von Viktor Györffy
Neu ist das Konzept nicht, doch nun scheint es um sich zu greifen: Eine Reihe von Schweizer Städten ist daran, ihre Polizei mit gesetzlichen Fernhaltekompetenzen auszustatten. Vorbild ist die Stadt Bern, wo die Polizei seit einigen Jahren so genannte Wegweisungsverfügungen erlassen kann.
Am Anfang betraf es einzig AusländerInnen: 1994 stimmte die Mehrheit der Stimmbevölkerung der Schweiz den „Zwangsmaßnahmen im Ausländerrecht“ zu. Mit dieser Gesetzesnovelle wurde unter anderem die Möglichkeit geschaffen, so genannte Rayonverbote gegen bestimmte Kategorien von AusländerInnen zu verhängen: Seither können die kantonalen Fremdenpolizeien „einem Ausländer, der keine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung besitzt und der die öffentliche Sicherheit und Ordnung stört oder gefährdet, insbesondere zur Bekämpfung des widerrechtlichen Betäubungsmittelhandels, die Auflage machen, ein ihm zugewiesenes Gebiet nicht zu verlassen oder ein bestimmtes Gebiet nicht zu betreten.“[1]
1998 übernahm der Kanton Bern das Konzept der Fernhaltung und dehnte es auf SchweizerInnen aus. In Art. 29 lit. b des bernischen Polizeigesetzes (PolG BE) steht seither folgende Bestimmung: „Die Polizei kann Personen von einem Ort vorübergehend wegweisen oder fernhalten, sofern der begründete Verdacht besteht, dass sie oder andere, die der gleichen Ansammlung zuzurechnen sind, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder stören.“ Inzwischen ist Bern damit nicht mehr allein: Die Städte Winterthur und St. Gallen haben diese Bestimmung jüngst kopiert und in ihre kommunalen Polizeiverordnungen integriert.
In der Stadt Zürich hat die Polizeivorsteherin (das für die Polizei zuständige Mitglied der Stadtregierung, d. Red.) innerhalb der Stadtverwaltung sondiert, ob eine entsprechende Verordnungsvorschrift realisierbar wäre. Als die Gemeinderatsfraktion der Grünen/Alternative Liste/Partei der Arbeit von diesem Vorhaben Wind bekam, ließ sie von den Demokratischen Juristinnen und Juristen Zürich, einer progressiven Anwaltsvereinigung, ein Rechtsgutachten verfassen. Das Gutachten kam zum Schluss, dass Grundrechtsverletzungen unausweichlich wären, wenn eine solche Bestimmung eingeführt würde. Nachdem dem Vorhaben offenbar auch verwaltungsintern Widerstand erwachsen ist, hat es die Polizeivorsteherin auf Eis gelegt. Dafür hinterlegte sie bei der Kantonsregierung mit Nachdruck den Wunsch, es solle auf kantonaler Ebene eine Gesetzesgrundlage für Fernhaltemaßnahmen geschaffen werden.
Der Wunsch wurde erhört: Am 21. Juli 2005 hat der Regierungsrat des Kantons Zürich den Entwurf für ein neues Polizeigesetz publik gemacht. Darin sind nun Wegweisungs- und Fernhaltemaßnahmen vorgesehen. Die Polizei soll eine Person von einem Ort wegweisen, fernhalten oder ihr vorübergehend den Zugang zu einem Ort verbieten können, und zwar u.a. dann, wenn die Person die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder Dritte gefährdet, wenn sie zu einer Ansammlung von Personen gehört, welche die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder Dritte gefährden oder wenn die Person durch ihr Verhalten beim Publikum, namentlich bei PassantInnen, AnwohnerInnen oder GeschäftsinhaberInnen, begründet Anstoß oder Furcht bewirkt. In besonderen Fällen, namentlich wenn eine Person wiederholt von einem Ort weggewiesen oder ferngehalten werden musste, soll ihr die Polizei unter Androhung von Straffolgen für höchstens drei Monate verbieten können, den betreffenden Ort zu betreten.[2]
Der Wortlaut des Zürcher Gesetzentwurfs geht damit weiter als die bisher bestehenden Wegweisungsartikel. Allerdings ist der Unterschied nur ein scheinbarer. Zwar setzt das Berner Polizeigesetz für Wegweisungen immer eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung voraus, während der Gesetzesentwurf von Zürich die Wegweisung alternativ auch dann zulässt, wenn jemand „begründet Furcht oder Anstoß bewirkt.“ Ein Blick in die Stadt Bern zeigt jedoch, dass der Kanton Zürich lediglich das Konzept, das in Bern seit Jahren praktiziert wird, ein wenig deutlicher ausformuliert hat.
Die Berner Stadtpolizei macht von ihren Wegweisungskompetenzen regen Gebrauch. Sie spricht pro Jahr rund 800 Wegweisungen aus. Dabei wird den Betroffenen mittels vorgefertigter Verfügungen verboten, sich innerhalb von vordefinierten Zonen, die den größten Teil der Berner Innenstadt ausmachen, in bestimmten Personenansammlungen aufzuhalten. Für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die Verfügung wird eine Bestrafung mit Haft oder Buße angedroht. Daran anknüpfend werden jährlich über 1.000 Bußenverfügungen gegen Personen erlassen, die sich nicht an die Wegweisung gehalten haben. Wenn die Betroffenen die Bußen nicht bezahlen (können) – was häufig vorkommt –, dann müssen sie sie früher oder später im Knast absitzen. Die Wegweisungen richten sich regelmäßig gegen Personen, denen vorgeworfen wird, sie hätten Drogen konsumiert, mit Drogen gehandelt oder sie hätten sich als Teil einer Gruppe von „Randständigen“ in der Berner Altstadt aufgehalten und dort gemeinsam Alkohol konsumiert. Letztere erhalten so beispielsweise ein Verbot, sich in den bezeichneten Gebieten in Personenansammlungen aufzuhalten, in welchen Alkohol konsumiert wird.[3]
Kein wirksamer Grundrechtsschutz
Bei der Entscheidung, wen sie wegweisen will, hat die Polizei weitgehend freie Hand. Dies liegt zum einen an der schwammigen Formulierung des Gesetzes. Anders als etwa im Strafrecht bilden die in der Bestimmung enthaltenen Eingriffsvoraussetzungen keine effektive Hürde. Der Artikel besteht aus einer Anhäufung von unbestimmten Rechtsbegriffen und ist damit wohl geeignet, der Polizei den Weg für den gewünschten Zugriff zu ebnen, nicht aber, diesen zu begrenzen. Zum andern hat sich die polizeiliche Praxis gegen den Versuch, sie einer effektiven nachträglichen Kontrolle durch Rechtsmittelinstanzen zuzuführen, bislang als weitgehend immun erwiesen.
Der Berner Anwalt Daniele Jenni hat einige Personen dazu bewegen können, die sie betreffenden Wegweisungsverfügungen anzufechten. Dabei handelte es sich durchweg um Fälle, die aus gezielten Aktionen der Stadtpolizei Bern resultierten, mit denen versucht wurde, die Bahnhofsunterführung in Bern von Alkis und Punks zu befreien. Jenni vertrat die Auffassung, die Wegweisungsbestimmung im Berner Polizeigesetz sei mit den Grundrechten, die durch die Kantonsverfassung, die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützt seien, per se nicht vereinbar. Die Bestimmung verletze die Garantie der Menschenwürde, das Diskriminierungsverbot, das Willkürverbot, die persönliche Freiheit und die Versammlungsfreiheit. Der Anwalt wies darauf hin, dass die polizeiliche Wegweisung zu einer Diskriminierung bestimmter Lebensformen führe, wenn sie auf Personen zielt, die von der Polizei als „randständig“ betrachtet werden. Zudem seien Wegweisungen für solche Personen besonders einschneidend: „Randständige“ seien darauf angewiesen, dass sie sich im öffentlichen Raum bewegen und dort ihre sozialen Kontakte pflegen können.
Die ersten beiden (exekutiven) Beschwerdeinstanzen (Stadtregierung und Regierungsstatthalter des Kantons) lehnten die von Jenni eingereichten Beschwerden vollumfänglich ab. Vor der dritten Instanz, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, drang er ebenfalls nicht durch. Zwar hielt das Gericht fest, die strittigen Anordnungen würden in den Schutzbereich der persönlichen Freiheit eingreifen und könnten auch die Versammlungsfreiheit tangieren. Aber von Jennis Standpunkt, der Wegweisungsbestimmung sei wegen ihrer Grundrechtswidrigkeit die Anwendbarkeit gänzlich zu versagen, wollte das Gericht nichts wissen. Und auch in den konkreten Fällen, die Jenni dem Gericht unterbreitet hatte, vermochte es nichts Verfassungswidriges zu erblicken. Es erhob lediglich zaghaft den Mahnfinger und wies darauf hin, dass die Polizei gehalten sei, Diskriminierungen im Zusammenhang mit der Anordnung von Wegweisungen zu vermeiden.[4]
Die Polizei im Dienst der City-Pflege
Die Wirkung solcher gut gemeinten Worte vom Richterpult tendiert freilich gegen null. Die Polizeibeamten, die die Wegweisungsbestimmung umzusetzen haben, stehen mit einem konkreten Auftrag auf der Straße. Der Zürcher Gesetzentwurf zeigt plastisch, welche Stoßrichtung dieser Auftrag hat: Der öffentliche Raum in der Innenstadt ist für PassantInnen, AnwohnerInnen und GeschäftsinhaberInnen da. Wer deren rechtschaffene Betriebsamkeit stört, soll entfernt werden – die Polizei wird in den Dienst der City-Pflege gestellt. Wenn der polizeiliche Auftrag effizient umgesetzt werden soll, dann bleibt kein Raum für sorgfältige Sachverhaltsabklärungen und Abwägungen im Einzelfall. Bezeichnenderweise genügt der Verdacht, zu einer Gruppe zu gehören, die die öffentliche Ruhe und Ordnung stört oder gefährdet, um weggewiesen werden zu können. Inwiefern man selber zu den vorgeworfenen Polizeiwidrigkeiten beigetragen hat, spielt dabei keine Rolle.
Das Konzept der gesetzlich geregelten Wegweisung bringt eine Ausweitung der klassischen Polizeitätigkeit mit sich. Es geht weder darum, die Verfolgung strafbarer Handlungen einzuleiten, noch darum, eine unmittelbare und schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu beseitigen. Die Tätigkeit verlagert sich vielmehr in den rein präventiven Bereich. Die Polizei soll die Entstehung von Personenansammlungen wie Drogen- oder Alki-Szenen mit ihren unliebsamen Erscheinungen im Voraus unterbinden. Bei diesem Konzept ist es nur logisch, dass der Gesetzgeber alles dem Ermessen der Polizei überlassen will und sich deshalb Mühe gibt, das Gesetz möglichst offen zu formulieren, unter völliger Vernachlässigung des Gebotes hinreichender Bestimmtheit rechtlicher Normen. Konsequent ist es auch, dass die gesetzliche Regelung darauf hinausläuft, dass sich die Rechtsunterworfenen gefallen lassen müssen, von der Polizei in ihren Grundrechten eingeschränkt zu werden, ohne dass sie selbst in irgend einer Weise gegen die Rechtsordnung verstoßen haben müssen.
In einer Zeit der leeren Staatskassen haftet dem Ruf nach neuen polizeilichen Kompetenzen etwas Paradoxes an, zumal die Polizeidichte in der Schweiz traditionellerweise ohnehin relativ gering ist. In derselben Woche, als der Regierungsrat des Kantons Zürich den Entwurf des neuen Polizeigesetzes veröffentlichte, klagte die Stadt Zürich darüber, dass die Sparmaßnahmen bei der Kantonspolizei die polizeiliche Grundversorgung der Stadt Zürich in Frage stellen würden. Einige Monate zuvor dachte der Leitende Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich medienöffentlich darüber nach, ob es nicht besser wäre, in Zukunft auf die Verfolgung von Kleinstkriminalität zu verzichten, weil Staatsanwaltschaft und Polizei in ihren unerledigten Akten zu versinken drohen.
Sinkende Toleranz, wachsendes Interventionsarsenal
All das hat jene, die die Polizei mit gesetzlichen Wegweisungskompetenzen ausstatten wollen, bislang nicht beirren können. Dabei macht es nicht den Anschein, dass die damit anvisierten Probleme in den Schweizer Städten in jüngerer Zeit markant zugenommen hätten. Die Stadt Zürich beispielsweise ist entgegen anders lautender Unkenrufe nicht zu einer Stadt geworden, die in erster Linie nur noch minderbemittelte, schlecht integrierte und randständige Menschen anzieht. Im Gegenteil, die Zürcher Innenstadt ist in den letzten Jahren insbesondere bei besser Gestellten immer beliebter geworden. In Gegenden, die eigentlich als Problemzonen gelten, werden zunehmend nur noch Wohnungen im Hochpreissegment gebaut, während gleichzeitig günstiger Wohnraum verschwindet. Die früher bestehenden offenen Drogenszenen hat man in Zürich mit einer Mischung aus Sozialarbeit und polizeilicher Repression stark eindämmen können. Die Polizei ist ständig bemüht, neue Szenenbildungen zu verhindern. Dazu gehören regelmäßige, nicht selten schikanöse Personenkontrollen, Verhaftungen sowie so genannte Rückführungen: Obdachlose und mutmaßliche DrogenkonsumentInnen, die nicht als EinwohnerInnen von Zürich registriert sind, werden in ein eigens dafür eingerichtetes Zentrum gesteckt und von dort so rasch wie möglich in jene Gemeinde zurück verfrachtet, in der sie offiziell wohnhaft sind.
Als Mittelding zwischen Prävention und Repression ist die dem Sozialdepartement der Stadt unterstellte „sip züri“ tätig. Sip steht für Sicherheit – Intervention – Prävention. Die „sip züri“ ist gemäß Eigendefinition eine mobile Interventionsgruppe, die aufsuchende Sozialarbeit mit Ordnungsdienst kombiniert und so dazu beitragen soll, Plätze und Parkanlagen in der Stadt sicher und sauber zu halten. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, den Ausgleich zwischen den Anliegen der Quartierbevölkerung und den Bedürfnissen sozial ausgegrenzter Menschen zu finden. Ihrer äußeren Erscheinung nach gleicht die „sip züri“ einer privaten Bewachungsfirma. Eigentliche polizeiliche Kompetenzen hat sie aber nicht. Wenn es brenzlig wird, wird die Unterstützung der Stadtpolizei Zürich angefordert.[5] Während die Polizeivorsteherin der Stadt Zürich das vorhandene Ordnungs- und Sicherheitsarsenal um einen Wegweisungsartikel ergänzen will, geht die Stadt Bern interessanterweise den umgekehrten Weg: Dort ist nach dem Vorbild der „sip züri“ eine Truppe namens „pinto“ (Prävention – Intervention – Toleranz) geschaffen worden, u.a. mit dem Argument, die Praxis der Wegweisungen würde die bestehenden Probleme nicht lösen.[6]
In der Tat kann man sich fragen, was der ganze polizeiliche und justizielle Aufwand bringt, den die Stadt Bern mit den Wegweisungsverfügungen betreibt. Zwar ist die Drogenszene in der Berner Innenstadt deutlich weniger sichtbar als noch vor einigen Jahren, aber verschwunden ist sie nicht. Und in den Unterführungen des Berner Bahnhofs fühlen sich nach wie vor PassantInnen durch Leute gestört, die in Gruppen herumsitzen und Bier trinken. Unter dem Strich sind polizeiliche Interventionen gegen unliebsame Szenen geblieben, was sie sind: Sisyphusarbeit. Die Stadt Bern steht hier insgesamt, trotz gesetzlicher Wegweisungskompetenzen der Polizei, nicht anders da als andere Städte in der Schweiz. Von daher ist absehbar, dass die Einführung vergleichbarer Gesetzesartikel in Winterthur, St. Gallen und Zürich nicht viel bringen wird. In den entsprechenden politischen Diskussionen ist bislang vergleichsweise wenig Energie darauf verwendet worden, darüber nachzudenken, was der Erlass solcher Bestimmungen konkret nach sich ziehen wird. Deutlich spürbar ist hingegen, dass die Toleranz gegenüber gewissen als störend empfundenen Phänomenen des städtischen Lebens im Sinken begriffen ist. Die Einführung von polizeilichen Fernhaltekompetenzen entspricht offensichtlich dem politischen Mainstream. Jedenfalls hat die Stadt Winterthur ihre Verordnungsbestimmung ohne nennenswerten Widerstand in Kraft setzten können, und in St. Gallen wurde die entsprechende Vorlage nach einem gehässigen Abstimmungskampf von den Stimmberechtigten mit deutlicher Mehrheit angenommen.