Umfangreiche Wunschzettel – EU-Datenbanken und Terrorismusbekämpfung

von Matthias Monroy und Heiner Busch

Das Thema Terrorismus war und ist in Europa eng verknüpft mit dem Auf- und Ausbau polizeilicher (und geheimdienstlicher) Da­tenbanken. Das war so in den 70er Jahren, das war so nach dem 11. September 2001, und das wiederholt sich erneut seit 2014, als die EU und ihre Mitgliedstaaten erste Aktionspläne gegen „ausländische terroristische Kämpfer“ zu schmieden begannen.

Der erste Effekt dieser Debatte war ein quantitativer: Die Menge der Datensätze in den einschlägigen Informationssystemen stieg seit 2015 geradezu explosionsartig an. Besonders deutlich zeigt sich dies an den Datenbanken von Europol, insbesondere an den „Focal Points“ (früher: „Arbeitsdateien zu Analysezwecken“) des Europol-Analysesystems. Sie gehören mittlerweile zu den zentralen Instrumenten des im Januar 2016 eingerichteten „European Counter Terrorism Centre“ (ECTC). „Hydra“, der „Focal Point“ zum islamistischen Terrorismus, war bereits kurz nach den Anschlägen in den USA im September 2001 eingerichtet worden. Im Dezember 2003 waren hier 9.888 Personen erfasst, eine Zahl, die damals hoch erschien, aber mit der heutigen Menge nicht mehr vergleichbar ist.[1] Im September 2016 enthielt „Hydra“ 686.000 Datensätze (Ende 2015: 620.000), davon 67.760 zu Personen (Ende 2015: 64.000) und 11.600 zu Organisationen (Ende 2015: 11.000). Laut dem EU-Anti-Terror-Koor­dinator (ATK) hatten sich die Beiträge der Mitgliedstaaten zu dieser Datei im Jahre 2015 auf 12.800 verdoppelt, die zu Einzelpersonen gar verdreifacht (4.389).

Im April 2014 wurde bei Europol ein weiterer „Focal Point“ eingerichtet, der sich eigens mit den „ausländischen terroristischen Kämpfern“ („Foreign terrorist fighters“, FTF) befassen sollte. In „Travellers“ waren ein Jahr später insgesamt 3.600 Personen, inklusive Kontakt- und Begleitpersonen, gespeichert. Im April 2016 hatte sich die Gesamtzahl versechsfacht. Von den zu diesem Zeitpunkt 21.700 gespeicherten Personen seien 5.353 „verifizierte“ FTF gewesen. Im September 2016 war man bei 33.911 Erfassten insgesamt und 5.877 FTF angekommen.

Seit 2010 betreibt Europol gemeinsam mit den USA das „Terrorist Finance Tracking Programme“ (TFTP), das Überweisungen auswertet, die über den belgischen Dienstleister SWIFT vorgenommen werden. Bis Mitte April 2016 hatten sich daraus über 22.000 „intelligence leads“ (Er­kenntnisse) ergeben, davon 15.572 seit Anfang 2015. 5.416, also rund 25 Prozent, bezogen sich auf FTF.

Im Unterschied zum Analysesystem kann das Europol-Informations­system (EIS), das Registersystem der Polizeiagentur, unmittelbar aus den Polizeizentralen und weiteren Behörden der EU-Staaten gespeist und abgefragt werden. Hier waren Anfang Oktober 2016 insgesamt 384.804 „Objekte“ (106.493 Personen) erfasst, 50 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Die Steigerung ist unter anderem auf die Zunahme der am EIS Beteiligten zurückzuführen. 2015 waren 13 Mitgliedstaaten angeschlossen, 2016 waren es 19. Einige EU-Staaten, wie etwa Großbritannien, lassen auch ihre Inlandsgeheimdienste in dem System mitmischen. 16 Mitgliedstaaten benutzen mittlerweile automatische Datenla­desysteme („Data Uploader“) für die Einspeisung. Zugenommen hat auch die Zahl der beteiligten Drittparteien (2015: vier, 2016: acht). Dazu gehören unter anderem Interpol sowie das FBI und das Department of Homeland Security der USA.

Steigerungsraten vermeldet Europol auch bei den „Objekten“ mit Terrorismusbezug im EIS. Diese seien allein im dritten Quartal 2016 um 20 Prozent auf 13.645 gestiegen, heißt es in einem „Fahrplan zur Verbesserung des Informationsaustauschs und des Informationsmanagements“ der slowakischen EU-Präsidentschaft.[2] Das EIS enthält demnach 7.166 Datensätze zu „Personen mit Terrorismusbezug“, von denen 6.506 als „ausländische Kämpfer oder deren Unterstützer/Helfer gekennzeichnet sind oder als solche vermutet werden“. Für Mai hatte der Anti-Terrorismus-Koordinator deren Zahl noch mit 4.129 angegeben.[3]

Eine Zunahme der terrorismusbezogenen Daten zeigt sich auch im Schengener Informationssystem (SIS) – und zwar an den Ausschreibungen zur verdeckten oder gezielten Kontrolle nach Art. 36 des SIS-Be­schlusses. Dabei wird die ausgeschriebene Person nicht festgenommen. Vielmehr sollen die Kontrolle selbst sowie Begleitpersonen, Fahrzeuge etc. erfasst werden, um Aufschluss über die Reisebewegungen und die Kontakte der beobachteten Betroffenen zu erhalten. Ende September 2016 lag die Zahl der verdeckten Ausschreibungen durch Polizeibehörden (nach Art. 36 Abs. 2) bei 78.015 (Ende 2015: 61.575, Ende 2014: 44.669). Die Zahl der Ausschreibungen durch die Inlandsgeheimdienste nach Art. 36 Abs. 3 betrug 9.516 Personen (Ende 2015: 7.945, Ende 2014: 1.859). Bei 6.100 Ausschreibungen sollten Treffermeldungen und die Übermittlung von Zusatzinformationen nicht wie üblich über die SIRENE-Stellen, sondern sofort an die ausschreibende Behörde erfolgen, eine Möglichkeit, die erst im Februar 2015 eingeführt worden war.

Die Schengen-Staaten nutzen das Instrument der verdeckten/geziel­ten Kontrolle in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Am 1. Dezember 2015 kamen 44,34 Prozent aller Art. 36-Ausschreibungen aus Frankreich, 14,6 Prozent aus Großbritannien, 12,01 Prozent aus Spanien, 10,09 Prozent aus Italien und 4,63 Prozent von deutschen Behörden.[4]

Wie viele dieser Ausschreibungen tatsächlich einen Terrorismus-Be­zug haben, ist unklar; es fehlt hierzu bislang auch an einer gemeinsamen Definition. Trotzdem einigte sich die Schengen-Arbeitsgruppe des Rates für die geheimdienstliche Ausschreibung auf die Einführung eines neuen Hinweises „Aktivität mit Terrorismusbezug“. Nach Darstellung des Bun­desinnenministeriums werden deutsche Ausschreibungen mit diesem Hinweis versehen, wenn „konkrete Anhaltspunkte“ für die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§§ 89a, 89b StGB) oder Zusammenhänge mit einer kriminellen oder terroristischen Vereinigungen im Ausland (§§ 129a, 129b StGB) vorliegen.[5]

„Unbemerkt im Schengen-Raum“

Neben der Menge der erhobenen und verarbeiteten Daten wurden und werden auch die Zwecke und Anwendungen von Datenbanken im Bereich der früheren „dritten Säule“ der EU schrittweise erweitert. Die Mitteilung der Kommission über „solidere und intelligentere Informationssysteme für das Grenzmanagement und mehr Sicherheit“ vom April 2016 und die vom Rat im Monat darauf beschlossene „Roadmap zur Verbesserung des Informationsaustauschs und des Informationsmanagements“[6] lassen in den nächsten Jahren einen neuen Quantensprung in der europäischen Dateienlandschaft erwarten. Begründet werden die Neuerungen einerseits mit den Terroranschlägen seit 2015 und andererseits mit der „Migrationskrise“, den „irregulären Grenzübertritten“ von Geflüchteten. Terroristen – so behauptet die Kommission – gelangten „über die Routen der illegalen Migration in die EU“ und würden sich anschließend „unbemerkt im Schengen-Raum“ aufhalten. Grenzmanagement, Strafverfolgung und Migrationssteuerung seien deshalb „dynamisch miteinander verbunden“.

Die Folgen dieser Argumentation werden zunächst erkennbar an jenen Datenbanken, die heute schon von der Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen (eu-LISA) verwaltet werden: das Visa-Informationssystem (VIS), die Fingerabdruckdatei Eurodac sowie das SIS II: Die Verquickung von Migrations- und Grenzmanagement einerseits und polizeilichen Zwecken andererseits wird weiter vorangetrieben. Dass es die schon bisher gab, zeigte sich vor allem am SIS II, das sowohl Ausschreibungen zur Fahndung im engeren Sinne sowie zur verdeckten Kontrolle als auch solche zur Einreisesperre enthält und vor allem bei polizeilichen Kontrollen an den Grenzen und im Inland, aber auch von den Konsulaten bei der Vergabe von Visa abgefragt wurde. Europol hatte bisher schon Zugriff auf bestimmte Daten des SIS (Ausschreibungen zur Festnahme aufgrund von Europäischen Haftbefehlen oder zur Auslieferung, zur gezielten/verdeckten Kontrolle, Sachfahndung), war aber nur zu Einzelabfragen berechtigt. Gemäß den drei Verordnungsentwürfen, die die Kommission im Dezember vorlegte,[7] könnte die Polizeiagentur sämtliche Daten abfragen und ganze Datenbestände aus dem System herauskopieren, um sie insgesamt mit eigenen Datenbeständen abzugleichen (die sog. Stapelverarbeitung). Außerdem sollen auch Frontex sowie die zu Missionen der EU-Grenz- und Küstenwache abgeordneten BeamtInnen der EU-Grenzpolizeien das SIS II abfragen dürfen. Erweiterungen wird es auch bei den Datenkategorien geben: Einreisesperren für abgeschobene Drittstaatsangehörige müssen künftig immer gespeichert werden, auch wenn die Abschiebung „nur“ aus ausländerrechtlichen Gründen erfolgt. Gleiches gilt für Abschiebeanordnungen. Auch terrorismusbezogene Daten sollen nun verpflichtend ins SIS eingegeben werden.[8] In solchen Fällen könnte eine „Ermittlungsanfrage“ erfolgen, mit der weitere, bei anderen Schengen-Staaten vorhandene Informationen zusammengetragen werden können.

Das SIS II enthält bisher schon biometrische Daten, Gesichtsbilder und Fingerabdrücke. Sie können aber nur zur Verifizierung der Identität einer Person benutzt werden, bei der eine „alphanumerische“ Suche (Name, Vorname, Geburtsdatum etc.) einen Treffer ergeben hat. Nun soll auch eine Suche – zur Identifizierung – anhand von Finger- und Handflächenabdrücken möglich werden. Das SIS II erhält deshalb ein automatisches Fingerabdruckidentifizierungssystem (Automatic Fingerprint Identification System, AFIS). Die daktyloskopischen Daten würden in einer eigenen Datenbank gespeichert. Wie das SIS wird auch das AFIS als zentrales System angelegt. Die Umsetzung ist für 2017 geplant, der Zugriff auf die Daten aus den nationalen SIS-Zentralstellen könnte ab 2018 erfolgen. Eingegeben werden darin auch nicht zugeordnete daktyloskopische Daten z.B. aus Tatortspuren. Dies ermöglicht auch eine ebenfalls geplante, neue Ausschreibungskategorie „unbekannte gesuchte Personen“. Die Verordnungsentwürfe sehen auch die Speicherung von DNA-Daten vor, die nur verwendet werden sollen, wenn eine Identifizierung anhand von Fingerabdrücken und Gesichtsbildern unmöglich ist.

Die derzeit geltende Fassung der Eurodac-Verordnung ist zwar erst im Juni 2013 beschlossen worden und dann im Juli 2015 voll in Kraft getreten, wird aber nun rundum erneuert.[9] Die 2003 in Betrieb genommene erste europaweit genutzte biometrische Datenbank – derzeit 4,9 Millionen Datensätze – sollte bisher durch den Abgleich von Fingerabdrücken Mehrfach- und Nachfolgeanträge von Asylsuchenden aufdecken. Der Kommissionsvorschlag sieht nicht nur eine Absenkung der Altersgrenze der Erfassung von bisher vierzehn auf sechs Jahre vor. Künftig sollen auch Daten von „illegal aufhältigen“ und beim irregulären Grenzübertritt (auch im „Hinterland“, fernab der EU-Außengrenzen) angetroffenen AusländerInnen für fünf Jahre gespeichert werden. Zusätzlich zu den Fingerabdrücken will man nun auch Gesichtsbilder erfassen. Ab 2020 soll dafür eine Suchfunktion bereitstehen.

Bereits seit der letzten Änderung der Verordnung im Jahre 2013 können die Polizeien der Mitgliedstaaten sowie Europol Zugang zu Eurodac erhalten – allerdings nur im Einzelfall und unter der Voraussetzung, dass zuvor Recherchen im AFIS des betreffenden Staates als auch – via Prüm-Netz – in den Fingerabdruckdateien der anderen Mitgliedstaaten erfolglos geblieben waren. Den „Bedürfnissen der Strafverfolgung“ und insbesondere Europols will man nun stärker Rechnung tragen.[10] Nach Ansicht der Bundesregierung sollten künftig neu eingegebene Daten unverzüglich an die Polizeien und Geheimdienste der übrigen Mitgliedstaaten weitergegeben werden, die sie mit ihren einschlägigen Datenbanken abgleichen.[11]

Dieses „Konsultationsverfahren“ gibt es heute schon beim VIS: Die Konsulate übermitteln Visumsanträge von Personen aus „Risikostaaten“ zur Überprüfung an die „zuständigen Behörden“ der anderen Mitgliedstaaten. Auch das VIS soll laut der „Roadmap zur Verbesserung des Informationsaustauschs und des Informationsmanagements“ mit Technologie zur Gesichtserkennung ergänzt werden. Es enthält zwar bereits Bilddaten. Die Möglichkeit zum Durchsuchen existiert jedoch nicht. Auch der rechtliche Rahmen muss geändert werden, damit die biometrischen Daten nicht nur zur Verifizierung genutzt werden können, sondern auch zur Identifizierung im Rahmen einer Personenfahndung. Im April wurden Pläne bekannt, das dezentrale Prüm-Verfahren ebenfalls auf Gesichtsbilder zu erweitern.[12] Die Mitgliedstaaten sowie Europol, die bisher nicht an diesem Datenaustausch beteiligt ist, werden aufgefordert, die rechtlichen und strategischen Möglichkeiten zu prüfen. Ein Vorschlag zur Umsetzung eines zentralen oder dezentralen Prüm-Ver­fahrens für Gesichtsbilder könnte schon in diesem Jahr vorliegen.

Schließlich wird auch das Europäische Strafregisterinformationssystem (ECRIS) um eine neue Zielgruppe erweitert. Zukünftig sollen im ECRIS auch Verurteilungen von Drittstaatsangehörigen gespeichert werden, wenn diese sich in EU-Mitgliedstaaten aufhalten. Zu den verpflichtend zu speichernden Daten kommen nun Fingerabdrücke hinzu. Die deutsche Kopfstelle im ECRIS-Verbund ist das Bundesamt für Justiz. Bundesinnen- und Bundesjustizministerium prüfen bereits die für eine Fingerabdruck-Funktionalität erforderlichen Infrastrukturen. Ursprünglich sollten die daktyloskopischen Daten des ECRIS dezentral in den Mitgliedstaaten verbleiben, jedoch haben die EU-InnenministerInnen nun die zentrale Speicherung auf EU-Ebene verabredet.[13] Bis Juni soll über eine endgültige Regelung entschieden werden. Ebenfalls noch in der Debatte ist ein europäischer Kriminalaktennachweis (EPRIS). Der Plan war 2010 in letzter Minute in die Endfassung des Stockholm-Pro­gramms gerutscht. Ob EPRIS überhaupt aufgebaut wird und wenn ja, ob es als zentrale Datenbank oder als Vernetzung nationaler Systeme konzipiert wird, ist derzeit noch unklar.

Kontrollen im Vorfeld und in Echtzeit

Seit 2004 müssen Fluggesellschaften den Grenzbehörden der EU-Staaten „Advanced Passenger Informations“ (API-Daten) liefern, die Angaben zur Person und den Ausweisdokumenten umfassen. Im Regelfall müssen sie nach dem Abgleich mit den entsprechenden Datenbanken gelöscht werden.[14] Im April beschlossen Rat und EU-Parlament die „Richtlinie über die Verwendung von Fluggastdatensätzen“ (PNR-Daten), der Widerstand dagegen im Parlament war nach den November-Anschlägen von 2015 in Paris zusammengebrochen.[15] Die Richtlinie zwingt Airlines oder Reiseveranstalter bei jeder Flugbuchung bis zu 60 Einzeldaten über die Passagiere – von Sitzplatz und Flugnummer über Essenwünsche bis hin zu Kreditkartendaten oder IP-Adressen – an die PNR-Zentralstellen (PIU) der jeweiligen Mitgliedstaaten zu übermitteln. Die Daten dürfen sechs Monate voll und danach weitere viereinhalb Jahre in „depersonalisierter“ Form gespeichert werden. Die PIUs gleichen sie nicht nur mit den einschlägigen nationalen und europäischen Datenbanken ab. Sie sollen auch „verdächtige und ungewöhnliche Reisemuster“ aufspüren und damit Risikoprofile erstellen. Europol erarbeitet und aktualisiert dafür Kriterien. Kurz nach Beschluss der PNR-Richtlinie kündigten sämtliche EU-Staaten an, „in Anbetracht der derzeitigen Sicherheitslage in Europa“ die Vorschriften nicht nur auf Flüge von der und in die EU, sondern auch auf innereuropäische Reisen anwenden zu wollen.[16] Die belgische Regierung will nun noch einen Schritt weiter gehen und wirbt für die Einbeziehung von grenzüberschreitend verkehrenden Bahnen, Fähren und Bussen in diese Praxis.[17]

Ebenfalls im April 2016 hat die Kommission ihren neuen Entwurf für ein „Ein-/Ausreisesystem“ (EES) vorgelegt.[18] Das Ziel der Datenbank ist die Erfassung sämtlicher Ein- und Ausreisen von visumspflichtigen und visumsbefreiten Drittstaatsangehörigen an den EU-Außengrenzen. Beim Grenzübertritt würden die in den Reisedokumenten enthaltenen biometrischen Daten – Gesichtsbilder und Fingerabdrücke – ausgelesen und zusammen mit „biographischen Informationen“ für fünf Jahre gespeichert. Das System wäre nach derzeitigen Planungen ab 2020 einsatzbereit. Anfangs als grenzpolizeiliches System gegen so genannte „Overstayer“ gefordert, wird das EES nunmehr zur Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung gerechtfertigt. Zugriff hätte dann auch die Polizeiagentur Europol. Einige Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, fordern darüber hinaus den Zugang für Geheimdienste.

Die Lücken schließen

Trotz der beschlossenen PNR-Richtlinie und dem geplanten EES hält die EU die Dichte ihrer Datenbanken für zu dünn. Ein anvisiertes „EU-wei­tes Reiseinformations- und -genehmigungssystem“ (ETIAS) soll deshalb die bestehenden Systeme zur Vorabinformation über geplante Grenzübertritte ergänzen. Informationen zu visumspflichtigen Personen werden zwar vor der Einreise über das VIS erhoben, auch das PNR-System erlaubt die Vorabkontrolle von Reisenden. Eine Lücke ergibt sich laut der Kommission jedoch für visumsbefreite Drittstaatsangehörige, wenn diese auf dem Landweg einreisen.[19] Vorbild für den nunmehr vorgelegten Vorschlag zum ETIAS[20] sind Systeme zur Einreisegenehmigung in den USA, Kanada und Australien. Jeder Grenzübertritt soll vorher angekündigt werden: Auf einem Internetformular müssten die Reisenden neben Personendaten auch Informationen zum geplanten Aufenthalt mitteilen.[21] Hierzu gehören der Zweck der Reise und ein Reiseplan. In der Diskussion ist auch, die geplanten Verkehrsmittel angeben zu müssen. Die Daten würden in einer „Vorabkontrolle“ von den zuständigen Grenzbehörden mit nationalen und internationalen Informationssystemen abgeglichen, Europol soll hierfür eine „ETIAS-Watchlist“ erstellen.

Ähnlich wie die PNR-Daten soll auch das ETIAS zur Abschätzung von Risiken insbesondere der irregulären Migration und der Sicherheit dienen. Migrationsrisiken sollen anhand statistischer Information aus dem ETIAS und dem EES über bestimmte Herkunftsländer und Gruppen ermittelt werden. Für die Erkennung von Sicherheitsrisiken sollen die Mitgliedstaaten Indikatoren erarbeiten. Derart vorkontrolliert könnten die Reisenden dann von einer schnelleren Abfertigung beim Grenzübertritt von automatischen Kontrollsystemen profitieren. ETIAS wird deshalb als Werkzeug zur „Reiseerleichterung“ bezeichnet. Eine garantierte Erlaubnis der Einreise bedeutet die Anmeldung jedoch nicht.

Interoperabilität

Sämtliche existierenden und geplanten Informationssysteme sollen in einem „EU-weiten integrierten biometrischen Identitätsmanagement für Reisen, Migration und Sicherheit“ verschmelzen. Wo erforderlich und machbar, müssten sie laut der Kommission in Zukunft „miteinander verbunden und interoperabel sein“. Vorgesehen ist die Einrichtung eines „gemeinsamen Datenspeichers“ für alle biometriebasierten Datenbanken (SIS II, Eurodac, VIS, ECRIS und EES) bei der Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen. Die Kommission bezeichnet das Projekt als das „ehrgeizigste langfristige Konzept für die Gewährleistung der Interoperabilität“. Der Vorschlag geht auf Bundesinnenminister Thomas de Maizière zurück, der kurz zuvor ein Papier zur Verknüpfung europäischer „Datentöpfe“ bei der Kommission eingereicht hatte und dies mit „Datenschutz ist schön, aber in Krisenzeiten wie diesen hat Sicherheit Vorrang“ begründete. Der Minister fordert zudem erweiterte Suchmöglichkeiten in den angeschlossenen Datenbanken. Biometrische Daten sowie dazugehörige „Kerndaten“ würden dem deutschen Vorschlag zufolge grundsätzlich nur noch einmal erfasst. Eine Software prüft dann, ob die Fingerabdrücke bereits in einer anderen Datenbank vorhanden sind. Ist dies der Fall, wird automatisch der beste und umfangreichste Datensatz genutzt. Im Idealfall sollen zu jeder Person zehn Fingerabdrücke vorliegen. Die Kommission kündigt außerdem die Entwicklung einer einheitlichen Suchmaske („Single Search Interface“) an, damit die NutzerInnen Informationen „mit einem einzigen Klick“ abrufen können. Behörden aus sechs Mitgliedstaaten, darunter auch das BKA, arbeiten bereits mit Europol an der technischen Umsetzung. Vorgesehen ist die Übernahme eines standardisierten Datenformats („Universal Message Format“) und der Automatisierung von Abfragen bei Europol („Automation of Data Exchange Processes“). Die weiteren Schritte des „EU-weiten integrierten biometrischen Identitätsmanagements“ werden nun von einer „hochrangigen Sachverständigengruppe für IT-Systeme und Interoperabilität“ beraten, die im Dezember ihren Fahrplan für ein „EU-weites „integriertes biometrisches Identitätsmanagement für Reisen, Migration und Sicherheit“ veröffentlichte. [22] Im April soll der endgültige Bericht vorliegen.

Die Melange von Terrorismusbekämpfung, Grenzschutz und Migrationskontrolle lädt dazu ein, die technischen und polizeilichen Wunschzettel in die Wirklichkeit umsetzen zu wollen. Das Schwergewicht der Kontrolle und Erfassung liegt nach wie vor auf den Daten von Nicht-EU-BürgerInnen. Dass das nicht so bleiben muss, zeigt das Protokoll der Untergruppe „neue Systeme“ der genannten „hochrangigen Sachverständigen“ vom 14. September 2016. Dort diskutierte man auch über nach dem Aufbau von ETIAS weiter bestehende „Informationslücken“: nämlich bezüglich der InhaberInnen längerfristiger Aufenthaltstitel und schließlich auch der EU-BürgerInnen selbst. Die Frage lautete: „Sollten die Reisebewegungen von EU-Staatsangehörigen beim Überschreiten der Außengrenzen erfasst werden oder reichen systematische Kontrollen, wie sie im revidierten Schengener Grenzkodex vorgesehen sind, aus?“[23] Sie wird vermutlich zugunsten einer Ausweitung beantwortet werden.

[1]    Bürgerrechte & Polizei CILIP 77 (1/2004), S. 92
[2]    Ratsdok. 13283/16 v. 14.10.16, S. 14
[3]    Ratsdok. 9795/16 v. 7.6.2015
[4]    BT-Drs. 18/7291 v. 18.1.2016
[5]    BT-Drs. 18/9762 v. 26.9.2016
[6]    COM(2016) 205 v. 6.4.2016, Ratsdok. 8437/1/16 v. 20.5.2016
[7]    COM(2016) 881, 882 und 883 v. 21.12.2016
[8]    Der Terrorismusbezug wird dabei unter Hinweis auf Art. 1-4 des Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung aus dem Jahre 2002 definiert (Abl. EU L 164 v. 22.6.2002).
[9]    derzeitige Fassung Abl. L 180 v. 29.6.2013; COM(2016) 272 final v. 4.5.2016, Ratsdok. 14710/16 v. 28.11.2016
[10] Ratsdok. 13283/16 v. 14.10.16, S. 16
[11] BT-Drs. 18/9762 v. 26.9.2016, S. 5
[12] Ratsdok. 6078/2/16 v. 19.4.2016
[13] COM(2016) 7 v. 19.1.2016
[14] RL 2004/82/EG, Abl. EU L 261 v. 6.8.2004
[15] Abl. EU L 119 v. 4.5.2016
[16] Ratsdok. 7829/16 v. 18.4.2016
[17] www.cilip.de v. 4.1.2017
[18] COM(2016) 194 final v. 6.4.2016
[19] COM(2016) 205 v. 6.4.2016
[20] Ratsdok. 14084/16 v. 16.11.2016
[21] https://etias.com
[22] www.statewatch.org/news/2016/dec/eu-com-hlg-interoperability-report.pdf
[23] Ares (2016) 5744990 v. 4.10.2016, s. statewatch.org/news/2016/nov/eu-com-etias.pdf

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