Der „Gefährder“ im Polizeirecht: Zwischenbilanz der Polizeigesetzgebung

von Anna Busl

„Die Gefahr, die uns droht ist der totale Staat im Gewande der Legalität – die Diktatur hinter der Fassade formaler Demokratie.“ Das sagte das IG Metall Vorstandsmitglied Georg Benz 1967 im Kampf gegen die Notstandsgesetze. Wieviel Fassade ist noch übrig? Das ist die Frage heute.

Sicherlich, keines der Reformvorhaben wird nicht garniert damit, dass dieses für die Stärkung des „Rechtsstaats“ erforderlich wäre. Und je mehr auf der Welt und in diesem Land der schreiende Widerspruch zwischen Bedürfnissen und Mangel, zwischen arm und reich, zwischen Zerstörung der Lebensgrundlagen und Festhalten der wenigen Profiteure am „weiter so“, desto mehr wird „die Notwendigkeit der Stärkung des Rechtsstaates“ durch Stärkung der „Sicherheitsarchitektur“ umso lauter propagiert. Allein ein Blick auf die Neuerungen der letzten Jahre in den Polizeigesetzen der Länder hinterlässt tiefe Risse in der Fassade und – mag man auch noch so oft „erforderlich zur Stärkung des Rechtsstaats“ darüber schreiben – die Risse bleiben, werden tiefer und rütteln an den Grundfesten.

September 2021. In München tagt die „IAA Mobility“-Messe. An Brücken oder von Brücken herunter werden Transparente aufgehängt. Es folgen zahlreiche Ingewahrsamnahmen nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz (PAG). CSU-Generalsekretär Blume äußert dazu auf Twitter: „Brückenkletterer bleiben bis Messeende eingesperrt! So läuft´s in Bayern!“ dazu ‚angespannter Bizeps-Emoji‘.[1]

Zentral bei all den Neuerungen der Polizeigesetze, wie eben der Ingewahrsamnahme in Bayern, ist der Begriff des „Gefährders“. Nur: Kein bundesdeutsches Gesetz kennt den Begriff „Gefährder“. Bekannt ist lediglich die im Rahmen der Innenministerkonferenz verabredete polizeiliche Definition: „Ein Gefährder ist eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen wird.“[2] Prominent bekannt wurde der Begriff des „Gefährders“ u. a. durch die Äußerungen des ehemaligen Bundesinnenministers Schäuble, der den „Gefährder“ zum Schlüsselbegriff der Sicherheitspolitik erklärte.[3]

Ein politischer Begriff, rechtlich nicht definiert, sondern „ein sicherheitspolitisches Konstrukt zur changierenden Bekämpfung von Risikofaktoren und der ‚Feinde‘ der Demokratie. Es ist darin gerade angelegt, dass die Feststellung der Risikofaktoren und der ‚Feinderklärung‘ beliebig möglich ist.“[4]

Im Folgenden soll nach dieser Welle der Reformen der Polizeigesetze der Länder ein erster vergleichender Überblick über einen Teil der neuen polizeirechtlichen Instrumentarien gegen „Gefährder*innen“ dargestellt werden. Nicht zuletzt deshalb, weil davon auszugehen ist, dass diese neuen Instrumentarien, die sich alle auch im derzeitigen Stand des Arbeitsentwurfs für ein „Musterpolizeigesetz“[5] wiederfinden, flächendeckend zum „Standard“ polizeilichen Handelns werden sollen.

Aufenthaltsanordnungen und Kontaktverbote

Nicht mehr „nur“ Platzverweise und Aufenthaltsverbote, sondern nunmehr auch Aufenthaltsvorgaben und -anordnungen sind Teil dieses neuen Instrumentariums. Möglich ist damit nicht nur das Verbot, an einem bestimmten Ort zu sein, sondern auch die Anordnung, einen bestimmten Ort nicht zu verlassen. Der Grundrechtseingriff ist damit deutlich intensiver und kann de facto einem Freiheitsentzug i.S.v. Art. 2 II 2 GG, 104 GG gleichkommen, je nachdem, wie eng die Aufenthalts-anordnung geschnürt wird, also z. B. lediglich auf einen kleinen Radius beschränkt wird. Die Folgen können dementsprechend beträchtlich sein: nicht nur, dass die Teilhabe an Veranstaltungen, an Versammlungen,[6] an Kultur gefährdet ist; derartige Eingriffe können existenzgefährdend sein, wenn die Berufsausübung dadurch eingeschränkt wird. Hinzu kommen Kontaktverbote, also die Untersagung, mit einer Person oder einer Personengruppe Kontakt aufzunehmen.

Die Aufenthaltsanordnungen stehen in einigen Bundesländern unter einem Richtervorbehalt und können daher grundsätzlich nur durch ein Gericht angeordnet werden (so bspw. in Niedersachsen nach § 17b NPOG oder in Brandenburg nach § 28c BbgPolG). Eine Anordnung durch die Polizei ist in diesem Fall allerdings bei „Gefahr im Verzug“ möglich. In den Bundesländern Hessen (§ 31a Abs. 2 HSOG), Schleswig-Holstein (§ 201 Abs. 3 LVwG), Bayern (Art. 16 Abs. 2 PAG) sowie Mecklenburg-Vorpommern (§ 67b Abs. 2 SOG MV) kann hingegen stets die Polizeibehörde den Aufenthalt anordnen – lediglich die Verlängerung der Anordnung muss in der Regel durch ein Gericht erfolgen.

Am weitesten gefasst sind das PAG Bayern (Art. 16 Abs. 2 PAG), das für ein Kontaktverbot lediglich voraussetzt, dass dies zur Abwehr einer Gefahr oder einer drohenden Gefahr[7] für ein bedeutendes Rechtsgut erforderlich ist, und das für ein Aufenthaltsgebot verlangt, dass „die Begehung von Straftaten“ droht. Ebenso wird in Sachsen – § 21 Abs. 2 und 3 SPVD – lediglich vorausgesetzt, dass derartige Anordnungen „zum Zweck der Verhütung von Straftaten“ erforderlich sind.

Den Polizeigesetzen Baden-Württembergs (§ 31 Abs. 1 und 2 PolG BW), Brandenburgs (§ 28c Abs. 1 und 2 BbgPolG), Niedersachsens (§ 17b Abs. 1 und 2 NPOG), Nordrhein-Westfalens (§ 34b Abs. 1 PolG NRW), Sachsen-Anhalts (§ 36a Abs. 1 und 2 SOG LSA), Hessens (§ 31a Abs. 2 HSOG), Mecklenburg-Vorpommerns (§ 67b Abs. 1 PolG MV) und des Saarlands (§ 12 Abs. 4 SPolG) ist gleich, dass jeweils „bestimmte Tatsachen“ vorausgesetzt sind, die „innerhalb eines übersehbaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise“ die Annahme einer terroristischen Straftat rechtfertigen oder das individuelle Verhalten der betroffenen Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie innerhalb eines übersehbaren Zeitraums eine terroristische Straftat begehen wird“. Eine Formulierung aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum BKA-Gesetz:[8] Ein Geschenk für all diejenigen Kräfte, denen das „tradierte sicherheitsrechtliche Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren“,[9] denen das Vorliegen wenigstens tatsächlicher Anhaltspunkte lästig war. Ein solches Geschenk freilich weist man nicht zurück. Die Ausführungen des BVerfG zur „drohenden Gefahr“ beziehen sich eng begrenzt auf „terroristische Straftaten“, überlässt deren Definition aber wiederum dem Gesetzgeber. Recht einheitlich verweisen die Landespolizeigesetze auf die einschlägigen Straftatbestände der §§ 89a (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) und 129a (Bildung einer terroristischen Vereinigung) StGB. Deren Einführung wurde bereits zu Recht als „Verpolizeilichung des Strafrechts“ und Ausdehnung des Strafrechts „in das Vorfeld des Vorfelds“[10] scharf kritisiert. Durch Verweisnormen innerhalb der genannten Strafrechtsparagrafen wird der zur Verfügung stehende Strafrechtskatalog wiederum noch weiter ausgedehnt, bis hin zum Versuch der Zerstörung eines wichtigen Arbeitsmittels (bspw. der Polizei) in § 305 StGB. Nunmehr wird durch diese Instrumentarien wiederum auf diese bereits verpolizeilichten uferlosen Straftatbestände polizeirechtlich, und damit deutlich niedrigschwelliger als in der Strafprozessordnung (StPO), zurückgegriffen. Die bisherige Eingrenzung des Gefahrenabwehrrechts auf die Abwehr von (konkreten, unmittelbaren, gegenwärtigen) Gefahren für ein bestimmtes Schutzgut wird ersetzt durch ein Gefahrenabwehrrecht, das vor der Begehung von teilweise völlig adäquatem Verhalten, teilweise bagatellhaftem Handeln schützen soll, da dieses in den Kontext des „Terrorismus“ gesetzt wird. Das Ergebnis ist ein umfassendes, ineinandergreifendes Instrumentarium „im Vorfeld des Vorfelds des Vorfelds“. Das Ergebnis: Die Inkriminierung grundgesetzlich geschützten Verhaltens, der Freifahrtschein für die Sicherheitsbehörden, gegen grundrechtlich geschütztes Verhalten vorgehen zu können.

Bis auf Sachsen, das die Höchstlänge der Kontaktverbote auf zwei Monate befristet, können diese Anordnungen jeweils für drei Monate getroffen werden, theoretisch unbegrenzt für jeweils immer wieder zwei bzw. drei Monate verlängerbar.

Elektronische Aufenthaltsüberwachung

Ein inzwischen in der überwiegenden Mehrzahl der Ländergesetze (außer Berlin, Bremen und Thüringen) zu findendes Instrument ist das der „elektronischen Aufenthaltsüberwachung“ (vgl. § 32 Abs. 1 PolG BW, § 30 Abs. 1 PolDVG HH, § 67a SOG MV, § 17c NPOG, § 34c PolGNRW, § 31a HSOG, § 61 SächsPDVG, § 36c iVm § 36a SOG LSA, § 38 SPolDVG, § 201b LVwG SH): Rund um die Uhr unter den „Augen“ der Polizeibehörden, im wahrsten Sinne des Wortes auf „Schritt und Tritt“ überwacht. Ein „tiefgreifender Grundrechtseingriff insbesondere in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG“, wie das BVerfG in seiner Entscheidung zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung für strafrechtlich verurteilte Personen feststellte.[11] Im Gegensatz zu dieser (durchaus zu kritisierenden) Entscheidung, in der ein derartiger Eingriff unter Verweis darauf, dass eine entsprechende Weisung nur erlassen werden darf, „wenn die hinreichend konkrete Gefahr besteht, dass der Betroffene weitere schwere Straftaten … begeht“, für verhältnismäßig erklärt wurde, handelt es sich jedoch bei einer polizeirechtlichen Anordnung um einen Eingriff, ohne dass irgendeine Tat tatsächlich begangen wurde. Vielmehr ist nach den polizeirechtlichen Vorschriften, wie bereits bei den Instrumentarien der Aufenthaltsvorgabe und Kontaktverbote, regelmäßig ausreichend, dass „bestimmte Tatsachen“ die Annahme rechtfertigen, dass eine Person „innerhalb eines überschaubaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise“ eine Straftat begehen wird oder „deren individuelles Verhalten eine konkrete Wahrscheinlichkeit dafür begründet, dass sie innerhalb eines überschaubaren Zeitraums eine Straftat“ begehen wird, wobei auch hier regelmäßig über den Rückgriff auf § 129a StGB bzw. § 89a StGB ein ausufernder Katalog an Straftaten in Rede steht.

In Sachsen (§ 61 SächsPVGD) wird eine Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung noch weiter und damit unbestimmter dann ermöglicht, um von den „anlassgebenden“ Straftaten abzuhalten bzw. Verstößen gegen Aufenthaltsanordnungen vorzubeugen, wobei „anlassgebende Straftat“ erneut eine solche ist, die lediglich „ihrer Art nach konkretisiert“ und „gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes, Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person oder Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist“, gerichtet ist. In Bayern ist der Eingriff erneut unter den niedrigsten Voraussetzungen möglich: Art. 34 PAG sieht vor, dass zur Abwehr einer Gefahr oder einer drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut durch den Richter die elektronische Aufenthaltsüberwachung angeordnet werden kann.

Im Gegensatz zur Aufenthaltsvorgabe ist bei der elektronischen Aufenthaltsüberwachung durchgängig die richterliche Anordnung Voraussetzung und eine dreimonatige Höchstfrist festgelegt, die aber erneut – unbegrenzt – um jeweils bis zu drei Monate verlängert werden kann.

Strafandrohung in den Polizeigesetzen

Einige der Länder, die Aufenthaltsvorgaben bzw. die elektronische Aufenthaltsüberwachung eingeführt haben, sehen darüber hinaus Strafvorschriften vor, die die Zuwiderhandlung gegen die Anordnung der Überwachung unter Strafe stellen.

Zwar beziehen sich die Strafnormen nur auf solche Anordnungen, die unter Richtervorbehalt stehen. So ist beispielsweise der Verstoß gegen eine polizeiliche Aufenthaltsanordnung nach § 31a Abs. 2 Nr. 1 HSOG nicht strafbewährt. Bei einem Verstoß gegen eine Anordnung, die durch die Polizei bei Annahme von Gefahr im Verzug erlassen wurde, gilt allerdings die Strafandrohung analog zum Verstoß gegen richterliche Anordnungen.

Beispielhaft sei hierbei die Regelung aus NRW (§ 34d PolG NRW) benannt, die eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren vorsieht, wenn einer vollstreckbaren gerichtlichen Anordnung der Aufenthaltsvorgabe oder elektronischen Aufenthaltsüberwachung zuwider gehandelt wird und dadurch der Zweck der Anordnung bzw. die kontinuierliche Feststellung des Aufenthaltsortes verhindert wird.

Ähnliche Regelungen enthalten § 134 Abs. 1 PolG BW, § 28e BbgPolG (bezogen auf Aufenthalts- und Kontaktanordnungen), § 43b Abs. 1 HSOG, § 67d Abs. 1 und 2 PolG MV, § 49a Abs. 2 NPOG, § 34d Abs. 1 PolG NRW, § 106 Abs. 1 SächsPVDG, § 106 Abs. 1 und 2 SOG LSA sowie § 201b Abs. 9 LVwG SH (bezogen auf ein Zuwiderhandeln gegen die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung). Auch im oben genannten „Musterpolizeigesetz“ sind solche Strafandrohungen offenbar vorgesehen.

Das Konstrukt der strafrechtlichen Ahndung der Zuwiderhandlung gegen polizeiliche gefahrenabwehrrechtliche Anordnungen nach dem Polizeirecht ist neu[12] und zeigt, welche Entgrenzung staatlichen Handelns daraus zwingend folgen muss: Wenn es ausreicht, dass eine vage Gefahr droht, um eine Anordnung zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung zu treffen, und hieraus wieder bei Zuwiderhandeln eine Strafbarkeit begründet werden kann, wird auch jenseits der bereits rechtsstaatswidrigen Strafbarkeit im Vorfeld und im Vorbereitungsstadium eine Strafbarkeit geschaffen, die wiederum den Gefahrenverdacht begründet. Ein Zirkelschluss mit der Folge umfassenden polizeilichen Zugriffs, wahlweise und ineinandergreifend repressiv und präventiv.

Unterbindungsgewahrsam

Der Unterbindungsgewahrsam oder Präventivgewahrsam (der Begriff Vorbeugegewahrsam wird wegen der Ähnlichkeit zum faschistischen Begriff der „Vorbeugehaft“ vermieden[13]) ist keine Strafe im rechtlichen Sinne, er setzt kein Verschulden, keine Schuldfähigkeit voraus, die strafrechtliche Unschuldsvermutung gilt nicht. Die Freiheit wird präventiv entzogen. War dies noch in den 1970er Jahren maximal für 48 Stunden bei richterlicher Anordnung möglich, wurde die Höchstfrist immer weiter ausgedehnt. Durch die Reform der Landespolizeigesetze fand „wegsperren für immer“ auch tatsächlich Eingang in die erste Neufassung des bayerischen PAG und wurde erst mit der jüngsten Novelle (2021) reformiert. Was bis dato für viele in einem Rechtsstaat nicht denkbar war, mit einem Rechtsstaat schlechthin nicht vereinbar galt, war zur Realität geworden: Einsperren – für immer – ohne Schuldnachweis. Zwar mag dies letztlich nicht zur Gesetzesrealität geworden sein, aber der Bann ist gebrochen. Die inzwischen mögliche Dauer des Gewahrsams in den verschiedenen Bundesländern zeigt die derzeitige Dynamik: Eine Dynamik in Richtung immer länger, immer extensiver.

In Baden-Württemberg (§ 33 PolG BW) und in Sachsen (§§ 22ff. SächsPVDG) beträgt die Höchstdauer 14 Tage. In Bayern – nach der Reform – nunmehr höchstens zwei Monate (Art. 17-20 PAG BY). In Niedersachsen (§§ 18ff NPOG) 35 Tage, in NRW (§§ 35ff PolG NRW) 28 Tage, in Brandenburg (§§ 17ff, § 28d Bbg PolG) und Sachsen-Anhalt (§§ 37 ff SOG LSA) vier Tage, im Saarland (§§ 13ff SPolG) und Bremen (§§ 13ff BremPolG) 8 Tage, in Hamburg (§§ 13ff SOG HH), in Hessen (§§ 32ff HSOG), in Mecklenburg-Vorpommern (§§ 55ff PolG MW) und in Thüringen (§§ 19ff PAG TH) 10 Tage. In Berlin darf nach dem Polizeigesetz eine Ingewahrsamnahme höchstens bis 24 Uhr des Folgetags erfolgen, eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Identitätsfeststellung höchstens 12 Stunden (§§ 30ff ASOG Bln), in Rheinland-Pfalz (§§ 14 POG RhPf) 7 Tage. In Schleswig-Holstein (§§ 204ff LVwG SH) gibt es keine gesetzliche Begrenzung.

Und – hier greifen die verschiedenen Neuerungen ineinander – die Gründe für eine Ingewahrsamnahme wurden teilweise erweitert, um eine Kontakt- oder Aufenthaltsanordnung oder die elektronische Aufenthaltsüberwachung durchzusetzen: So in Art. 17 Abs. 1 Nr. 1 PAG BY, § 13 Abs. 1 Nr. 4 SOG HH (10 Tage), § 32 Abs. 1 Nr. 3 HSOG (2 oder 10 Tage (elektronische Aufenthaltsüberwachung)), § 55 Abs. 1 Nr. 5 SOG MV (höchstens 3 Tage), § 35 Abs. 1 Nr. 6 PolG NRW (höchstens 7 Tage), § 22 Abs. 1 Nr. 3 SächsPVDG (höchstens 3 Tage), § 204 Abs. 1 Nr. 4, Nr. 5 und Nr. 6 LVwG SH.

Das Ergebnis dessen ist die Einführung einer Ersatzstrafe: Weggesperrt wird aufgrund einer Gefahr, die damit begründet wird, dass einer Anordnung aufgrund einer Gefahr nicht gefolgt wurde.

Wegsperren – ohne anwaltlichen Beistand!

Dass bei einer Ingewahrsamnahme selbstverständlich das Recht auf einen anwaltlichen Beistand festgeschrieben sein müsste, ergibt sich aus der Sache selbst: Eine Freiheitsentziehung ist einer der gravierendsten Eingriffe in die Grundrechte. Aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) muss folgen, dass Betroffene die Möglichkeit erhalten, sich eines Bevollmächtigten zu bedienen. Während im Strafverfahren unabhängig von der Dauer der Haft in Haftsachen immer ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist, § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO, sieht das FamFG (Gesetz in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit), das für das gerichtliche Verfahren in Gewahrsamssachen einschlägig ist, lediglich vor, dass gem. § 419 ein Rechtsbeistand durch den Richter gewährt werden kann. Lediglich in Brandenburg ist ein Rechtsbeistand zu gewähren, jedoch erst nach der richterlichen Anordnung der Gewahrsamnahme und wenn diese die Dauer von vier Tagen überschreitet.

In Baden-Württemberg wird hingegen noch nicht einmal die Benachrichtigung einer Vertrauensperson vorgeschrieben. In Bayern wird in Art. 19 Abs. 2 PAG (genauso wie in § 32 Abs. 2 Satz 1 ASOG Bln, § 13b SOG HH, § 20 NPOG, § 13 Abs. 2 Satz 1 SPolG, § 24 Abs. 2 S. 1 SächsPVDG, § 39 Abs. 2 S. 1 SOG LSA, § 23 Abs. 3 S. 1 ThPAG, ähnlich in Bremen, § 15 BremPolG, der explizit auf einen Rechtsanwalt Bezug nimmt) festgelegt, dass der festgehaltenen Person unverzüglich Gelegenheit zu geben ist, einen Angehörigen oder eine Person ihres Vertrauens zu benachrichtigen, soweit dadurch der Zweck der Freiheitsentziehung nicht gefährdet wird. § 56 SOG MV wie § 16 Abs. 2 POG RhPf und § 200 Abs. 2 Satz 1 LVwG SH sieht von dieser Einschränkung immerhin ab.

Ingewahrsamnahme zum Zwecke der Identitätsfeststellung

In NRW wurde 2018 weiterhin eine spezielle Ermächtigung eingeführt (§ 38 Abs. 2 Nr. 5 PolGNW): Demnach kann, sofern Tatsachen die Annahme begründen, dass die Identitätsfeststellung innerhalb der nächsten 12 Stunden vorsätzlich verhindert worden ist, eine Ingewahr-samnahme bis zu sieben Tagen erfolgen.

Dem gegenübergestellt erlaubt § 163 c Abs. 2 StPO eine Freiheits-entziehung zum Zwecke der Identitätsfeststellung von höchstens zwölf Stunden. Die Befürchtung, dass das Polizeirecht angewendet wird, um die Pflichten und Begrenzungen staatlichen Handelns, die sich aus der StPO ergeben, zu umgehen, ist längst eingetreten: Erstmals angewendet wurde dieser Paragraph Anfang 2019 bei einer Blockade eines Kohlebaggers, dann 2020 u. a. gegen 22 Teilnehmende nach einer Baggerbesetzung und Anfang Oktober diesen Jahres erneut bei einer Blockade in Lützerath.

Ein Gesetz, ausgerichtet darauf und angewendet gegen Klima-aktivist*innen, die bei Besetzungen im rheinischen Braunkohlerevier ihre Fingerkuppen verklebt hatten, so dass eine Identitätsfeststellung anhand der Fingerabdrücke nicht möglich war. Es kann daher fast niedlich als „Lex Hambi“ bezeichnet werden. Tatsächlich ist es: Wegsperren, ohne dass die Grundlage für eine Untersuchungshaft vorgelegen hätte. Tatsächlich ist es: Beugehaft zur Erzwingung der Herausgabe von Personalien, Wegsperren politischer Aktivist*innen – im Sinne derjenigen, die der eine oder die andere nachweisbar als Gefährder*in des Klimas bezeichnen wird: von Energiekonzernen wie RWE.

Anwendungspraxis – zum Schutz der herrschenden Ordnung

Die Klimaaktivist*innen in NRW sind nicht die einzigen, die einem zum viel beschworenen Bild des „terroristischen Gefährders“ nicht recht einfallen mögen. Sicherlich gilt das auch für weitere Beispiele. Bei einem Polizeieinsatz im Februar 2019 in einem Lager für Geflüchtete in Schweinfurt versuchte der öffentlichen Berichterstattung nach einer der Bewohner zu entkommen und kletterte aus einem Fenster. Im Hof sammelten sich die Bewohner*innen. Die Stimmung sei „sehr aggressiv“, will die Polizei bemerkt haben und könne „jederzeit eskalieren“. Einzelne Flüchtlinge würden Steine „in die Hand nehmen“. Das Ergebnis: Elf Flüchtlinge in Gewahrsam, die meisten für mehrere Wochen, einer aber auch zwei Monate lang. Um Schlimmeres zu verhindern, so lautete die Begründung.[14]

Während ihrer Zeit im Gefängnis bekamen sie keine Anwältin zur Seite gestellt, die sie hätte unterstützen und Akten einsehen können. Am Ende wurden sie abgeschoben. Maßnahmen nach der StPO wurden nicht getroffen. Vielleicht ganz bewusst, um die erkämpften Rechte, die dem Beschuldigten zustehen, zu umgehen. Vielleicht auch, weil die Schwelle für eine Maßnahme nach der StPO gar nicht erst überschritten wurde. Und dennoch erfolgte das schärfste Schwert, das der Staat anwenden kann: Der Entzug der Freiheit. Ohne anwaltlichen Beistand. Ohne dass die Öffentlichkeit etwas davon erfuhr. Im Heimlichen. Dem Bericht der PAG-Kommission zur Begleitung des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes vom 30.8.2019 zufolge wurde seit August 2017 gegen 19 Personen Präventivhaft angeordnet, 16 davon waren ausländische Staatsangehörige. Nur zwei der 19 waren anwaltlich vertreten.[15]

Auch in NRW wurde eine interessante Bilanz gezogen: dort seien innerhalb des ersten Jahres nach Inkrafttreten 29 Personen länger als bis dato möglich in Gewahrsam genommen worden, davon vier wegen der Weigerung sich zu identifizieren. Dennoch wurde befunden, „Maß und Mitte“ gewahrt zu haben.[16]

Die wirkliche Gefahr droht sicherlich nicht von Geflüchteten und Baggerbesetzer*innen, sondern von denen, die sich stolz damit brüsten, dass der Staat diese wegsperrt. Sie besteht in Maßnahmen und Gesetzen, die den Rechtsstaat aushöhlen und den repressiven Staat aufrüsten. Sie besteht darin, dass als Recht und Gesetz bezeichnet wird, was tatsächlich Instrumentarium zur Sicherung von Herrschaft und einer Ordnung der wenigen Reichen, der Konzerne ist, einer Ordnung der Abschottung und Grenzen. Ein Instrumentarium gegen die Schwächsten und gegen die politisch Missliebigen. Gegen diese Gefahr gilt es Widerstand zu leisten.

[1]   https://twitter.com/MarkusBlume/status/1435576525429039114 v. 8.9.2021
[2]   Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Präventivhaft für „Gefährder“ (WD3 – 3000- 002/17), S. 17
[3]   Interview im „Spiegel“ v. 8.7.2007
[4]   Arnold, J.: Zum sicherheitspolitischen Konstrukt des Gefährders, in: RAV Informations-brief, Nr. 114 (2017), S. 36f.
[5]   Sachstandsbericht des UA RV des AK II zur Vorlage an die 214. Sitzung der IMK am 16.-18.6.2021, Stand: 17.3.2021
[6]   Nur wenige Polizeigesetze enthalten explizit den Satz, dass die Vorschriften des Versammlungsrechts unberührt bleiben: Bayern, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern.
[7]   Zum Begriff der „drohenden Gefahr“: Lippa, M.: Die „drohende Gefahr“ – eine konkrete Gefahr für die Freiheitsrechte, in: in Bürgerrechte & Polizei/CILIP 117 (November 2018), S. 11-19
[8]   Bundesverfassungsgericht: Urteil des Ersten Senats vom 20. April 2016: 1 BvR 966/09 und 1 BvR 1140/09, Rn. 112, www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/04/rs20160420_1bvr096609.html
[9]   ebd.
[10] Paeffgen, U.: § 89a Rn. 1f., in: Kindhäuser, U./Neumann, U./Paeffgen, U. (Hg.): Strafgesetzbuch Kommentar, Baden-Baden 2017
[11] Beschluss v. 1.12.2020, 2 BvR 916/11, 2 BvR 636/12, Rn. 272, www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/ 12/rs20201201_2bvr091611.html
[12] Bisher wurden Verstöße bspw. gegen polizeiliche Platzverweise in manchen Bundesländern lediglich als Ordnungswidrigkeiten verfolgt, so z. B. in Sachsen-Anhalt nach § 107 SOG LSA, vgl. auch: Arzt, C.: Anhörung zur 6. Novelle PolG NRW am 7. Juni 2018 im Landtag NRW, S. 19; wie bei allen Verwaltungsakten kann außerdem ein Zwangsgeld verhängt werden, wenn einer Anordnung – bspw. bei der Wegweisung aus einer Wohnung – nicht gefolgt wird.
[13] s. Wroblewski, A./Rehmke, S.: Sicherheit durch Polizeigewahrsam, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 63 (H.
2/1999), S. 58-68
[14] Bayern – Peilsender am Bein, Süddeutsche Zeitung v. 17.2.2019
[15] www.pag.bayern.de/assets/stmi/direktzu/190830_abschlussbericht_pag-kommission.pdf
[16] Pressemitteilung des Ministeriums des Innern NRW: „Bilanz zu 1 Jahr „Sicherheitspaket I“: „Maß und Mitte wurden gewahrt“ v. 12.12. 2019

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert