von Michael Sturm und Christoph Ellinghaus
Die Zeiten, da Bundesgrenzschutz und Bereitschaftspolizeien mit schweren Waffen in quasi-militärische Manöver zogen, sind längst vorbei. Polizeiliche Einsätze bei Demonstrationen folgen heute dem Prinzip der „deeskalativen Stärke“.
Spätestens die Erfahrungen mit den Demonstrationen der Studentenbewegung am Ende der 60er Jahre verdeutlichten der Polizei, dass ihre Feindbilder, Einsatztaktiken und Ausrüstungsstandards den Wirklichkeiten der Bundesrepublik nicht gerecht wurden. Sie sah sich nicht mit bewaffneten kommunistischen Umsturzversuchen konfrontiert, die seit den 50er Jahren den Bezugspunkt für Manöver von Bereitschaftspolizeien und Bundesgrenzschutz bildeten, sondern mit zivilen Protesten von Jugendlichen und Studierenden. Sie musste zur Kenntnis nehmen, dass die Öffentlichkeit zunehmend sensibler und kritischer auf ihre Maßnahmen reagierte.
Seit den Notstandsgesetzen von 1968, die den Bundeswehreinsatz im Innern ermöglichten, die Bereitschaftspolizei also von ihrer Rolle als mehr oder weniger offene Bürgerkriegsarmee entlasteten, bahnte sich eine tiefgreifende Reform an. Karabiner, Maschinengewehre und Handgranaten verschwanden aus den polizeilichen Arsenalen. Die Ausrüstung für Demonstrationseinsätze wurde umfassend modifiziert. Helme mit herunter klappbarem Visier, Schilder und Schlagstöcke kennzeichneten von nun an die individuelle Ausrüstung der Beamten. Neue Einsatzfahrzeuge und Hubschrauber sorgten für Mobilität, gepanzerte Fahrzeuge, Hochdruckwasserwerfer und Tränengas für Distanz und Abschreckung. Mit einer Grundgesetzänderung von 1972 wurde auch der Bundesgrenzschutz (BGS) als Einsatzreserve des Bundes verfügbar und half seitdem bei der „politischen Erziehung“ der neuen Protestgenerationen. Insgesamt war die Polizei zwar entmilitarisiert worden. Das Auftreten martialisch anmutender Polizeieinheiten rief jedoch bei vielen DemonstrationsteilnehmerInnen weiterhin Bedrohungsängste und Assoziationen an Bürgerkriegssituationen hervor.
Vom Brokdorf-Urteil zur Startbahn West
Mit den Reformen seit 1968 war die Entwicklung polizeilicher Einsatzstrategien aber nicht abgeschlossen. Entscheidend für das heutige Auftreten der Polizei bei Protestereignissen waren die Jahre 1985 bis 1988. Ausgelöst durch das Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 1985 vollzog sich in Fachzeitschriften und an der Polizeiführungsakademie eine intensive Debatte über polizeiliche Leitbilder und Einsatzphilosophien.[1] Das Gericht hatte die Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit hervor gehoben. Das Verhalten der Polizei müsse grundsätzlich demonstrationsfreundlich und deeskalierend sein (Deeskalationsgebot); Einsatzleitung und Demonstrationsanmelder sollen sich kooperativ verhalten (Kooperationsgebot). Lägen keine Störungen vor, könne eine vollständige Rücknahme der Polizei erwogen werden. Die Anwesenheit von „Störern“ sei nur in bedingtem Maße ein Rechtfertigungsgrund für polizeiliche Maßnahmen gegen alle Demonstrierenden. Aufgabe der Polizei müsse es vielmehr sein, „Störer“ gezielt zu isolieren und gegebenenfalls festzunehmen. Die Forderung nach gezieltem Einschreiten stellte neue und hohe Anforderungen an Polizeitaktik, Ausbildung und Ausrüstung.
Mindestens genauso entscheidend für die Entwicklung der polizeilichen Strategien war die neue Welle von Massenprotesten ab 1986. Rund um die Baustellen für das AKW Brokdorf und die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf kam es zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Die Polizei reagierte mit äußerst unflexiblen Einsatzstrategien, wie z.B. dem flächendeckenden Einsatz von CS-Gas. Eine Isolierung von „Störern“, wie sie das BVerfG gefordert hatte, erschien unter diesen Umständen unwahrscheinlicher denn je. Die enorme Zahl der Festnahmen kontrastierte mit einer vergleichsweise geringen Zahl von Verurteilungen. Die Polizei tat sich augenscheinlich schwer, „beweissichere Festnahmen“ vorzunehmen.
Nachdem am 2.11.1987 bei Auseinandersetzungen an der Startbahn West des Frankfurter Flughafens zwei Polizisten durch Schüsse aus den Reihen der DemonstrantInnen getötet worden waren, schien die vom BVerfG intendierte Liberalisierung in weite Ferne gerückt. Die neuen Einsatzphilosophien sollten dem Prinzip der „deeskalativen Stärke“ folgen – ein Begriff, den Martin Winter definiert als „strategisch-taktische Priorität der Polizei, die Demonstration unter Kontrolle zu halten, für alle Eventualitäten der komplexen Situation ‚Demonstration‘ gewappnet zu sein und Straftäter beweissicher festzunehmen.“[2]
Flexibilität, Offensivität und Professionalität sollen die Einsatztaktiken auszeichnen. Flexibilität heißt dabei, dass die Leitung und Durchführung von Einsätzen dem Handeln des polizeilichen Gegenübers anzupassen sei. Taktisches Ziel bleibt die Kontrolle des „Gegners“ und der Situation. Die Polizei soll bei Demonstrationen nicht reagieren, sondern agieren. Der Rechtsstaat soll nach vorwärts verteidigt werden. „Störer“ seien offensiv abzuschrecken. Die jeweiligen Einsätze sollen präzise vorbereitet werden. Von den Polizeiführern wird Einfühlungsvermögen verlangt, sie haben die polizeilichen Ziele möglichst konsequent umzusetzen.[3] Der gesamte Einsatz sei in ein „integrales Gesamtkonzept“ einzubetten.[4]
Public relations und Konfliktmanagement
Wichtiger Bestandteil dieses Konzeptes ist die einsatzbegleitende Öffentlichkeitsarbeit. Die Polizei zeigt damit, dass sie verstärkt Wert auf ihr Erscheinungsbild in der öffentlichen Meinung legt. Den Medien und der Bevölkerung sollen dabei nicht nur die Polizeiarbeit als besonders gut, sondern auch die „Störer“ als besonders schlecht dargestellt werden. Die Methoden reichen von der üblichen Pressekonferenz über Demo-Flugis und den Einsatz von KommunikationsbeamtInnen für Presse und DemonstrationsteilnehmerInnen bis hin zu umfangreichen Konzepten.
So richtete die Polizei vor dem Castor-Transport nach Gorleben im März 2001 einen integrierten Aufgabenbereich „einsatzbegleitende Öffentlichkeitsarbeit und Konfliktmanagement (ÖA/KM)“ ein. Weit im Vorfeld der Proteste wurde für die Akzeptanz der polizeilichen Maßnahmen geworben. Ca. 130 eigens abgestellte Beamte versuchten vor und während des Transportes allen Handlungen, die den Transport erschweren könnten, das öffentliche Verständnis zu entziehen. Mit dem Motto „Wir können auch anders“ sollte andererseits bei jedem Einsatz glaubhaft gemacht werden, dass die Polizei durchaus Verständnis für „friedlichen“ Protest habe.[5] Vom zeitlichen und personellen Aufwand her ging das Konzept des „Konfliktmanagements“ weit über den seit den 80er Jahren praktizierten Einsatz von KommunikationsbeamtInnen hinaus. Hier ging es nicht nur um „Deeskalation“. Vielmehr betrat die Polizei das Feld der öffentlichen Auseinandersetzung, von dem sich die Politik längst verabschiedet hatte.
Gezielte Gewalt
Zum Programm der „deeskalativen Stärke“ gehört nicht nur der kommunikative Einsatz, sondern auch die massive Gewaltausübung durch spezielle Festnahmeeinheiten. Ihr Auftrag besteht darin, gezielt gegen „gewalttätige Störer“ vorzugehen, sie zu isolieren und „beweissicher“ festzunehmen, ohne dabei friedliche DemonstrantInnen in Mitleidenschaft zu ziehen. Letzteres wird dabei als Beitrag zur Deeskalation verstanden. Der Aufbau dieser Einheiten ist dem der Sondereinsatzkommandos (SEKs) ähnlich. Sie agieren meist in Fünfer-Trupps und sind in der Regel mit Schlagschutz- bzw. kugelsicheren Westen und Tonfa-Schlagstöcken ausgerüstet.[6]
Zwar gab es Greiftrupps bereits in den 50er Jahren. Auch kamen seit den 70ern wiederholt Spezialeinsatzkommandos bei Demonstrationen zum Einsatz. Die systematische Aufstellung spezieller Festnahmeeinheiten setzte aber erst Mitte der 80er Jahre ein. Den Anfang machten 1987 Berlin mit der inzwischen aufgelösten „Einsatzbereitschaft für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training“ (EbLT) und Bayern mit seinen „Unterstützungskommandos“ (USK). Mittlerweile sind fast alle Länder der Empfehlung der Innenministerkonferenz von 1995 zum Aufbau von „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten“ (BFE) gefolgt. 1997 arbeiteten über 2.120 BeamtInnen der Bereitschaftspolizeien in solchen Gruppen.[7] Hinzu kommen die „Zugriffseinheiten“ (ZE) des BGS.
EbLT und USK
Ein Blick auf Geschichte und Praxis dieser Einheiten zeigt jedoch, dass von einer Verschonung friedlicher DemonstrantInnen oder gar von deeskalierender Wirkung ihrer Einsätze keineswegs die Rede sein kann. In den zwei Jahren ihres Bestehens – vom Aufbau unter dem CDU-Innensenator Wilhelm Kewenig nach dem 1. Mai 1987 bis zur Auflösung durch die Rot-Grüne Koalition 1989 – zeichnete sich die Berliner EbLT durch eine beispiellose Kette von Brutalitäten aus. Nach äußerst harten Einsätzen während des Reagan-Besuchs im Juni 1987, erlangte vor allem ihr Auftreten in Wackersdorf am 9./10. Oktober 1987 traurige Berühmtheit. „Beweissichere Festnahmen“ gab es zwar nicht, dafür wurden jedoch zahlreiche Personen durch Knüppelschläge zum Teil schwer verletzt. Am 1. Mai 1988 schaffte es die Truppe sogar, in Berlin-Kreuzberg drei höhere Polizeiführer zu verprügeln.[8]
Spätestens seit dem von CSU-Politikern gefeierten Auftritt der EbLT in Wackersdorf hegte man auch in Bayern Pläne für den Aufbau neuer auf Demonstrationseinsätze spezialisierter Sondereinheiten. Am 5. November 1987, drei Tage nach den tödlichen Schüssen an der Startbahn West, gab der damalige Innenstaatssekretär Peter Gauweiler (CSU) deren Aufstellung bekannt. Am 3. Februar 1988 konnte Gauweiler schließlich „seine“ Unterstützungskommandos der Öffentlichkeit präsentieren. Die Einsatzphilosophie – so damals Ministerialdirigent Hermann Häring – lautete: „Vom statischen Modell weg, hin zum offensiven aggressiven Vorgehen.“[9] Bereits die Vorstellung der Sondereinheit auf dem BGS-Flugplatz in Oberschleißheim sollte diese Einsatzphilosophie verdeutlichen. Am Tag darauf vermerkte die Münchner Abendzeitung: „Sie zeigen, was ihnen beigebracht wurde: der Boxhieb gegen die Kehle. Der Stoß in die Weichteile, der Stiefeltritt ins Gesicht.“
1988 verfügte die Einheit über 619 Beamte (nur Männer). Heute sind es noch ca. 450, die entweder der Bereitschaftspolizei oder einzelnen Polizeipräsidien (München, Mittelfranken) unterstellt sind. Das USK setzt sich ausschließlich aus Freiwilligen zusammen, an die „besondere Anforderungen hinsichtlich Einsatzbereitschaft, charakterlicher Festigkeit, Besonnen- und Entschlossenheit, körperlicher Fitness und Sportbegeisterung, Kampfsporterfahrung, Stressresistenz sowie Mut und Risikobereitschaft“ gestellt werden. Nach einem Eignungstest absolvieren sie einen sechsmonatigen Einführungslehrgang, mit schwerpunktmäßig folgenden Inhalten: Zugriffs- und Beweissicherungstechnik, Aufbereitung taktischer Einsatzkonzeptionen und „Störertaktiken“, Kampfsportausbildung und Umgang mit Tonfa-Schlagstöcken.[10]
USK-Einheiten werden uniformiert oder in Zivil bei Einsätzen gegen „Gewaltkriminalität“ hinzugezogen – bei Fußballspielen, Drogenrazzien oder politischen Demonstrationen. Trotz des immer wieder hervorgehobenen Saubermann-Images („charakterliche Festigkeit“) haben sich die USK allzu oft als „blindwütige Kampfmaschinen“ erwiesen. So zogen ihre Einsätze während des Weltwirtschaftsgipfels 1992 in München weltweite Beachtung auf sich. Gegen Demonstranten, die die Eröffnungszeremonie mit Trillerpfeifen gestört hatten, wurde nach „bayrischer Art“ durchgegriffen.
Betroffenenberichte sprechen für sich: „Einige Meter vor der Kreuzung … sammeln sich … mehrere USK-Beamte an, die sogleich grundlos mit Schlagstöcken in die Demonstration hineinprügeln, innerhalb kürzester Zeit haben sich die USK-Beamten bis zu mir … durchgeschlagen. Zwei Polizisten reißen mich und den Mann neben mir … zu Boden. Nach mehreren Schlägen mit dem Knüppel auf meinen Arm zerren mich die beiden Beamten zur linken Straßenseite an die Hauswand. … Jetzt werde ich mit dem Gesicht voran auf den Boden geworfen. Ein USK-Beamter tritt mit dem Fuß meinen Kopf auf den Gehsteig. Zwei weitere knüppeln währenddessen auf meinen Rücken. … Ein Beamter steigt mit seinem vollen Gewicht auf meine Wirbelsäule.“[11]
„Cop Culture“ – Die Bedeutung polizeilicher Subkulturen
Rafael Behr hat in seiner Studie über den „Alltag des Gewaltmonopols“ auf die Formen und die Bedeutung polizeilicher Subkulturen hingewiesen, die sich aus den Erwartungen und Anforderungen des täglichen Dienstes entwickeln und parallel, aber bisweilen in einem durchaus widersprüchlichen Verhältnis zu den offiziellen Leitbildern der Institution Polizei existieren.[12] Besonders deutlich sind diese Wechselwirkungen zwischen offizieller Polizeikultur und subkultureller „Cop Culture“ bei den USK und anderen Festnahme-Einheiten zu sehen. Sie wurden als Eliteeinheiten konzipiert und mit den gängigen Insignien von Eliteeinheiten ausgestattet: besondere Uniformen (Overalls), Abzeichen (beim USK der Greif) und eine besondere Bewaffnung – Tonfa-Schlagstöcke, die spezielles Training und Fertigkeiten erfordern. Die Schaffung eines Elitebewusstseins unter den Angehörigen der BFEs ist also von der Polizeiführung durchaus intendiert. Welche Ausdrucksformen dieses Elitebewusstsein annimmt, welche Handlungsmuster konkret daraus resultieren, ist dem offiziellen Einfluss jedoch oftmals entzogen. Im Zentrum der Erwartungshaltungen, die zahlreiche BFE-Beamte vor oder während ihrer Einsätze entwickeln, steht der Wunsch, sich in der (gewaltsamen) Konfrontation zu bewähren. Diese kriegerische Männlichkeit verlangt nach Eindeutigkeiten; kommunikativen Maßnahmen wird dagegen untergeordnete Bedeutung beigemessen. Bisweilen begegnen die Beamten, ihren Konfliktmanagement-KollegInnen mit offener Feindseligkeit. Wurden die Kommunikations-Polizisten Ende der 60er Jahre aus den eigenen Reihen als „Kommunisten“, „Kapitulationsgruppe“ oder „Drückeberger“ beschimpft, gelten ihre NachfolgerInnen heute als „Weicheier“, „Warmduscher“ und „Schattenparker“.[13]
Fazit
Der Umgang der Polizei mit Protestereignissen hat sich im Laufe der letzten 30 Jahre zunehmend professionalisiert. In der Aus- und Weiterbildung nimmt die Einsatzlage „Demonstration“ einen verhältnismäßig großen Raum ein. Für die polizeiliche Bewältigung unterschiedlichster demonstrativer Situationen steht der Polizei ein differenziertes Angebot an Ausrüstung, speziellen Einheiten und Taktiken zur Verfügung. Die Polizei ist bereit und in der Lage, aus gesellschaftlichen Konflikten zu lernen und ihre Vorgehensweisen weiter zu entwickeln.
Überblickt man die Anwendung polizeilicher Gewalt im Protestgeschehen der letzten 30 Jahre, so kann von einer „Zivilisierung“ jedoch nur in sehr eingeschränktem Maße gesprochen werden. Zwar gehören seit Anfang der 70er Jahre schwere Waffen nicht mehr zu den Ausrüstungsgegenständen geschlossener Polizeiverbände, zugleich ist auch die Bedeutung kommunikativer Maßnahmen gestiegen. Dennoch haben sich Formen und Härte des „Zuschlagens“ im Moment der direkten Konfrontation zwischen Polizei und DemonstrantInnen kaum verändert. Trotz aller strukturellen, technischen und taktischen Neuerungen im Laufe der letzten Jahrzehnte: Polizeiliche Macht wird weiterhin durch „Handarbeit“ der PolizistInnen vor Ort hergestellt und reproduziert. Das Droh- und Gewaltpotential, das die Polizei nicht zuletzt durch ihre Spezialeinheiten repräsentiert, hat sich weder faktisch noch in der Wahrnehmung des Publikums verringert. Deren martialisches Auftreten kann auch weiterhin existentielle Bedrohungsängste auslösen. Ob und in welcher Weise dieses Gewaltpotential tatsächlich zum Einsatz kommt, ist allerdings kaum vorherzusagen.