Rechtsstaatlich geregelte Folter? Der Fall Daschner und die politische Falle

von Heiner Busch

Wenn er den Aufenthaltsort des entführten Jakob von Metzler nicht preisgebe, würden ihm Schmerzen zugefügt, die er noch nie erlebt habe. Auf Geheiß des Polizeivizepräsidenten drohten Frankfurter Kriminalbeamte im Oktober 2002 dem Entführer mit Folter. Seitdem der Fall im Februar bekannt wurde, diskutiert die deutsche Öffentlichkeit über die Grenzen des Folterverbots und begibt sich damit in eine Falle.

„Eigentlich kann es nur noch um das Strafmaß gehen. Der mutmaßliche Haupttäter hat zwar öffentlich gestanden, zeigt aber nicht einmal den Ansatz eines Unrechtsbewusstseins. In einer solchen Situation ist es üblich, dass die Gerichte schon allein aus Gründen der Spezialprävention den Strafrahmen ausschöpfen …“ So würden die Kommentare lauten, wenn man den Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner dabei erwischt hätte, wie er ein Kilo Kokain durch den Zoll zu schmuggeln versuchte. Die Mindeststrafe dafür liegt bei zwei Jahren Gefängnis (§ 30 Betäubungsmittelgesetz): keine Chance auf Bewährung.

So würden die Kommentare auch lauten, wenn die PolitikerInnen, die JuristInnen und nicht zuletzt die deutsche Öffentlichkeit beim Folterverbot und der vom realen Polizeivizepräsident Daschner tatsächlich begangenen Straftat genau so prinzipienfest wären, wie sie das im Falle des hypothetischen Drogenkuriers Daschner sind. Der Text der gesetzlichen und in internationalen Verträgen festgehaltenen Normen ist jedenfalls eindeutig: Aussageerpressung (§ 343 Strafgesetzbuch – StGB), d.h. die Androhung und Anwendung körperlicher Gewalt oder seelischer Qualen durch einen „Amtsträger“ mit dem Ziel, eine Person zur Aussage in einem Verfahren zu nötigen, ist ein Verbrechen. Es wird mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet, was dem Täter anders als bei der Einfuhr illegaler Drogen eine Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe ermöglicht. Die Folter und andere Formen der Vernehmung, die den Willen einer Person brechen, sind durch § 136a der Strafprozessordnung verboten. Das Verbot gilt ebenso für die Vernehmung von auskunftspflichtigen Personen im Polizeirecht (§ 12 Abs. 4 Hessisches Sicherheits- und Ordnungsgesetz). Es ist in der Anti-Folter-Konvention der UNO sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert und geht klar aus Art. 1 des Grundgesetzes hervor, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt. Es gibt hier keine Ausnahme. Der Fall Daschner ist gelöst und bedarf keiner weiteren Erörterung.

„Menschliches Verständnis“

Erörtert werden muss vielmehr, dass die Öffentlichkeit prompt in die von Daschner & Co. gestellte politische Falle getreten ist. Die Konstruktionsprinzipien dieser Falle sind: 1. Harmlosigkeit der Folter: Für den Betroffenen hätte es keine körperlichen Folgen gegeben; 2. Gewissenskonflikt und legitimer Zweck der Folter: Es sei darum gegangen, ein unschuldiges Leben zu retten: das des entführten Elfjährigen, von dem man annahm, dass er noch lebe. Man habe keine Wahl gehabt; 3. Es habe sich um eine entschuldbare Ausnahmesituation gehandelt, für die gegebenenfalls eine rechtliche Grundlage zu schaffen wäre.

In Interviews bemühte sich Daschner erfolgreich, das Image des brutalen Folterers abzuwimmeln. Schläge und Verletzungen hätte er nicht akzeptiert, sondern nur „einfache körperliche Einwirkung, z.B. durch Überdehnen des Handgelenks … Es gibt am Ohr bestimmte Stellen … wo man draufdrückt … und es tut sehr weh, ohne dass irgendeine Verletzung entsteht.“ Durchgeführt hätte die Folter kein „Folterspezialist“, sondern ein Polizeibeamter „mit Übungslizenz des Deutschen Sportbundes … unter Beteiligung eines Polizeiarztes … um zu verhindern, dass Verletzungen entstehen.“[1] Was die Folgenlosigkeit für das Opfer unterstreichen soll, ist aber nichts anderes als eine Beschreibung moderner Foltermethoden, die gerade weil sie nicht sichtbar sind, auch der Öffentlichkeit in einem „Rechtsstaat“ verkauft werden können. Die Medien haben Daschner großenteils den „Gewissenskonflikt“ geglaubt, obwohl er bei den Vernehmungen nicht anwesend war und seine Entscheidung nach planvoller Überlegung am Schreibtisch traf. „Die Wirklichkeit“, so verkündet selbst die taz, „hat die hohe Moral eingeholt … Die Androhung eines Schmerzes … mag da durchaus als das kleinere Übel erscheinen.“[2]

Hessens Innenminister Volker Bouffier und sein Ministerpräsident Roland Koch bekundeten „menschliches Verständnis“, von Disziplinarmaßnahmen wurde abgesehen. PolitikerInnen der etablierten Parteien – vom CSU-Rechtsexperten Norbert Geis bis zur Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) -, Standesvertreter wie Geert Mackenrodt vom Richterbund oder Holger Bernsee vom Bund Deutscher Kriminalbeamter hielten Daschners Verhalten für entschuldigt. Die einzige Frage schien zu sein, ob – so Zypries – in diesem Falle die Figur des „rechtfertigenden Notstands“ (§ 34 StGB) ausreiche oder ob – so Geis – der Polizei darüber hinaus „weitgehende Befugnisse für lebensbedrohende Situationen“ eingeräumt werden sollten, um „den Täter zwingen zu können, Informationen zu geben, die unmittelbar helfen.“[3]

Folter als Befugnis zur Gefahrenabwehr?

Daschner selbst hat den Begriff der Folter für die von ihm geplante zielgerichtete Zufügung von Schmerz abgelehnt, weil es sich nicht um eine strafprozessuale Vernehmung gehandelt habe. „Meine ausdrückliche Weisung war: … Keine Fragen nach Täterschaft, Teilnahme und so weiter. Die einzige Frage, die gestellt werden musste und gestellt werden durfte, lautete: Wo ist das Kind?“[4] Damit habe man sich im Bereich der Gefahrenabwehr bewegt – aber auch hier gilt nach dem hessischen Polizeigesetz das Verbot einer Aussageerpressung. Dass die Gesetze eindeutig sind und keine „Formulierungslücke“ vorliegt, weiß auch der Heidelberger Rechtsphilosoph Winfried Brugger, bei dem sich Daschner seine Argumentation abgeschaut hat. Bereits seit 1996 fordert Brugger offen anhand des konstruierten Beispiels eines geplanten terroristischen Anschlages die Relativierung des Folterverbotes.[5]

Nicht zufällig orientiert er sich dabei an der Regelung des Todesschusses als „finalem Rettungsschuss“. Bis zum ersten Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes 1974 war es unvorstellbar, dass eine angeordnete Erschießung eines Menschen rechtlich geregelt werden könnte. Heute enthält die Mehrzahl der Landespolizeigesetze diese Befugnis. Nach demselben Muster gibt Brugger auch schon die Tatbestandsmerkmale für eine rechtliche Relativierung des Folterverbots vor.

„Es liegt (1) eine klare, (2) unmittelbare, (3) erhebliche Gefahr für (4) das Leben und die körperliche Integrität einer unschuldigen Person vor. (5) Die Gefahr ist durch einen identifizierbaren Störer verursacht. (6) Der Störer ist die einzige Person, die die Gefahr beseitigen kann, indem er sich in die Grenzen des Rechts zurückbewegt, also das Versteck der Bombe verrät. (7) Dazu ist er auch verpflichtet. (8) Die Anwendung körperlichen Zwangs ist das einzig Erfolg versprechende Mittel zur Informationserlangung.“[6]

Absatz 1 eines neuen Polizeirechtsparagrafen ist damit schon fast formuliert. In den Absätzen danach müssten dann die Anordnungsbefugnisse – durch den Behördenleiter, den Staatsanwalt oder einen Richter -, die Durchführung der Folter durch qualifiziertes Personal, die Beaufsichtigung durch einen Arzt und die Pflicht zur Niederschrift in einer nur der Polizei und der Staatsanwaltschaft zugänglichen Akte folgen – ganz so, wie es Daschner praktisch vorgeführt hat. Das wäre dann exakt die Form, in der in den vergangenen Jahrzehnten „erhebliche“ polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse in wichtige Grundrechte normiert wurden: eine rechtsstaatlich geregelte Folter mit Verhältnismäßigkeitsprinzip und exakten Verfahrensvorschriften.[7]

Polizeigewalt

Die seit dem Fall Daschner so heftig geführte Diskussion verdeckt, dass es auf deutschen Polizeirevieren immer wieder Fälle von Gewalt und auch von Aussageerpressung gegeben hat. Unter dem Verdacht des illegalen Zigarettenhandels festgenommene vietnamesische Staatsbürger waren 1993/94 in Bernau (Brandenburg) Opfer regelrechter Folterungen und exzessiver Demütigungen geworden, u.a. durch gezielte Schläge auf den nackten Körper, versuchte Vergewaltigungen und Kastrationsdrohungen. Im Hamburger Polizeiskandal ab 1994 ging es u.a. um einen Fall der Scheinhinrichtung. In Frankfurt/Main kam es 1996 aufgrund der Aussage eines Polizeischülers zur Verurteilung von drei Beamten, die einen jungen Algerier misshandelt hatten; einer der Verurteilten hatte dem Mann seine Pistole in den Mund geschoben. Vorwürfe von Übergriffen auf Polizeistationen sind in den letzten Jahren immer wieder dokumentiert worden.[8] Nur die wenigsten führten allerdings zu einer Verurteilung. Es handelte sich dabei gerade nicht um jene angeblichen Gewissenskonflikte, von denen im Fall Daschner die Rede ist, sondern um Fälle gewissenlosen und sadistischen Vorgehens insbesondere gegen Angehörige von Randgruppen oder Nicht-Deutsche. Die immer wieder geforderten unabhängigen Polizeibeauftragten oder ähnlichen Kontrollinstanzen fehlen bis heute. Die Hamburger Polizeikontrollkommission, die einzige ihrer Art, wurde im Dezember 2000, kurz nach Amtsantritt des konservativ-rechtsliberal-reaktionären Senats wieder abgeschafft.

Die Misshandlung von Festgenommenen und Inhaftierten gilt bisher definitiv als illegal. Solche Übergriffe wurden, wenn sie denn bekannt wurden, von offizieller Seite regelmäßig als das Werk „schwarzer Schafe“ verkauft. Die zynische Leistung von Daschner, Brugger, Geis und Konsorten besteht nun darin, die Gewaltanwendung bei Vernehmungen und (polizeirechtlichen) Befragungen ausdrücklich als gut und notwendig darzustellen – vorausgesetzt sie findet zu einem „guten“ legitimen Zweck, zum Schutz anderer hochwertiger Rechtsgüter statt. Heute sind dies Leben und körperliche Unversehrtheit unschuldiger Drittpersonen, die in einer rechtsstaatlichen Güterabwägung höher eingestuft werden als die körperliche und seelische Integrität der zu vernehmenden Person. Sobald der erste Schritt zu einer Verrechtlichung der Folter getan ist, darf man sicher sein, dass die Inflation der Schutzgüter nicht auf sich warten lässt.

Die Europaratskommission zur Prävention der Folter (CPT) hat gerade zum dritten Male und wiederum erfolglos von der BRD einen „Code of Conduct“ für Vernehmungen gefordert.[9] Ein solcher Verhaltenskodex hätte vermutlich nur den Effekt, dass diejenigen, die bei Vernehmungen ohnehin korrekt handeln, in ihrem Verhalten bestätigt würden. Vor dem Hintergrund der Daschner-Debatte würde ein solcher Kodex vollkommen sinnlos.

Die nützliche Folter im Ausland

Die BRD gehört nicht zu den 150 Staaten, in denen mehr oder weniger systematisch gefoltert wird. Sie sieht aber immer wieder gerne darüber hinweg, wenn dies in anderen Staaten passiert. 1986 lehnte der damalige Leiter der bayerischen Staatskanzlei Edmund Stoiber die Ratifizierung der UN-Anti-Folterkonvention ab, weil dadurch ein neuer „Asyltatbestand“ geschaffen und die BRD „geradezu zwangsläufig zum El Dorado aller abzuschiebenden Ausländer“ würde.[10] Der befürchtete Zustand blieb aus, weil die Asylrechtsprechung nur die im Rahmen einer politischen Verfolgung praktizierte Folter als Asylgrund akzeptiert. Dem Bündnispartner Türkei will man nicht allzu heftig auf die Füße treten.

Dieselbe Rücksichtnahme gilt im Auslieferungsrecht. 1996 bewilligte das Bundesverfassungsgericht die Auslieferung eines Mannes, dem die spanischen Behörden Unterstützung der ETA vorwarfen. Die Ermittlungen gegen ihn waren ausgelöst worden durch die unter Folter erpressten Aussagen eines ETA-Mitglieds während der in Spanien bei Terrorismus-Fällen möglichen fünftägigen Festnahme ohne Zugang zu einer RechtsvertreterIn oder einer Vertrauensperson (Inkommunikationshaft). Die Folter einer Drittperson im selben Verfahrenskomplex begründe kein Beweisverbot und damit auch kein Auslieferungshindernis. Das Argument, dass durch die Zulassung solcher sekundären Beweismittel die in politischen Strafverfahren in Spanien übliche Folter unterstützt würde, wollte das Gericht nicht akzeptieren.[11]

Die BRD ist vorläufig nicht in Gefahr zum Folterstaat zu werden. Wenn die Würde des Menschen aber kein Konjunktiv sein soll, reicht es nicht aus, an den Rechtsstaat und die Rechtskultur zu appellieren, und es geht erst recht nicht an, „rechtsstaatliche“ Güterabwägungen für die Folter im Ernstfall vorzusehen. Politik und Justiz sind heute vollkommen damit überfordert, polizeiliche Gewaltexzesse im Inland zu kontrollieren, und offenbar auch nicht bereit, einen ernst zu nehmenden Beitrag zur Folterprävention im Ausland zu leisten. Wenn sie Daschners Verhalten nachträglich legitimieren, erklären sie ihren Bankrott. Folter zerstört die Würde des Menschen – sowohl die Würde des Gefolterten als auch die jener, die die Folter anwenden und rechtfertigen.

Heiner Busch ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Frankfurter Rundschau v. 22.2.2003; ähnlich in: Der Spiegel 9/2003 v. 24.2.2003
[2] taz v. 19.2.2003
[3] Der Tagesspiegel und WDR 5 v. 21.2.2003; Frankfurter Rundschau v. 24. und 25.2.2003
[4] Der Spiegel 9/2003 v. 24.2.2003
[5] Brugger, W.: Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, in: Der Staat 1996, H. 1, S. 67-97; Ders.: Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, in: Juristenzeitung 2000, H. 4, S. 165-173
[6] Brugger (2000) a.a.O. (Fn. 5), S. 167
[7] s.a. Die Grünen, Kreisverband Münster, AG Demokratie und Recht: Bei Folter Rechtsstaatlichkeit beachten, Presseerklärung v. 21.2.2003, www.gruene-muenster.de; enthält u.a. einen satirischen „Gesetzentwurf“ mit allen Details
[8] Bürgerrechte & Polizei/CILIP 67 (3/2000) mit Hinweisen auf diverse Dokumentationen
[9] CPT: Report on the visit to Germany from 3 to 15 december 2000, Strasbourg 12.3.2003, p. 24; Stellungnahme der Bundesregierung v. 12.3.2003, S. 23, beides unter www.cpt.coe.int/documents/deu/2003-03-12-eng.htm
[10] Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 4.4.1986
[11] Bundesverfassungsgericht: Entscheidung v. 29.5.1996, Az.: 2 BvR 66/96

Bibliographische Angaben: Busch, Heiner: Rechtsstaatlich geregelte Folter? Der Fall Daschner und die politische Falle, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 74 (1/2003), S. 62-67