmen nach einer polizeilichen Gewaltanwendung die betroffene Person, polizeiliche Zeug*innen und ein Gericht überein, dass die Gewaltanwendung rechtswidrig war. Im Urteil des Landgerichts Köln vom 5. April 2019 (153 Ns 100/18)[1] lässt sich ein derartiger Fall nachvollziehen, der zahlreiche Anhaltspunkte für eine männlichkeitskritische Analyse bietet. Leser*innen, die keine detaillierten Schilderungen homofeindlicher Gewalt lesen möchten, mögen den nächsten Absatz überspringen.

Sven W., homosexuell und genderfluid, hatte im Juli 2016 am Christopher Street Day (CSD) in Köln teilgenommen. Sven W. war betrunken an einer verbalen Auseinandersetzung und Rempelei auf einer McDonald’s-Toilette beteiligt, zu der zwei Polizeibeamt*innen hinzugerufen wurden, nachdem Sven W. sich geweigert hatte das Fastfood-Restaurant zu verlassen. Als Sven W. nicht auf die Aufforderung des Polizeibeamten X mitzukommen, reagierte und seine Arme bewegte, um den Handkontakt des X zu beenden, bekam Sven W. von X einen Schlag versetzt, der Sven W. ohnmächtig werden ließ. Durch den nun einsatzleitenden Polizeibeamten Y wurde Sven W. nach einigen Minuten mit Schmerzreizen aus der Ohnmacht geholt, daraufhin gefesselt und von „vier (männlichen) Polizeibeamten … mit dem Kopf voraus und dem Gesicht nach unten … aus der McDonald’s-Filiale und bis zum Polizeifahrzeug getragen“, wobei Sven W. sich nicht wehrte. Am Fahrzeug ließen die Polizeibeamten Sven W. aus einer Höhe von etwa 50 cm fallen, die mit Handschellen gefesselten Hände von Sven W. wurden an seinem Gürtel fixiert. Zu diesem Zeitpunkt war Sven W. von mindestens neun Polizeibeamt*innen umringt. Gerichtlich wurde festgestellt, dass der einsatzleitende Polizeibeamte Y in dieser Konstellation Sven W. mindestens einmal mit dem beschuhten Fuß in den Rückenbereich trat und einmal mit der behandschuhten Faust in den Rücken schlug. Im Polizeiauto auf dem Weg zur Gewahrsamszelle wurde Sven W. von Y mit dem Kopf an der C-Säule des Wagens fixiert und es fand eine verbale Auseinandersetzung statt, in der der Polizeibeamte Y wörtlich zu Sven W. sagte: „Das brauchst du doch, du dumme Schwuchtel“, woraufhin Sven W. die anwesenden Polizeibeamt*innen als „Nazi“, „Arschficker“, „Lesben“ und „Wixer“ bezeichnete. Da Sven W. angab HIV-positiv zu sein und versuchte zu spucken, wurde Sven W. eine Spuckmaske übergezogen. Anschließend wurde Sven W. nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet in eine Gewahrsamszelle verbracht und dort gefesselt. Weil Sven W. einen Atemalkoholtest verweigerte, wurde im Polizeigewahrsam eine nicht durch Bereitschaftsstaatsanwaltschaft oder Bereitschaftsrichterschaft autorisierte Blutprobe vorgenommen. Als Sven W. ein HIV-Medikament von einem nicht identifizierten Polizeibeamten in die Zelle gebracht bekam, trat dieser Sven W. gegen das Bein und sagte: „Du Wixer, das wirst du morgen noch spüren“. Polizeilicherseits wurde im Nachgang dokumentiert, Sven W. habe Kratzer am rechten Unterarm und im Gesicht. Kurz nach Mitternacht wurde Sven W. mit nasser Kleidung entlassen. Vor der Polizeistation wurde Sven W. von einer Polizeistreife ein Platzverweis erteilt. Nach einer ärztlichen Untersuchung im Krankenhaus wurden Hämatome, Prellmarken, Striemen und Schürfungen sowie Prellungen von Schädel, linker Hand und Handgelenk dokumentiert. Um mögliche Zeug*innen des Geschehens zu finden, schilderte Sven W. am nächsten Tag auf Facebook seine Erfahrung und bat um Unterstützung.

In der Folge wurde gegen Sven W. vom Polizeipräsidenten der Stadt Köln in seiner Rolle als Dienstvorgesetzter der Polizeibeamt*innen Straf­antrag wegen Beleidigung gestellt. Im Ermittlungsverfahren wurden we­der der einsatzleitende Polizeibeamte Y, noch vier weitere am Einsatz beteiligte Polizeibeamt*innen vernommen. Nach Abschluss der Ermittlungen wurde gegen Sven W. Anklage erhoben wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamt*innen, Körperverletzung, Beleidigung und falscher Verdächtigung.

In der Gerichtsverhandlung gab es eine polizeiliche Zeugin, die zugunsten von Sven W. aussagte. Sie war zum Zeitpunkt des Vorfalls Kommissaranwärterin und fiel nach ihrer Aussage beim Polizeibeamten Y durch ihr Berufspraktikum. Gegen die schlechte Beurteilung durch den Beamten Y ging sie anschließend erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht vor.[2]

Der geschilderte Fall mag außergewöhnlich klingen. Es ist jedoch zum einen nicht der einzige Fall, in dem nach einem CSD über die Rechtmäßigkeit polizeilicher Maßnahmen gegenüber CSD-Teilnehmer*­innen vor Gericht gestritten wurde.[3] Zum anderen bietet er vier – im Folgenden nach einer theoretischen Einordnung vorgestellte – Ansatzpunkte für eine gendertheoretisch informierte Analyse polizeilicher Gewaltanwendung und ihrer Aufarbeitung.

Die Polizei als männliche Institution

Um die gesellschaftliche Einbettung der Polizei sowie die gesellschaftlichen Auswirkungen ihres Handelns greifbar zu machen, ist es zunächst notwendig, sie als historisch gewachsene Institution zu betrachten. In diesem Zusammenhang wird vielfach auf die männlich geprägte Geschichte der Polizei verwiesen, die sich in der Gegenwart in einem weiterhin erhöhten Männeranteil im operativen Bereich, vor allem aber in geschlossenen Einheiten und in den Führungsebenen fortschreibt.[4] Daraus resultierend thematisiert eine geschlechtsspezifische Polizeiforschung auch eine männliche Kultur der Polizei:[5] Rafael Behr unterscheidet  eine am Ideal der Bürokratieförmigkeit orientierte offizielle Polizeikultur und eine am Ideal hegemonialer Männlichkeit orientierte subkulturelle Polizist*innenkultur – die „Cop Culture“.[6] In der Subkultur würde eine Form der Männlichkeit gefordert und gefördert, die sich in Idealen von Robustheit, Sportlichkeit, Aggressivität und Entschiedenheit niederschlage. Männlichkeit begreift Behr dabei als „(kulturell) verbindliche Anweisung, wie Mann zu sein hat“; nicht gemeint ist eine biologische Eigenschaft.[7] Die aggressive Form der Männlichkeit in der Polizist*innenkultur manifestiert sich gerade auch in der Anbahnung und Durchführung gewaltvoller Auseinandersetzungen mit Bürger*innen. Für die Institution Polizei ist sie insofern nützlich, sie wird jedoch erst durch die an Universalnormen orientierte, bürokratieförmige Polizeikultur „institutionell handhabbar“.[8]

Feministische Staatstheoretiker*innen argumentieren an dieser Stelle, dass auch die offizielle Polizeikultur nicht geschlechtlos sein kann: Der Staat ist aus dieser Perspektive Teil oder „Verdichtung“ eines gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs mit ungleichen Geschlechterverhältnissen und damit ebenfalls vergeschlechtlicht.[9] Diese Betrachtungsweise ermöglicht es, die Einschreibung von Männlichkeitskonstruktionen in die Polizeiarbeit nicht nur als Ergebnis historischer Institutionsentwicklungen oder als kulturell verankerte Eigenschaft der Institution zu begreifen. Wie damit Situationen übermäßiger Polizeigewalt und deren staatliche (Nicht-)Aufarbeitung geschlechtersensibel analysierbar werden, möchte ich im Folgenden zeigen.

Vergeschlechtlichte Polizeigewalt

Die Polizei ist unter anderem dazu befugt, in Einzelfällen unmittelbaren Zwang, also Gewalt als ultima ratio zu verwenden, um legitime Zwecke in Form polizeilicher Maßnahmen durchzusetzen. In dem Moment, in dem die polizeiliche Zwangshandlung keinen legitimen Zweck mehr verfolgt, oder aber eine nicht verhältnismäßige Intensität erreicht, kann und muss sie als übermäßige und damit rechtswidrige Polizeigewalt bezeichnet werden. Nimmt man an, dass der Staat nicht geschlechtsneutral ist, dass seine Institutionen und Apparate männlich geprägt sind und deshalb auch seine Vertreter*innen an bestimmten Männlichkeitsnormen orientiert handeln, so erfordert die übermäßige polizeiliche Ge­waltanwendung eine feministische Analyse der in sie eingeschriebenen Geschlechterkonstruktionen.

Welche Rolle Konstruktionen von (hegemonialer) Männlichkeit in Situationen spielen, in denen die Polizei bei einer Zwangsanwendung die Grenze zur Unverhältnismäßigkeit einer Maßnahme überschreitet, wurde in Deutschland empirisch vor allem von den Polizeiforscher*innen Rafael Behr und Daniela Hunold sowie Jana Reuter thematisiert, die in ethnographischen Untersuchungen Polizeieinsätze begleiteten.[10] In jüngerer Zeit hat auch Kai Seidensticker die Rolle von Männlichkeiten in der polizeilichen Fehlerkultur beleuchtet. Bei der Betrachtung konfliktiver Auseinandersetzungen im polizeilichen Einsatzalltag betont er unter Rückgriff auf Bourdieus Konzept der „ernsten Spiele“ die Aushandlung von Männlichkeiten in Auseinandersetzungen mit dem polizeilichen (männlichen) Gegenüber.[11] Andere beschreiben eine Mentalität des Wir gegen Die in Bezug auf die polizeiliche Klientel, die sich situativ in einer dominanten bis aggressiven, keine Widersprüche duldenden Einsatzhaltung Bahn bricht, über die wiederum Männlichkeit hergestellt werde (doing masculinity).[12] Die Erforschung der polizeilichen Ausbildung konnte zudem sogenannte hidden curriculums nachweisen, die implizit bestimmte Männlichkeitsideale vermitteln. In der polizeilichen Alltagspraxis werden diese dann perpetuiert, etwa durch den Ausschluss von Frauen.[13]

Kaum erforscht ist bislang, in welchen konkreten Einsatzhandlungen sich die in der polizeilichen Kultur gepflegten Männlichkeitsideale besonders zeigen, welche Erwartungen an das polizeiliche Gegenüber gerichtet werden, wie die Polizei mit unerwarteten Situationen umgeht, welches Vokabular und welche Körpersprache sie wem gegenüber wie verwendet und wie dies in der Situation der Gewaltanwendung den Eskalationsverlauf beeinflusst. Während im nicht-deutschsprachigen Raum auch vergeschlechtlichte Gewaltphänomene wie police sexual misconduct empirisch bereits umfassend thematisiert werden,[14] steht die deutschsprachige Forschung in diesem Bereich noch ganz am Anfang. Besonders mager ist der deutschsprachige Forschungsstand auch in Bezug auf die Aufarbeitung von übermäßiger Polizeigewalt und die Frage, inwiefern männlich geprägte Strukturen in den Strafverfolgungsbehörden eine vollumfängliche staatliche Aufarbeitung übermäßiger Polizeigewalt erschweren.

Die folgende Analyse fokussiert daher nicht allein auf das polizeiliche Handeln, sondern betrachtet seine Produktion im Zusammenspiel verschiedener kontextueller Faktoren – von der gesellschaftlichen Konstruktion und Wirkweise hegemonialer Männlichkeiten bis zur Einbettung der Polizei als Institution in einem vergeschlechtlichten Staat.

Homofeindlichkeit als Kontext

Im oben beschriebenen Fall von Sven W. ist zunächst der Kontext der Geschehnisse (CSD) sowie die sexuelle und geschlechtliche Identität des Betroffenen relevant. Dies zeigt sich vor allem in den homofeindlichen Beleidigungen im Polizeiauto sowie der sexualisierten Beleidigung im Polizeigewahrsam. In der Literatur zu hegemonialen Männlichkeitsidealen in der Polizeikultur wird in dem Zusammenhang unter Rückgriff auf Connell darauf verwiesen, dass sich die Hegemonialität einer weißen, heterosexuellen Männlichkeitsform unter anderem aus der Abgrenzung von subordinierten, z.B. homosexuellen Männlichkeiten ergibt.[15] Sven W. beschrieb sich zwar selbst als genderfluid, wurde jedoch von den Polizeibeamt*innen als Mann gelesen und behandelt. In diesem Zusammenhang verweist Behr auf polizeiliche Degradationsrituale, durch die „aus einem Konkurrenz-Mann ein unterlegener, ein Nicht-Mann wird“.[16] Im Fall von Sven W. wurden verschiedenste Degradationsrituale angewendet. Dazu zählen die offensichtlichen homofeindlichen Beleidigungen sowie das Einsperren in der Gewahrsamszelle in Unterwäsche und die Rückgabe nasser Kleidung, die nicht der Herbeiführung eines polizeilichen Zwecks dienten, sondern schlicht markieren sollten, dass Sven W. einen niedrigeren sozialen Status hatte als die diensthabenden Polizeibeamt*innen.

Konsequente Robustheit – robuste Konsequenz

Sven W. reagierte nicht auf die polizeiliche Aufforderung, nach einer Rangelei im McDonald‘s den Ort zu verlassen und zeigte sich unwillig mit der Polizei zu kooperieren, ohne jedoch selbst physisch gewalttätig zu werden. Ab dem Moment, in dem Sven W. einen Schlag versetzt bekam, verselbständigte sich das polizeiliche Vorgehen. Die Vehemenz, mit der die polizeiliche Maßnahme bis zum Ende und darüber hinaus durchgeführt wurde, kann als „Ostentation der Unalterierbarkeit“[17] gefasst werden – damit ist eine polizeiliche Einstellung gemeint, die es unmöglich erscheinen lässt, von einmal verkündeten Ziel abzuweichen, um z.B. eine Situation zu deeskalieren. Die Eskalation der polizeilichen Gewalt stellt sich damit als Versuch des Erhalts polizeilicher Autorität dar.[18]

Dem zugrunde liegt ein Bild der Polizei als Garantin einer bestimmten sozialen Ordnung. Mit dieser Funktion geht Macht sowie die Verantwortung einher, Situationen und deren Deutung zu definieren. Aus einer jüngeren feministischen Theorieperspektive wird nicht mehr angenommen, dass staatliche Macht allein einer männlichen Logik unterworfen sei. Es wird davon ausgegangen, dass „hegemoniale Wahrnehmungs- und Wissensformen über Gesellschaft und Geschlecht [in staatlichen Institutionen] erarbeitet bzw. ausgehandelt und schließlich in gesetzliche Normen und staatliche Institutionen gegossen werden“.[19] Zu einem derartigen Wissen über die Gesellschaft zählt etwa das Bild eines starken (Vater) Staates, der robust agieren muss, um glaubwürdig seinen Herrschaftsanspruch durchsetzen. Dies zeigt sich beispielsweise auch in einem internen Arbeitspapier, in dem das Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW (LAFP) schrieb, die Polizei NRW müsse „ … an Konsequenz, Stabilität, Führungsstärke und Robustheit deutlich zulegen“[20]. Die Notwendigkeit dazu wurde mit dem „Verlust der Autorität des Aushängeschildes des Rechtsstaates“ begründet, dem durch „konsequentes Einschreiten und Durchsetzen der polizeilichen Maßnahmen … auch bei scheinbaren Bagatell- und Alltagssachverhalten“ beizukommen sei.[21] Vor diesem Hintergrund ist der unbedingte Durchsetzungsdrang also weniger als individuelles Problem einzelner (männlicher) Polizeibeamter, denn als kulturelles Leitbild zu sehen.

Der unbedingte Durchsetzungswille bezieht sich dabei im CSD-Fall nicht nur auf die Situationen der Gewaltanwendung im McDonald’s sowie im Polizeigewahrsam, sondern betrifft auch die staatliche Aufarbeitung des Vorfalls: Der Polizeipräsident stellte sich schützend vor die handelnden Polizeibeamt*innen, indem er Anzeige gegen Sven W. erstattete. Die ermittelnde Staatsanwaltschaft ging zunächst in Berufung und schließlich noch in Revision gegen die gerichtlichen Urteile, die die Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen festgestellt hatten.

Not one of the guys anymore

Das Nicht-Eingreifen der übrigen anwesenden Polizeibeamt*innen sowie die Tatsache, dass im Nachhinein nur eine von ihnen im Hauptverfahren zugunsten des Angeklagten Sven W. und zu Lasten ihres Vorgesetzten aussagte, machen Überlegungen zum Zusammenhalt der Einsatzeinheit im Moment der Gewaltanwendung sowie darüber hinaus notwendig.

In der Literatur wird dieses Thema zum einen als Korpsgeist oder „Binnenkohäsion“[22] verhandelt. In dem Zusammenhang thematisiert Martin Herrnkind wie Whistleblower*innen durch Mobbing und strukturelle Ausgrenzung aus der polizeilichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden.[23] Die Polizei als gesamte Institution aber vor allem das jeweilige Einsatzteam wird von den Beamt*innen häufig als Gefahrengemeinschaft imaginiert. Innerhalb der Gemeinschaft sieht man sich einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und ist daher untereinander auf unbedingte Solidarität und Loyalität angewiesen – ohne dass dabei zwingend eine reale Gefahr besteht.[24] Der vergeschlechtlichte Bezug ergibt sich einerseits aus einer Imagination des Polizierens als männlicher Tätigkeit,[25] andererseits aus einer Negativ-Abgrenzung nach außen: Die polizeiliche Klientel wird in dieser Logik – unter anderem unter Bezugnahme auf rassistische Vorannahmen über die Gewaltbereitschaft und Gefährlichkeit migrantisierter Männlichkeiten – diskursiv als Bedrohung inszeniert.[26]

Wer sich in der Situation der gewaltsamen Auseinandersetzungen mit dem polizeilichen Gegenüber oder im Nachgang von der Gefahrengemeinschaft „entsolidarisiert“, indem er*sie die getroffenen Entscheidungen unterbricht oder als fehlerhaft hinterfragt, muss gleichermaßen mit einer Entsolidarisierung der Kolleg*innen rechnen. Seidensticker betont dabei, dass der polizeiliche Umgang mit Fehlern durch die Analyse hegemonialer Männlichkeitsbilder besser verstehbar wird: „Die Polizeimännlichkeiten wollen und müssen sich mit anderen messen und sind dabei grundsätzlich als Siegeridentität geprägt, gehen in ihrem Selbstverständnis also stets als Gewinner vom Feld. Das Eingestehen von Fehlern hat in dieser Identität keinen Platz.“[27]

Im Fall der als Zeugin gegen ihren Vorgesetzten aussagenden Kommissarsanwärterin äußerte sich dies in der schlechten Bewertung, die sie im Nachgang für ihr Berufspraktikum erhielt.

Fazit

Sven W. wurde vor dem Landgericht Köln freigesprochen. Jede der beschriebenen polizeilichen Maßnahmen von der Anwendung unmittelbaren Zwangs bis zur Blutprobenentnahme wurde vom Gericht als rechtswidrig eingestuft. Im Urteil wird zudem die unzureichende Ermittlung entlastender Umstände für Sven W. durch die Staatsanwaltschaft bemängelt. Die Staatsanwaltschaft ging daraufhin in Revision. Vor dem Oberlandesgericht (OLG) Köln wurde die Revision bezüglich des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamt*innen und der falschen Verdächtigung zurückgewiesen.[28] Den Tatbestand der Beleidigung sah das OLG als erfüllt an, entschied jedoch auf Straffreiheit und führte zudem an, dass Sven W. ein normgemäßes Verhalten in der Situation im Polizeiwagen nicht (mehr) zumutbar war (1 RVs 188/19).

Der Fall ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Er zeigt die brutalen Auswirkungen einer maskulinistischen Polizeikultur auf und ermöglicht durch die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeiten der polizeilichen Maßnahmen einen Diskurs über die Hintergründe der Geschehnisse. Ein solcher ist in den meisten Fällen durch die fehlende staatliche Aufklärung stark erschwert – eine Debatte um übermäßige Polizeigewalt wird häufig unter Hinweis auf die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft bereits im Keim erstickt. Die Feststellung der umfassenden Rechtswidrigkeit der Maßnahmen lässt sich vor allem auf die in dieser Hinsicht besondere, ihre Kolleg*innen belastende Aussage der Kommissaranwärterin vor Gericht zurückführen.[29] Das lässt den Schluss zu, dass in der Praxis eine Stärkung der (Rechts-)Position polizeilicher Whistleblower*innen zur Aufklärung rechtswidriger polizeilicher Gewaltanwendungen beitragen würde.

Für die wissenschaftliche Betrachtung ist es in dem Zusammenhang gewinnbringend, an die Überlegungen feministischer Staatstheoretiker*innen wie Eva Kreisky und Marion Löffler zum Staat als historisch bedingtem Männerbund anzuknüpfen. Der Staat ist demnach als Feld zu begreifen, das nicht nur durch einzelne männliche Seilschaften geprägt ist, sondern in seiner gesamten Verfasstheit bestimmte Männlichkeiten fördert und fordert.[30] Diese Perspektive bietet eine Möglichkeit, auch die besondere staatsanwaltschaftliche Erledigungspraxis in Fällen übermäßiger polizeilicher Gewaltanwendung in eine männlichkeitenkritische Analyse einzubinden.[31] Für den geschilderten Fall bedeutet das etwa, die Behandlung der Kommissaranwärterin, ebenso wie die Ermittlungspraxis der Staatsanwaltschaft gegenüber Sven W. und ihr Vorgehen nach den amts- und landgerichtlichen Urteilen weder nur als Resultat der institutionellen Nähe von Staatsanwaltschaft und Polizei, noch als „neutrale“ Entscheidungen zu begreifen. Der hier geschilderte Fall zeigt auf, dass künftige Forschungen zu polizeilicher Gewalt von einer staatstheoretischen feministisch informierten Analyse profitieren können.

Polizeiliche Gewaltanwendungen finden nicht im Vakuum statt. Sie sind geformt von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen wir leben und bewegen sich zudem oft in einem rechtlichen Graubereich. Es lohnt sich daher, die Erledigungspraxis der Strafverfolgungsbehörden nicht als End- sondern als Anfangspunkt einer (geschlechterspezifischen) Analyse polizeilicher Gewalt zu betrachten.

***

Nach der Fertigstellung dieses Beitrages hat sich der Fall weiterentwickelt: Die Oberstaatsanwältin, die gegen Sven W. ermittelt und gegen die Freisprüche zunächst Berufung und dann Revision eingelegt hatte, hat mittlerweile die Ermittlungsverfahren gegen die beteiligten Polizeibeamt*innen nach § 153a StPO aufgrund mangelnden öffentlichen Interesses eingestellt. Gegen diese Einstellung steht kein Rechtsmittel mehr zur Verfügung. Sven W. klagt nun gegen das Land NRW auf dem zivilrechtlichen Weg auf Schadensersatz; der Vorgang beschäftigt mittlerweile auch den Landtag.[32]

[1]   https://openjur.de/u/2174593.html
[2]   Polizisten in Verdacht – Vorwurf der Gewalt gegen CSD-Teilnehmer, KSTA online v. 5.4.2019
[3]   Gay Pride, Police Shame, TAZ online v. 21.3.2018
[4]     Blum, B.: Polizistinnen im geteilten Deutschland. Geschlechterdifferenz im staatlichen Gewaltmonopol vom Kriegsende bis in die siebziger Jahre, Essen 2012; Wilz, S. M.: Die Polizei als Organisation, in: Apelt, M.; Tacke, V. (Hg.): Handbuch Organisationstypen, Wiesbaden 2012, S. 113-131 (115ff.)
[5]   Rabe-Hemp, C. E.: POLICEwomen or PoliceWOMEN? Doing Gender and Police Work, in: Feminist Criminology 2009, H. 2, S. 114-129 (115)
[6]   Behr, R.: Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols, Wiesbaden 2008, S. 25
[7]   ebd., S. 68
[8]    ebd., S. 34
[9]   Sauer, B.: Feminismus und Staat, in: Voigt, R. (Hg.): Handbuch Staat, Wiesbaden 2018, S. 177-187 (181)
[10]   Hunold, D. (2019). „Wer hat jetzt die größeren Eier?!“ – Polizeialltag, hegemoniale Männlichkeit und reflexive Ethnografie, in: Howe, C; Ostermeier, L. (Hg.): Polizei und Gesellschaft, Wiesbaden 2019, S. 47-69; Reuter, J.: Polizei und Gewalt. Eine handlungstheoretische Rekonstruktion polizeilicher Konfliktarbeit. Frankfurt am Main 2014; Behr a.a.O. (Fn. 6)
[11]   Seidensticker, K.: Wandel und Beständigkeit von Männlichkeitskonstruktionen in der Polizei. Ein Werkstattbericht, Hamburg 2021, S. 3
[12] Reuter a.a.O. (Fn. 10), S. 69; Hunold a.a.O. (Fn. 10), S. 48
[13] Prokos, A.; Padavic, I.: ‘There Oughtta Be a Law Against Bitches’: Masculinity Lessons in Police Academy Training, in: Gender, Work & Organization 2002, H. 4, S. 439-459 (439)
[14] zuletzt Romo Pérez, A.: Trading sex for shampoo: exploring machismo in police officers and female offenders’ experiences and perceptions of police sexual misconduct, in: Policing and Society 2021, H. 2, S. 229-243
[15] Connell, R.: Der gemachte Mann: Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 2015, S. 215f.
[16] Behr a.a.O. (Fn. 6), S. 170
[17] Hüttermann, J.: Figurationsprozesse der Einwanderungsgesellschaft, Bielefeld 2018,
S. 55
[18] Feltes, T. u.a.: „…, dann habe ich ihm auch schon eine geschmiert.“ Autoritätserhalt und Eskalationsangst als Ursachen polizeilicher Gewaltausübung, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2007, H. 4, S. 285–303
[19] Sauer a.a.O. (Fn. 9), S. 183
[20] Dein robuster Freund und Helfer, Spiegel Online v. 18.2.2018
[21] Wachsende Gewalt, Kölnische Rundschau v. 27.2.2018
[22] Behr, R: Warum Polizisten oft schweigen, wenn sie reden sollten – Ein Essay zur Frage des Korpsgeistes in der deutschen Polizei, in: Feltes, T. (Hg.): Neue Wege, neue Ziele. Polizieren und Polizeiwissenschaft im Diskurs, Frankfurt am Main 2009, S. 25-43 (26)
[23] vgl. Herrnkind, M.: Was der Whistleblower von den Kollegen zu erwarten hat, in: Polizei heute 2006, H. 1, S. 58-61 (58f.)
[24] Seidensticker a.a.O. (Fn. 11), S. 4
[25] ebd., S. 10
[26] Behr, R.: Diskriminierung durch Polizeibehörden, in: Scherr, A. u.a. (Hg.): Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden 2016, S. 1-19 (9)
[27] Seidensticker, K.: Fehlerkultur der Polizei, in: SIAK-Journal − Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis 2019, H. 3, S. 78-91 (85)
[28]   Revisionsprozess zu Vorfall bei CSD: Beleidigung straffrei, Süddeutsche Zeitung online v. 18.2.2020
[29]   „Fast jeder Polizist hat eine Leiche im Keller, weil jeder mal was falsch gemacht hat, was vertuscht wurde“, Republik v. 13.4.2021
[30] Kreisky, E.; Löffler, M.: Maskulinismus und Staat: Beharrung und Veränderung, in: Ludwig, G. u.a. (Hg.): Staat und Geschlecht, Baden-Baden 2009, S. 75-88 (79)
[31] vgl. Abdul-Rahman, L. u.a.: Polizeiliche Gewaltanwendungen aus Sicht der Betroffenen, Bochum 2020, S. 75
[32] www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/polizeiopfer-verklagt-land-100.html

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