von Wolfgang Kaleck
Der bis heute wegweisende Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 14.5.1985 liest sich vielversprechend.[1] Die Demonstrationsfreiheit sei ein „unentbehrliches Funktionselement eines demokratischen Gemeinwesens“. Was ist aus den Versprechungen geworden?
Gemäß dem Beschluss sind die staatlichen Behörden gehalten, „versammlungsfreundlich zu verfahren“. Demnach seien bei Verletzung der Anmeldepflicht Spontandemonstrationen, die sich aus aktuellem Anlass augenblicklich bilden, nicht schematisch zu verbieten oder aufzulösen. Verbote und Auflösungen sollen nur „zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen“. Wenn einzelne Teilnehmer oder eine Minderheit unfriedlich werden, dürften nicht ganze Demonstrationen den Schutz der Versammlungsfreiheit verlieren.
Geschickte Versammlungsleiter und Verhandlungsführer der Demonstranten erreichen heute öfters als zuvor die Anerkennung einer Spontandemonstration. Zumindest verbal akzeptieren Versammlungsbehörden und Gerichte, dass die Veranstalter Zeit und Ort der Demonstration selbst bestimmen können und dass dabei die inhaltliche Verknüpfung von Demonstrationsort und Gegenstand von besonderer Bedeutung ist. Nach Maßgabe des BVerfG-Beschlusses kommt es nunmehr regelmäßig zu Gesprächen zwischen Polizei und Veranstaltern. Die Polizei stellt Kontaktbeamte für die Demonstration ab. Allerdings dient diese Verfahrensweise nicht unbedingt nur der besseren Durchsetzung der Versammlungsfreiheit. Vielmehr gelangt die Polizei dadurch an Informationen und Einschätzungen über Demonstration, Veranstalter- und TeilnehmerInnen, die sie sonst nur mühsam gewinnen kann. Die Gespräche haben zudem einen Geschmack von repressiver Toleranz. Bei Konflikten während der Demonstrationen, bei drohendem Einschreiten oder Auflösung durch die Polizei sind die Einsatzleiter dann für besorgte Versammlungsleiter schwer zu erreichen, geschweige denn zu beeinflussen. Der wohlgesetzte Ton beim Vorbereitungsgespräch muss dem Befehlston der autoritär auftretenden Staatsmacht weichen.
Demonstrationsfreie Zonen
Die Realität von Demonstrationen sah schon in den 80er Jahren betrüblicher aus, als es der BVerfG-Beschluss erhoffen ließ. In den letzten Jahren versuchten nun Polizei und Innenpolitiker, größere friedliche und phantasievolle Aktionen durch neue Instrumente zu verhindern. Neben dem hergebrachten Mittel des Demonstrationsverbotes wurden demonstrationsfreie Zonen und Zeiträume dekretiert. Vielen einzelnen DemonstrantInnen wurde es durch neue polizeiliche Vorgehensweisen unmöglich gemacht, zu demonstrieren.
Prototyp hierfür ist sicherlich das Vorgehen der niedersächsischen Polizei gegen die Anti-Castor-Proteste im Wendland. Hier wurde regelmäßig per Allgemeinverfügung das Demonstrieren in einem ganzen Landkreis für einen bestimmten Zeitraum verboten. Erschreckend ist, dass die Gerichte bis hin zum BVerfG das polizeiliche Vorgehen stets rechtfertigten. Im Wendland gelang es der Polizei aufgrund der langen Widerstandstradition – auch eines Großteils der ortsansässigen Bevölkerung – jedoch nicht, Demonstrationen zu verhindern.
Das Vorgehen der bayrischen Polizei ist ungleich effektiver. Während der Münchner Sicherheitskonferenz vom 1.-3.2.2002 verbot das Münchner Kreisverwaltungsreferat – wohl auf Anweisung des bayrischen Innenministeriums – jede Demonstration in der Innenstadt. Der Polizeipräsident begründete die Verbotsverfügungen mit Verfassungsschutzerkenntnissen: „Nach vorsichtiger Schätzung“ seien „2.500-3.000 gewaltbereite autonome Kräfte“ zu erwarten. Von den Anmeldern sei „jegliche klare Distanzierung von Gewalt“ ausgeblieben.
Dementsprechend ging die Polizei gegen Proteste vor: Im Vorfeld wurde ein Infoladen durchsucht, verdachtsunabhängige Kontrollen sollten anreisende DemonstrantInnen abschrecken. An den Grenzen zur Schweiz und zu Österreich wurden potenzielle DemonstrantInnen abgewiesen. Zahlreichen Personen wurde selbst die Teilnahme an nicht verbotenen Saalveranstaltungen untersagt. Jegliche Demonstration wurde schon im Ansatz unmöglich gemacht, insbesondere durch Ingewahrsamnahme von – laut Ermittlungsausschuss – ca. 850 Personen.[2] Erst vor wenigen Tagen erließ das Kreisverwaltungsreferat Bußgeldbescheide gegen verhaftete Personen. Die Münchner Vorgänge sind noch gerichtlich anhängig. Klagen richten sich sowohl gegen die Ingewahrsamnahmen als auch gegen einzelne besonders fragwürdige Polizeiaktionen wie Einkesselungen und die Versammlungsverbote selbst.
Die bayrischen Behörden differenzierten in keiner Weise zwischen „friedlichen“ und „unfriedlichen“ DemonstrantInnen, um gemäß der Vorgabe des Brokdorf-Beschlusses die Großdemonstrationen und damit eine Ausübung des Demonstrationsrechtes möglich zu machen. Eine zweifelhafte Gefahrenprognose bemühte vor allem gewalttätige Auseinandersetzungen bei Gipfelereignissen im Jahre 2001, ohne zwischen Ursache und Wirkung, zwischen staatlicher Gewalt – gerade im Falle Genua – und Reaktionen der DemonstrantInnen sowie zwischen den verschiedenen Spektren der GlobalisierungskritikerInnen zu differenzieren. Das Versammlungsrecht war insgesamt für alle während der Tage der Münchner Konferenz außer Kraft gesetzt.[3]
Etwas zielgerichteter geht die Berliner Polizei vor. Anlässlich des Besuches des chinesischen Staatspräsidenten Jiang Zemin im April 2002 wurde der chinesischen Opposition, namentlich der Falun Gong, zwar erlaubt zu demonstrieren. Die Polizei achtete jedoch darauf, dass der Staatspräsident im Umfeld des in der Berliner Innenstadt gelegenen Hotels Adlon den Protest weder sehen noch hören musste. In Sichtweite des Hotels wurden durch nachträgliche mündliche Auflagen auffällige gelbe T-Shirts und Transparente trotz erlaubter Proteste von der Polizei verboten. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Staatsgast solche T-Shirts nicht sehen möchte. Chinesische und deutsche Sicherheitsbeamten arbeiteten im Hotel Adlon Hand in Hand und verwiesen potentielle Oppositionelle teilweise gewaltsam des Hotels, obwohl sie dort ordnungsgemäß gebucht hatten und bis zu diesem Zeitpunkt nicht aufgefallen waren. Gerichtliche Verfahren sind hierzu noch nicht anhängig.
Während des Staatsbesuches des US-Präsidenten Bush am 22. und 23. Mai 2002 in Berlin wurde dann „aufgrund der immensen Gefährdung des Staatsgastes“ ein sogenannter Sicherheitsbereich eingerichtet. Dieser erfasste erneut den zentralen Berliner Innenstadtbereich um das Brandenburger Tor und den Reichstag. Nur Sicherheitskräfte und AnwohnerInnen sollten hier Zutritt erhalten. Eine zunächst vor dem Ostportal des Reichstagsgebäudes und später an der Straße des 17. Juni angemeldete Demonstration von 50 bis 100 Personen verbot das Referat „Ordnungsbehördlicher Staatsschutz“ mit der Begründung, der Präsident sei „einer der gefährdetsten Staatsmänner der Welt, wenn nicht sogar der gefährdetste Staatsmann überhaupt“. Für die Sicherheitsbehörden bedeute dies, „dass bei seinem Auftreten jederzeit mit Anschlägen auf seine Person, sei es durch Heckenschützen, Bombenexplosionen oder durch Selbstmordattentate zu rechnen ist“. Daher stehe der Sicherheitsbereich für Versammlungen unter freiem Himmel „während der Dauer des Staatsbesuches de facto nicht zur Verfügung“.
Das angerufene Verwaltungsgericht (VG) Berlin hielt zwar ausdrücklich fest, dass von der Veranstaltung „selbst offensichtlich keine Gefährdung des amerikanischen Präsidenten ausgeht“. Aber: „Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass es für etwaige Gewalttäter, die sich unter die Teilnehmer der Versammlung oder einer Ansammlung interessierter Passanten mischen könnten, im Schutze einer unübersichtlichen Menschenmenge sehr viel leichter wäre, Anschläge zu verüben.“ Das Oberverwaltungsgericht (OVG) bestätigte das Verbot. Es sei „nicht auszuschließen, dass sich potenzielle Attentäter unerkannt entweder unter die Versammlungsteilnehmer selbst oder aber unter eine Ansammlung an der Kundgebung interessierter Passanten begeben, um von dort aus zu agieren.“[4] Mit diesem Argument kann jede Demonstration zu jeder Zeit und an jedem Ort unmöglich gemacht werden. Auf die Darlegung einer konkreten Gefahr, die von der Versammlung ausgehen könnte, wurde verzichtet. Es reichte eine abstrakte Gefährdungslage, die weder von der Polizei noch von den Gerichten näher dargestellt wurde.
Schon beim Verbot einer antifaschistischen Demonstration in Berlin-Hohenschönhausen hatten Versammlungsbehörde und Gerichte juristische Phantasie bewiesen.[5] Obwohl eine bezirkliche Initiative Monate vor dem 1. Mai vorausschauend eine antifaschistische Kundgebung angemeldet hatte und damit das Erstanmelderprinzip hätte zum Tragen kommen müssen, wurde die Demonstration untersagt. Die Begründung zitierte Aufrufe der Antifaschistischen Aktion Berlin („Naziaufmarsch verhindern“), die sich allgemein auf einen angekündigten NPD-Aufmarsch am 1. Mai in Berlin bezogen. Gewalttätige Auseinandersetzungen seien zu befürchten, so die Versammlungsbehörde und ihr folgend die Verwaltungsgerichte. Deshalb sollte die NPD ungestört von örtlichem Protest durch Hohenschönhausen marschieren dürfen. Die Polizei bewies dann am 1. Mai mehr Flexibilität. Wie im Vorjahr ließ sie den Protest unmittelbar am Rand der NPD-Demonstration zu. Größere Auseinandersetzungen gab es nicht.[6]
Kurzes Fazit
Schon das „Vermummungsverbot“ ermöglicht es Polizeieinsatzleitern, wegen einzelner Palästinensertücher mit Polizeitrupps in Demonstrationen zu stoßen, Ausschreitungen zu provozieren, größere Gruppen von Menschen festnehmen zu lassen und so Erscheinungsbild und Wirkung von Demonstrationen zu stören. Die Teilnahme an bestimmten Demonstrationen war ohnehin immer ein Risiko, körperlichen Schaden zu erleiden, kurzfristig festgenommen oder strafrechtlich verfolgt zu werden. Wenn neuerdings Ordnungsbehörden und Verwaltungsgerichte vom Erfordernis einer konkreten von der Versammlung ausgehenden Gefahr absehen und sich mit allgemeinen Gefährdungsanalysen begnügen, bleibt es der Polizei überlassen, Versammlungen ganz oder teilweise stattfinden oder durch Auflagen ins Leere laufen zu lassen. Die Demonstrationsfreiheit steht damit mehr denn je unter Polizeivorbehalt.