von Jacqueline Andres
Die einst als Zivilmacht betitelte EU transformiert sich in eine Sicherheitsunion. Die dort angenommenen Bedrohungen sind ein Motor für Forschung und Entwicklung. Auch für die illegalisierte Migration präsentiert sich die Sicherheitsindustrie als Lösungsanbieterin für politische, soziale und ökologische Probleme, die sie mitverursacht.
In der Region von Calais stürmten am 1. Januar 2022 Polizist*innen mit Schlagstöcken, Helmen und Schutzschildern auf Geflüchtete zu, rissen ihre Zelte nieder und setzten Tränengas gegen sie ein. Den Angegriffenen blieb keine Zeit, ihr Hab und Gut zu retten. Die Räumung schloss sich an rund 150 weitere an, die allein zwischen den Weihnachtsfeiertagen und Neujahr in der Region durchgeführt wurden.[1] Diesen gewalttätigen Einsätzen liegt eine Versicherheitlichung von Migration zugrunde, die entmenschlicht, leicht ausbeutbare Arbeitskräfte schafft und das Sterben von Menschen normalisiert. Noch deutlicher tritt die EUropäische Stilisierung von people on the move zur Bedrohung an der polnischen Grenze zu Belarus zum Vorschein. Polnische Regierungsvertreter*innen sprechen von Menschen, die als „Waffen“ zur Destabilisierung der Grenze eingesetzt werden[2] – der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nutzen die gleiche Analogie und werten die Lage als „hybriden Angriff“.[3]
Technologisierte Grenzüberwachungsinstrumente
So nimmt es nicht wunder, wenn die zur „Bedrohung“ stilisierten Migrant*innen tatsächlich mit Militärtechnik kontrolliert und bekämpft werden. Viele Rüstungskonzerne verkaufen diese als „Dual Use-Technologien“ für die Grenzüberwachung. Sie lassen sich grob unterteilen in Schutzausrüstung der Einsatzkräfte (Bewaffnung und gepanzerte Fahrzeuge); Sensorik und Optronik (Wärmebildkameras, Nachtsichtgeräte und Sensoren); Aufklärungstechnologien (Drohnen, Satelliten, Radargeräte) und Datenanalysewerkzeuge bzw. Analytik (u. a. biometrische und KI-Anwendungen).
Die EU-Grenzagentur Frontex verfügt mit der neuen „Ständigen Reserve“ in der „Kategorie 1“ über 3.000 bewaffnete Beamt*innen. Zu deren geplanten Ausrüstung lud Frontex die Unternehmen Heckler&Koch, SigSauer, Glock und Grand Power 2019 zu einem „Industriedialog zu Waffen, Munition und Holster“ ein.[4] Wegen rechtlicher Schwierigkeiten verzögerte sich die Beschaffung der Waffen für die „Kategorie 1“; den Auftrag erhielten erst im Herbst 2021 die Firmen Glock aus Österreich für die Pistolen sowie Mildat und Parasnake Arkadiusz Szewczyk aus Polen für die Lieferung von 3,6 Millionen Schuss Munition. Zwar freute sich Frontex Anfang Dezember 2021 über einen „historischen Schritt für die ständige Reserve und die Europäische Union“, als die Agentur zum ersten Mal bewaffnete Beamt*innen der „Kategorie 1“ an der litauisch-belarussischen Grenze stationierte, bewaffnet werden diese aber zunächst vom Gaststaat Litauen.[5]
An ihren Grenzen setzen EU-Mitgliedstaaten auch gepanzerte Fahrzeuge ein. So schickte Österreich z. B. im Frühjahr 2020 einen Polizeipanzer des Typs SurviorR II, ein MAN-Geländewagen von Achleitner aus Österreich, der von Rheinmetall umgerüstet und vertrieben wird, nach Griechenland.[6] Die griechische Polizei verkündete 2021, eine auf einem Polizeipanzer montierte Schallkanone an der Grenze zur Türkei einsetzen zu wollen. Dabei handelt es sich um ein Long Range Acoustic Device (LRAD) des Typs 450XL des US-amerikanischen Unternehmens Genasys. Die Technik stammt aus einem Auftrag aus den Nullerjahren vom US-Verteidigungsministerium. Die Firma sollte ein auf Schallwellen basierendes Gerät zur Kommunikation zwischen Schiffen und zur Abwehr potenzieller Angreifer*innen entwickeln. US-amerikanische oder beispielsweise thailändische Polizeibehörden setzen diese Schallkanonen seitdem bei Protesten ein, obwohl deren immense Lautstärke u. a. einen Hörverlust verursachen kann. Im maritimen Bereich wird das Gerät u. a. von der EU-Mission Atalanta LRAD‘s zur „Pirateriebekämpfung“ vor der Küste Somalias genutzt.[7]
Auch bei der Aufklärungstechnik lässt sich die Nutzung von ursprünglich für das Militär entwickelten Technologien zur Grenzüberwachung feststellen. Frontex hat seit 2015 Zugriff auf Daten des EUropäischen Satellitenprogramms Copernicus, und erstellt mit den Satellitenbildern im Rahmen des European Surveillance Systems (EUROSUR) ein Lagebild der Grenzen in nahezu Echtzeit.[8] Im zentralen Mittelmeer setzt Frontex eine von Israeli Aerospace Industries hergestellte Langstreckendrohne des Typs Heron 1 ein.[9] Das israelische Militär nutzt das Luftfahrzeug seit den Nullerjahren in Gaza, etwa im Rahmen der Operation „Gegossenes Blei“ ab 2008.[10] Auch die Bundeswehr flog die Heron 1 seit 2010 in Afghanistan, seit 2016 auch in Mali.
Zur Luftaufklärung nutzt Frontex außerdem an einem Versorgungskabel „gefesselte“ Zeppeline. 2019 testete die Agentur einen solchen Aerostat auf der griechischen Insel Samos, derzeit steigen sie am Evros-Grenzfluss zur Türkei in die Luft. Hauptauftragnehmer sind die deutsche in-innovative navigation GmbH und die französische CNIM Air Space.[11] Ausgerüstet sind die Aerostaten mit dem elektro-optischem Infrarot-System ARGOS-II HD der deutschen Firma Hensoldt.[12] Das Modul exportiert Hensoldt auch in die Türkei, dort ist es in die Kampfdrohne Bayraktar TB2 eingerüstet, mit der das türkische Militär seit 2016 Angriffe auf Kurd*innen in Nordsyrien und Nordirak fliegt.[13]
Die von elektro-optischen, radarbasierten oder akustischen Sensoren gesammelten Daten werden zusammen mit anderen Datenquellen von Anwendungen ausgewertet, die auf Künstlicher Intelligenz (KI) basieren. Unter anderem basieren Gesichtserkennungssysteme, wie sie Spanien an den Grenzen von Ceuta und Melilla[14] und Griechenland in Flüchtlingslagern einsetzen wollen, auf KI.[15]
Akteure der EUropäischen Sicherheitsindustrie
Zwar werden Millionenbeträge in die Erforschung, Entwicklung und Produktion der beschriebenen Technologien gesteckt, doch können sie das Versprechen der „Bekämpfung“ von Migration oftmals nicht halten. Gewinner*innen gibt es trotzdem: die EUropäische Sicherheitsindustrie, die ihre Produkte zusehends für die innere Sicherheit und Grenzüberwachung vermarktet. Deren Verwendung durch Frontex sowie Grenztruppen der EU-Mitgliedstaaten wird gefordert und gefördert durch Akteur*innen, die vor allem aus großen Luftfahrt-, Raumfahrt- und Rüstungsunternehmen stammen. In den frühen Nullerjahren und nach der „Finanzkrise“ ab 2007 gingen die Rüstungsausgaben der EU deutlich zurück. Der zur gleichen Zeit aufkommende Markt für „Homeland Security“ in der EU kann deshalb als Neuerfindung der Rüstungsindustrie gesehen werden.[16] Diese Entwicklung wird begleitet durch Forschungsorganisationen (z. B. Universitäten oder Fraunhofer Institute), Beratungsunternehmen (z. B. Deloitte), Regierungs-ministerien und EU-Institutionen.
Weitere wichtige Akteur*innen sind Lobbyorganisationen, die Phänomene wie Migration als Sicherheitsproblem definieren und für dessen Bekämpfung mit für das Militär entwickelten Technologien werben.[17] Aus der Rüstungslobbygruppe Aerospace and Defence Industries Association of Europe heraus gründete sich 2007 der Lobbyverband European Organisation for Security (EOS), der sowohl zivile als auch militärisch nutzbare Sicherheitslösungen anbietet.[18] Erforschung („Innovation“) und Entwicklung der Technologien erfordern hohe staatliche Ausgaben, die die Lobbyorganisationen von den EU-Mitgliedsstaaten oder aus EU-Mitteln einwerben. Auf diesem Feld konkurrieren die großen Rüstungsunternehmen Airbus, Leonardo, Indra und Thales und damit auch die dahinterstehenden Regierungen aus Deutschland, Italien, Spanien und Frankreich.
Horizont Europa
Ein solcher EU-Topf ist das Forschungsrahmenprogramm, das 2021 als Horizont Europa zum neunten Mal anlief. Von 2021 bis 2027 fördert die EU Forschungs- und Innovationsprojekte zur Stärkung der globalen „Wettbewerbsfähigkeit“ mit 95,5 Milliarden Euro. Das Programm besteht aus drei Pfeilern: Wissenschaftsexzellenz (25 Milliarden Euro), Globale Herausforderungen und industrielle Wettbewerbsfähigkeit Europas (53,5 Milliarden Euro) und Innovatives Europa (13,6 Milliarden Euro). Weitere Unterteilungen erfolgen innerhalb der Pfeiler, so gehört der Cluster „Zivile Sicherheit für die Gesellschaft“ (1,6 Milliarden) zum zweiten Pfeiler und gliedert sich wiederum auf in Schutz der EU und ihrer Bürger*innen vor Kriminalität und Terrorismus (87 Millionen Euro), Management der EU-Außengrenzen (55,5 Millionen Euro), Schutz wichtiger Infrastrukturen (31 Millionen Euro), Cybersicherheit (134,8 Millionen Euro), Resilienz im Krisen- und Katastrophenfall (72 Millionen Euro) und die vermehrte Nutzung von Forschungsergebnissen durch Anwender*innen (25,5 Millionen Euro).[19]
Im Bereich des Grenzmanagements fächern sich die Ausschreibungen in fünf Kategorien. Die erste betrifft Projekte, die zur großflächigen und autonomen Überwachung aus der Stratosphäre beitragen. Sie sollen kompatibel mit bestehenden und künftigen Grenz- und Seeüberwachungssysteme in der EU sein, einschließlich EUROSUR. Gefördert wird Forschung zu „UAVs, Ballons, Luftschiffen, Höhenplattformen (HAPs), Lighter-Than-Air (LTA)-Lösungen, Mikrosatelliten, Satellitenbilder“.[20] Die zweite Kategorie zielt auf eine sicherere und verbesserte Einsatzfähigkeit von Grenz- und Küstenwachen und des Zolls. Projekte sollen sich an dem Bedarf von Frontex orientieren und die Grenzagentur bei der Entwicklung einbeziehen. Geforscht werden kann „an Sicherheitslösungen und Schutzausrüstungen für das eingesetzte Personal, fortgeschrittenen Kommunikationssystemen und fortgeschrittenen Human Interface Geräten und Sensoren“.[21] Die dritte Kategorie soll verbesserte Grenzkontrollen zur Erleichterung des Reiseverkehrs, der Reisenden und der Grenz- und Küstenwachen ermöglichen. Der Fokus liegt hier auf der Erforschung von stationären und mobilen und leicht transportablen Technologien zur Überprüfung von Pässen, biometrischen Daten und Dokumenten in z. B. Zügen, auf Straßen oder auch Schiffen.[22] Die vierte Kategorie widmet sich der Erkennung verbotener Gegenstände im Postverkehr und die letzte Kategorie der verbesserten Erkennung von verbotenen Gegenständen am und im Körper von Personen.
EU als Sicherheitsunion?
Im Kern hat der im Vertrag von Amsterdam verankerte „Raum der Freizügigkeit, der Sicherheit und des Rechts“ bereits die Fundamente einer Argumentation für die „Festung Europa“ geschaffen: Die innere Sicherheit der EU erfordere eine verstärkte Kontrolle der Außengrenzen zum Schutz und Erhalt der „europäischen Lebensweise“.
In dieser Zeit spielte das Primat der „Sicherheit“ eine immer größere Rolle auch im militärischen Bereich: 2003 wurde die Europäische Sicherheitsstrategie angenommen und ein Jahr später die Europäische Verteidigungsagentur (EVA) geschaffen, um die Rüstungsplanung, -beschaffung und -forschung voranzutreiben. Ab 2016 strebte die EU an, ein globaler Sicherheitsakteur zu werden. Beeinflusst hat diese Entwicklung der angekündigte EU-Austritt Großbritanniens, das zuvor bei militärischen Bemühungen der EU, wie z. B. der 2003 gegründeten Battle-groups, bremsend wirkte.[23]
2016 löste die neu geschaffene Globale Strategie die Sicherheitsstrategie aus 2003 ab. Um global geeint militärisch agieren zu können, etabliert sie drei Instrumente, für die die EVA seither verantwortlich ist: die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit zur Förderung gemeinsamer Rüstungsprojekte; die Koordinierte Jährliche Überprüfung der Verteidigung zur Erstellung eines jährlichen Berichts über die EUropäische Sicherheits- und Rüstungslandschaft, um die Harmonisierung und Synchronisation voranzutreiben; und den Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) zur Finanzierung gemeinsamer Rüstungsforschung und -entwicklung.
Seit 2021 ist der EVF aktiv – ausgestattet mit einem Gesamtbudget von stolzen 7,953 Milliarden Euro für den Zeitraum 2021-2027. Der für die Implementierung des Fonds verantwortliche Thierry Breton, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen mit der erweiterten Zuständigkeit für Verteidigung und Raumfahrt (und ehemaliger CEO von Thales und ATOS), erklärt: „Es geht einfach darum, Europa auf dem geostrategischen Schachbrett der Welt zu behaupten.“[24]
Die Ergebnisse der durch den EVF geförderten Forschung z. B. an autonomen Systemen, Sensoren, Quantentechnologie oder auch Analytik können die beteiligten Unternehmen auch für andere Vorhaben nutzen, diese Produkte landen anschließend auch auf dem Markt für Grenzüberwachung. Die EU-Kommission will den Firmen auch Zugang zu Mitteln aus der zivilen Forschung erleichtern, wo besonders die Bereiche KI und „disruptive Technologien“[25] im Mittelpunkt stehen.
In ihrem Anfang 2021 vorgelegten Aktionsplan für Synergien zwischen der zivilen, der Verteidigungs- und der Weltraumindustrie fordert die Kommission, dass „die EU-Finanzierung von Forschung und Entwicklung, einschließlich der Bereiche Verteidigung und Raumfahrt, wirtschaftliche und technologische Vorteile für die EU-Bürger mit sich bringt (die ‚Spin-offs‘)“.
Umgekehrt heißt es, dass die Nutzung von Forschungsergebnissen der Zivilindustrie und Innovationen, die von der Zivilbevölkerung ausgehen, in Projekten der europäischen Verteidigungszusammenarbeit erleichtert wird (die „Spin-ins“).[26] Diese Weichenstellung räumt der Sicherheitsindustrie in der EU eine zukunftsgestaltende Rolle ein, die zu einer weiteren Militarisierung der inneren und äußeren Sicherheitspolitik der EU beitragen wird – eine Rolle, die die sozialen Bewegungen und Organisationen vehementer für sich beanspruchen müssen, um mit der rassistischen und umweltzerstörerischen „Ökonomie der Angst“ zu brechen.