Strategische Überprüfungen – Zivilgesellschaftliche Polizeikontrolle in Großbritannien

von Genevieve Lennon

Der Artikel gibt einen Überblick über das Kontrollinstrument der strategischen, oft auch thematisch genannten Überprüfungen (englisch: „strategic reviews“), welche die Aufsichtsgremien der britischen Polizei durchführen können. Anhand von Fallstudien aus England und Wales wird aufgezeigt, wie die Überprüfungen initiiert werden können, welche Befugnisse die Kontrollinstanzen haben, wie die Ergebnisse veröffentlicht werden, und – soweit relevant und möglich – wie die Polizei darauf reagiert.

Um das Instrument der thematischen Überprüfungen zu erläutern, führt der Artikel zunächst in die britischen Polizeistrukturen und Aufsichtsgremien ein. Die wichtigsten Polizeien in England und Wales sind die 43 „Home Office“ Polizeipräsidien, die so genannt werden, weil sie gemäß dem Police Act 1996 dem Innenministerium unterstehen. Die zivilgesellschaftliche Kontrolle wird gemäß Police Reform and Social Responsibility Act 2011 von sogenannten „Police and Crime Commissioners“ (PCC), zu Deutsch: Beauftrage für Polizei und Verbrechen, ausgeübt.[1] Diese werden von der lokalen Bevölkerung direkt gewählt und sind für die Ernennung und Abberufung des/der Polizeipräsident*in zuständig. Zudem erarbeiten sie einen strategischen Fünfjahresplan für das Themenfeld „Polizei und Kriminalität” und können dessen Einhaltung gegenüber der Präsidiumsleitung einfordern. In Städten, die groß genug sind, um Bürgermeister*innen zu haben, üben die stellvertretenden Bürgermeister*innen diese Funktion aus.

Darüber hinaus gibt es gemäß dem Policing and Crime Act 2018 die unabhängige Polizeibeschwerdestelle namens „Independent Office for Police Conduct“ (IOPC). Diese führt gemäß dem Zusatz 3A des Police Reform Act 2002 in besonders schwerwiegenden Fällen, z B. Todesfälle oder schwere Verletzungen aufgrund polizeilicher Maßnahmen oder Korruption, eigene Untersuchungen durch. Ferner veröffentlicht das IOPC Berichte. Diese umfassen Fallanalysen zu begrenzten Themengebieten wie Tasereinsätzen[2] ebenso wie grundsätzliche Erörterungen z .B. zu Diskriminierung.[3] Seit 2021 wurden die Themen häusliche Gewalt, Todesfälle durch Polizei im Straßenverkehr, sexuelle Nötigung und psychische Gesundheit behandelt.[4] „Um Probleme und Trends in diesen Themenfeldern auszumachen“, untersucht das IOPC sogar „unabhängig Fälle, für die ansonsten kein hinreichender Untersuchungsanlass vorläge.“[5] Es gibt keine ausdrückliche gesetzliche Befugnis zum Erstellen der Berichte. Vielmehr scheint sich das IOPC auf sein Initiativrecht zu stützen, wonach es gemäß der Absätze 4 und 13 von Zusatz 3 des Police Reform Act 2002 mit einem Fall so umgehen kann, als sei er ihm zugewiesen worden.

Eine weitere Kontrollinstanz, die in unterschiedlicher Form bereits seit dem späten 19. Jahrhundert existiert, ist die königliche Polizei-, Feuerwehr- und Rettungsdienstsaufsicht (Her Majesty’s Inspectorate of Constabulary and Fire and Rescue Services, HMICFRS).[6] Aufgrund der besonderen Rolle, wird die HMICFRS im Folgenden genauer betrachtet.

Die königliche Polizei-, Feuerwehr- und Rettungsdienstsaufsicht (HMICFRS)

Die HMICFRS dient nicht dazu, die Polizei zu kontrollieren – diese Aufgabe liegt in der Verantwortung der PCCs und teils auch des IOPC. Vielmehr wurde das HMICFRS eingerichtet, um die „Effektivität“ und „Effizienz“ der Polizei zu gewährleisten, so Absatz 54 des Police Act 1996. Daraus folgt auch, dass das HMICFRS keine Maßnahmen erzwingen kann, sondern lediglich Empfehlungen ausspricht. In England und Wales ist das HMICFRS laut Absatz 54 und Zusatz 4A des Police Act 1996 befugt, eine Überprüfung vorzunehmen, sofern entweder eine Genehmigung oder sogar eine Anordnung des/der Staatssektretär/in für Inneres vorliegt. Seit 2014 führt das HMICFRS neben den regelmäßigen so genannten „PEEL-Inspektionen“ (zu Polizeilicher Effektivität, Effizienz und Legitimität) auch ad-hoc-Überprüfungen durch. Solche nationalen thematischen Überprüfungen werden durchgeführt „bei gegenwärtig drängenden Problemen der Polizeipraxis, [die] dem Gemeinwohl schaden, bei uneinheitlichen Evaluationsergebnissen innerhalb von England und Wales, die die Polizeikräfte nicht hinreichend erklären können, oder wenn Verbesserungen der Polizeipraxis, entweder für die meisten oder für die vulnerabelsten Menschen besonders hilfreich wären“.[7]

Beispielhaft für die thematischen Überprüfungen sei hier die Analyse von „Stop and Search“-Praktiken, also von anlasslosen Personenkontrollen und Durchsuchungen, genannt. Anlass waren einwöchige Proteste und Unruhen im Londoner Stadtteil Tottenham im Jahr 2011 nach der Erschießung des jungen Schwarzen Mark Duggan durch die Polizei. Seitens der Öffentlichkeit wurden insbesondere die Personenkontrollen und Durchsuchungen durch die Polizei kritisiert.[8] Die damals noch HMIC genannte HMICFRS wurde daher von der Staatsekretärin für Inneres gebeten, die Anwendung dieser Polizeibefugnisse zu evaluieren.[9]

Im Rahmen dieser ersten Untersuchung der HMIC zum Thema „Personenkontrollen und Durchsuchungen“ wurden alle dem Innenministerium unterstellten Polizeipräsidien Englands und Wales‘ evaluiert und dazu rund 500 leitende Beamt*innen sowie 550 Polizeivollzugsbeamt*innen und deren Vorgesetzte befragt. In jedem Polizeipräsidium analysierte die HMIC zudem mindestens 200 Personenkontrollformulare,[10] und befragte 19.078 Bürger*innen.

Der Bericht fiel äußerst kritisch aus: Er bemängelte eine unzureichende Ausbildung, lückenhafte Einsatzdokumentation, Kompetenzüberschreitungen und weit verbreitete Verstöße gegen die polizeirechtlich festgeschriebenen Verfahrensregeln.[11] Das Fazit lautete: „Zu oft ist die Durchführung polizeilicher Personenkontrollen und Durchsuchungen gar nicht effektiv für die Verbrechensbekämpfung, und Verfahrensvorgaben werden nicht eingehalten; dies gefährdet die Legitimität der Polizei.”[12]

Die HMIC sprach zehn Empfehlungen aus und nahm sich vor, alle Polizeipräsidien binnen anderthalb Jahren auf entsprechende Fortschritte hin erneut zu evaluieren. Im Jahr 2014 kündigte die Staatssekretärin für Inneres, Theresa May, nach einer öffentlichen Anhörung die Einführung eines Systems freiwilliger Selbstverpflichtung unter dem Titel „The Best Use of Stop and Search“ (BUSS) an. Dieses beschränkte maßgeblich eine jener Befugnisse, die der Polizei den größten Ermessenspielraum geben: die verdachtsunabhängige Kontrolle, die sich auf Absatz 60 des Criminal Justice and Public Order Act 1994 stützt. Alle Polizeidienststellen des Innenministeriums unterzeichneten die Selbstverpflichtungserklärung und schränkten damit freiwillig ihre eigenen Befugnisse ein. Die Zahl der Kontrollen und Durchsuchungen sank in der Folge von einem Höchststand von 1,2 Millionen im jeweils zum 31. März endenden Berichtsjahr 2010/11 auf 280.00 im Jahr 2017/18.[13]

Die Personenkontrollen und Durchsuchungen waren schon lange zuvor ein äußerst kontrovers diskutiertes und politisch aufgeladenes Thema. Dass die weitreichenden Empfehlungen nun aber Akzeptanz fanden, mag an der Positionierung der HMICFRS gelegen haben: Sie ist eine Institution, die zwar unabhängig ist, jedoch über gute Verbindungen zur Polizei verfügt, da viele ihrer Beamt*innen selbst ehemalige Polizist*innen sind. Zudem hatte der Bericht einen Dialog zwischen der HMICFRS, der Polizei und den PCCs bzw. Bürgermeister*innen angeregt, da die PCCs und Polizeipräsident*innen zum Bericht und seinen Empfehlungen Stellung nehmen mussten. Teils förderte er auch einen Dialog zwischen einigen PCCs und jeweiligen Communities[14] sowie zwischen dem Parlament und der Öffentlichkeit: Zwischen Juli und September 2013 fand eine öffentliche Anhörung zum Thema auf der Grundlage des ursprünglichen Berichts statt. Auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie „Stop Watch“ nahmen in ihren Kampagnen gegen Racial Profiling auf den Bericht Bezug.[15] Zudem nutzten NGOs und Wissenschaftler*innen die Datensätze, die zusammen mit dem Bericht veröffentlicht wurden, für weitere Auswertungen. Diese öffentlichen Auseinandersetzungen mit der Thematik dokumentierte der nachfolgende Bericht der HMIC (s.u.), der aufzeigt, wie thematische Überprüfungen organisationale Lernprozesse stimulieren können.

Allerdings verdeutlicht das Beispiel auch die Grenzen der Polizeikontrolle durch Aufsichtsgremien sowie den Einfluss der politischen Leitung der Polizei. Unter einer jeweils neuen Staatssekretärin (plus Wechsel des/der Premierminister/in) in den Jahren 2019 und 2021 wurde das BUSS-Selbstverpflichtungssystem weitgehend zurückgenommen.[16] Die Zahl der Personenkontrollen und Durchsuchungen stieg schnell wieder an: Im Berichtsjahr 2020/21 wurden 704.239 solcher Maßnahmen registriert.[17] Selbst jenseits des BUSS befand die HMICFRS im Jahr 2015 in ihrem Folgebericht „Stop and Search Powers 2“ lediglich bezüglich einer der zehn Empfehlungen die Fortschritte für gut. In Bezug auf vier weitere Empfehlungen seien gewisse Fortschritte erzielt worden; und bei fünf Empfehlungen ausreichende. Der jüngste HMICFRS-Bericht aus dem Jahr 2021 trägt den Titel „Disproportionate use of police powers“, wobei mit „Überproportionalität“ Racial Profiling gemeint ist. Der Bericht fällt in vielerlei Hinsicht ähnlich entmutigend aus wie der erste: „Mehr als 35 Jahre nach der Einführung der Gesetzgebung zu anlassunabhängigen Personenkontrollen und Durchsuchungen gibt es keine Behörde, die die Effekte der Anwendung dieser Befugnisse gänzlich durchdringt. Die Überproportionalität besteht fort, und keine Dienststelle kann dies zufriedenstellend erklären.”[18]

Was sagt uns dieses Beispiel? Es zeigt, dass sich eine unabhängige Instanz in politisch sensible Themen einmischen kann, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb der Polizei. Auch wenn der Fortschritt bisher insgesamt gering erscheint, hat dadurch zumindest die Transparenz der Institution Polizei zugenommen. Zudem entstanden neue Datengrundlagen, wie z. B. im zweiten hier behandelten HMICFRS-Bericht („Stop and Search Powers 2“), der sich auf eine Befragung von 10.000 Personen zum zuvor nie so systematisch untersuchten Thema der Straßenverkehrskontrollen stützte. Außerdem hat sich – innerhalb und außerhalb der Polizei – die Debatte darüber, ob anlassunabhängige Personenkontrollen und Durchsuchungen „gut“ oder „schlecht“ sind, weiterentwickelt: Es wurde verstanden, dass Racial Profiling die Legitimität der Polizei untergräbt. Ebenso verbessert hat sich der Einsatz von Technik zum Zweck der Polizeiaufsicht sowie die Ausbildung und interne Aufsichtsverfahren (auch wenn letztere nicht immer eingehalten werden). Zudem zeigte sich der Einfluss der Politik auf die polizeiliche Praxis: Die nachdrückliche Unterstützung der Regierung führte dazu, dass deutlich weniger Personen kontrolliert wurden, während ein Wechsel an der Spitze des Innenministeriums diese Entwicklung wieder rückgängig machte. Dies wirft die immer wieder gestellte Frage auf, ob unabhängige Aufsichtsgremien über Weisungsbefugnisse verfügen sollten oder ob diese aus demokratischen Gründen in den Händen der gewählten Vertreter*innen verbleiben sollten.

Superbeschwerden

Im Jahr 2018 führte die Regierung von England und Wales sogenannte „Superbeschwerden“ gemäß Absatz 25-27 des Policing and Crime Act 2017 ein.[19] Sie schaffen einen neuen Weg des Initiierens thematischer Überprüfungen, der nicht über ein staatliches Aufsichtsgremium organisiert ist, aber gerade deshalb interessant ist. Das Instrument der Superbeschwerden ergänzt die thematischen Untersuchungen des IOPC: Es bietet einen strukturierteren Ansatz, um das Leiden unter Polizei auch losgelöst von konkreten Delikts- oder Einsatzbereichen thematisieren zu können und Beschwerden über Grundsatzfragen zu ermöglichen. Denn Superbeschwerden können kein konkretes polizeiliches (Fehl-)Verhalten zum Gegenstand haben – dieses wird in den üblichen Beschwerden bei der Polizei oder dem IOPC behandelt. Vielmehr sind Superbeschwerden breiter angelegt und konzentrieren sich auf systemische Fragen sowie auf polizeidienststellenübergreifende Praxen.

Bemerkenswert ist, dass die Superbeschwerden zwar von der HMICFRS koordiniert werden, aber leitende Beamt*innen aus HMICFRS, IOPC und dem College of Policing für die Bearbeitung, Analyse und Berichte zuständig sind.[20] Die Empfehlungen, die aus den Superbeschwerden resultieren, richten sich an das Innenministerium, die Präsidiumsleitungen sowie die PCCs, und diese müssen für eine Überprüfung der Umsetzung der Empfehlungen aktualisierte Daten liefern. Anzumerken ist in struktureller Hinsicht noch, dass das Superbeschwerdesystem nicht gänzlich neu ist, sondern bestehenden Kontrollsystemen, etwa der Finanzaufsicht des Finanzministeriums nach Teil vier des Financial Services and Markets Act 2000, nachempfunden wurde.

Inhaltlich zielt das System der Superbeschwerden letztlich nicht zuletzt darauf, der permanenten Untererfassung von Beschwerden über die Polizei entgegenzuwirken. Denn es setzt an der Erkenntnis an, dass sich viele Betroffene mit Aussagen über ihre Schädigung lieber an Betroffenenvertretungen oder ähnliche Instanzen wenden als an die Polizei. Mit den Superbeschwerden sollen Interessenvertretungen in die Lage versetzt werden, ihre Vermutungen über Trends und Muster der Polizeiarbeit, die scheinbar schädigend oder reformbedürftig sind, zu untermauern.[21] Dabei ist, wie Doyle und O‘Brien anmerken, die Organisation, die die Superbeschwerden einreicht, „keine Vertreterin, die ‚für andere spricht‘, sondern eine, die ‚mit anderen spricht‘, um ‚Möglichkeiten des Dialogs zu eröffnen‘, die auf den üblichen ‚justiziellen Wegen‘ nicht offen stehen und negiert werden“.[22] Gemäß Absatz 26 des Policing and Crime Act 2017 können nur ausgewählte Organisationen eine Superbeschwerde einreichen. Diese Organisationen müssen bestimmte Kriterien erfüllen: Z. B. müssen sie bereits über Kompetenzen und Erfahrung in der Vertretung öffentlicher Interessen verfügen, in ihrer Arbeit einen Fokus auf die Verbesserung der Polizeiarbeit legen und dabei mehr als eine polizeiliches Themenfeld behandeln, über Unabhängigkeit und Integrität verfügen sowie in der Lage sein, die Aufgabe als Organisation der Interessenvertretung im Verfahren effektiv durchführen zu können.[23] Seit September 2022 gibt es 16 derartige Organisationen: z. B. die Hilfseinrichtung Action on Elder Abuse, das Centre for Women‘s Justice (CWJ), den Children‘s Commissioner for England sowie die Missing People und Women‘s Aid Federation of England. Die vollständige Liste[24] spiegelt breit gefächerte Themen (z. B. Frauen- und Kinderschutz, Missbrauch älterer Menschen) und umfasst auch ein paar Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen.

Bislang wurden sechs Superbeschwerden erhoben: 1) zu anlassunabhängigen Personenkontrollen und Durchsuchungen, 2) zum sexuellen Missbrauch schwarzer, asiatischer oder anderweitig ethnisch diskriminierter Kinder, 3) zur Weitergabe polizeilicher Daten im Rahmen der Migrationskontrolle, 4) zum polizeilichen Umgang mit häuslicher Gewalt durch Polizeibeamt*innen, 5) zum polizeilichen Umgang mit Menschenhandelsopfern, und 6) zu polizeilichen Schutzmaßnahmen bei Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Einige dieser Themen waren zuvor bereits in Teilen in den Untersuchungen eines oder mehrerer staatlicher Aufsichtsgremien behandelt worden. So wurde etwa im Rahmen der Untersuchung des Umgangs mit Menschenhandelsopfern auch geprüft, ob sich alle Polizeidienststellen an die Empfehlungen eines früheren HMICFRS-Berichts[25] hielten oder nicht und auf bestehende Leitlinien des College of Policing verwiesen.[26]

Ein Bericht zur Superbeschwerde über Gewalt gegen Frauen und Mädchen wurde weithin wahrgenommen.[27] Denn er erschien wenige Monate, nachdem Sarah Everard im März 2021 durch einen diensthabenden Polizeibeamten, der zuvor eine Festnahme vorgetäuscht hatte, vergewaltigt und ermordet worden war. Die 51-seitige Beschwerde war zweieinhalb Jahre zuvor von der superbeschwerdeberechtigten Organisation Centre for Women‘s Justice (CWJ) eingereicht worden und konzentrierte sich auf vier Schutzbefugnisse, die von der Polizei nicht ausreichend genutzt würden.[28] Der Untersuchungsbericht stimmte weitgehend mit der Einschätzung des CWJ überein. Die 15 Empfehlungen des Berichts richteten sich an die Polizeipräsident*innen sowie deren Dachverband, den National Police Chiefs‘ Counsel, das Innenministerium und das Justizministerium (da dieses für die Gerichte zuständig ist). Jede Einrichtung berichtete über die Umsetzung der Empfehlungen.[29] Das CWJ veröffentlichte seine Antwort, in der es die Empfehlungen begrüßte, aber kritisierte, der Bericht würde den Ernst der Lage nicht begreifen und Polizeikräfte nicht auf hinreichende Veränderungen verpflichten.[30] Schließlich wurden sogar Gesetze erlassen, die sich auf die im Bericht angesprochenen Probleme bezogen. Da in der Zwischenzeit Ereignisse wie der Mord an Sarah Everard die öffentliche Debatte dominierten, wäre es jedoch verfehlt, eine direkte Verbindung zwischen Bericht und Gesetzesänderungen zu ziehen.

Um ein Resümee über die Wirksamkeit des Superbeschwerdesystems zu ziehen, ist es zu früh. Noch ist die Zahl der beschwerdeberechtigten Organisationen gering. Unklar ist bis dato, wie viele Superbeschwerden zwar eingereicht, aber abgelehnt wurden. In dreieinhalb Jahren wurde erst sechs Superbeschwerden mittels einer Untersuchung nachgegangen. Alle Superbeschwerden waren zwar Anlass von Gesetzesüberprüfungen oder -änderungen, doch wie das obige Beispiel zeigt, lässt sich nur begrenzt nachvollziehen, welche Veränderungen tatsächlich vorrangig durch die Superbeschwerde ausgelöst wurden. Zudem kritisierte der CWJ hinsichtlich des Missbrauchsberichts den „Elefanten im Raum“,[31] die personellen Unterbesetzung – und dies gilt nicht nur für die Polizei, sondern auch für ihre Aufsichtsgremien.

Dennoch bieten Superbeschwerden der Zivilgesellschaft die Möglichkeit, von Aufsichtsgremien eine Untersuchung zu einem bestimmten Problembereich zu verlangen. Dass die Zivilgesellschaft in Problemdefinition und die Erarbeitung von Lösungsvorschlägen einbezogen wird, ist als positiv zu bewerten. Die beschwerdeberechtigten Organisationen verfügen durch ihre thematische Fokussierung allgemein über mehr Erfahrung und haben mehr Betroffenennähe als die Aufsichtsgremien und nicht-spezialisierte Polizeieinheiten. Sowohl die beschwerdeberechtigte Organisation als auch die Aufsichtsbehörden können eine erhöhte Transparenz der Polizei erwirken. Dabei können Superbeschwerden die bestehenden Aufsichtsmechanismen ergänzen – unabhängig davon, ob die Befugnisse so gefasst sind wie in England/Wales oder weitreichender, wie beim Polizei-Ombudsmann Nordirlands. Superbeschwerden-Berichte beleuchten oftmals untererforschte Bereiche und zeigen so Gesetzgeber*innen, Anwält*innen oder Wissenschaftlicher*innen auf, wo mehr Forschung oder Veränderungen notwendig sind.

Fazit

Auf den ersten Blick scheinen die im Beitrag beschriebenen Instrumente nicht besonders „erfolgreich“ zu sein. Anlassunabhängige Personenkontrollen sind beispielsweise wieder ähnlich breit anwendbar wie zuvor, und ihre praktische Anwendung nimmt stetig zu. Zwar konnten durch die neuen Kontrollinstrumente problematische polizeiliche Praktiken aufgedeckt werden, doch langfristige, positive Veränderungen zu erreichen, erwies sich als deutlich schwieriger. Es ist noch zu früh, um die Superbeschwerden abschließend zu beurteilen. Es scheint absehbar, dass auch in fünf oder zehn Jahren Probleme fortbestehen, etwa bei der polizeilichen Verfolgung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Sicher ist jedoch, dass die Transparenz erhöht wurde und sich Strukturen herauskristallisieren, die einen Dialog zwischen Zivilbevölkerung, Polizei und Aufsichtsgremien ermöglichen können. Noch gilt es herauszufinden, welches Instrument die größte Wirkung entfaltet hat und warum dies so ist. In der Zwischenzeit kann eine intensivere Diskussion, insbesondere auf internationaler Ebene, über Mittel und Methoden der Kontrolle der Polizei durch thematische Überprüfungen zur Verbesserung der Praxis beitragen.

Übersetzung von Hannah Espín Grau, Marie-Theres Piening und Jenny Künkel

[1]   vgl. Raine, J.: Electocracy with accountabilities, in: Lister, S.; Rowe, M. (Eds.): Accountability of Policing, Abingdon 2015, o. S.
[2]   IOPC: IOPC Impact report 2021 – Making a difference, London 2021, S. 1-48
[3]   IOPC announces thematic focus on race discrimination investigations, IOPC News v. 10.7.2020, www.policeconduct.gov.uk/news/iopc-announces-thematic-focus-race-discrimination-investigations
[4]   Home Affairs Committee: Police Conduct and Complaints. 6th Report, London 2022, S. 1-60 (38)
[5]   IOPC 2021 a.a.O. (Fn. 2), S. 26
[6]   Die heutige Gesetzesgrundlage ist der Police Act 1996.
[7]   www.justiceinspectorates.gov.uk/hmicfrs/publication-html/policing-inspection-programme-and-framework-commencing-april-2022
[8]   Zu historisch vergleichbaren Ereignissen siehe z. B. den sogenannten Scarman-Bericht unter dem Titel „Brixton disorders 10-12 April 1981“ (Berichtsnummer im britischen Nationalarchiv Cmnd 8427, 1981).
[9]   Pressemitteilung d. HMIC v. 8.7.2013
[10] Bei Personenkontrollen muss die Polizei der kontrollierten Person ein Formular aushändigen, das grundlegende Einsatzinformationen protokolliert, wie etwa die durchführende Dienststelle und die verwendeten Zwangsmittel.
[11] HMIC: Stop and Search Powers: Are the police using them effectively and fairly?, London 2013, S. 1-64
[12] HMIC-Pressemitteilung v. 8.7.2013
[13] Home Office: Stop and search data summary tables, London 2021, S. 1-19 (1)
[14] So führte etwa die Metropolitan Police London 2016 unter dem Titel „Policy on Stops and Searches“ Regeln für Personenkontrollen ein, die 2020 erneuert wurden.
[15] siehe z. B. www.stop-watch.org/news-opinion/stopwatch-responds-to-hmic-report-on-current-use-of-stop-and-search-powers
[16] Home Office: Beating Crime Plan, London 2021, S. 1-50
[17] Home Office 2021, a.a.O. Fn (13), S. 1
[18] HMICFRS: Disproportionate use of police powers, London 2021, S. 1-44 (5)
[19] vgl. Home Office: Improving police integrity: reforming the police complaints and disciplinary systems, London 2015, S. 1-60
[20] Das Colllege of Policing wurde im Jahr 2012 eingerichtet, um Berufsstandards zu entwickeln und polizeiliches Wissen ebenso wie die Polizeiverhalten zu verbessern, vgl. Home Affairs Committee: College of Policing: Three years on, London 2016/2017, S. 1-39.
[21] Home Office 2015 a.a.O. (Fn. 19)
[22] Doyle, M.; O’Brien, N.: Administrative Justice: A Demosprudential Fabric, in: dies. (Eds.): Reimagining Administrative Justice, 2020, S. 109–130 (123)
[23] vgl. Home Office: Criteria for Designating Bodies in the Police Super-complaints System: Government Response, London 2018, S. 1-17 sowie die Gesetzesgrundlage namens “The Police Super-complaints (Criteria for the making and revocation of designations) Regulation (2018/412)”
[24] www.gov.uk/government/publications/police-super-complaints-designated-bodies/
designated-bodies
[25] HMICFRS: Stolen freedom: the policing response to modern slavery, London 2017, S. 1-105
[26] www.college.police.uk/app/major-investigation-and-public-protection/modern-slavery
[27] HMICFRS: A duty to protect: Police use of protective measures in cases involving violence against women and girls, London 2021, S. 1-98
[28] CWJ: Police failure to use protective measures in cases involving violence against women and girls, London 2019, S.1-51
[29] vgl. Home Office: Response to recommendations from ‘A duty to protect’, London 2022, S. 1-4.; MoJ response to recommendations from ‘A duty to protect’, London 2022, S. 1-2; NPCC: Response to recommendations from ‘A duty to protect’, London 2022, S. 1-15
[30] www.centreforwomensjustice.org.uk/news/2021/8/23/police-super-complaint-report-shines-a-light-on-police-failure-to-protect-domestic-abuse-victims-as-prosecutions-collapse-by-50-in-just-three-years
[31] ebd., o.S.

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