von Fabien Jobard
Die Anschläge von 2015 und 2016 waren die schlimmsten Massaker in Paris seit der Niederschlagung der Kommune im Jahre 1871. Durch den bis dato fünfmal verlängerten Ausnahmezustand hat sich der harte Kurs der französischen Behörden gegen den Terror einerseits und gegen arabischen Protest andererseits noch einmal deutlich verschärft.
Am 13. Juli 2016, einen Tag vor dem LKW-Attentat in Nizza, erklärte Justizminister Jean-Jaques Urvoas in einem Interview, der Ausnahmezustand werde Ende des Monats beendet. Er sei nicht mehr erforderlich, da mittlerweile auch ohne ihn alle notwendigen Mittel zur Terrorismusbekämpfung vorhanden seien.[1] Die allgemeine Panik nach dem Anschlag sorgte indes dafür, dass der Ausnahmezustand eine Woche später erneut verlängert wurde.
Die Bemerkung des Ministers ist dennoch zutreffend. Er verwies auf das üppige rechtliche Anti-Terror-Instrumentarium, das in Frankreich seit 1986 geschaffen und im Juni 2016, also während des Ausnahmezustands, mit einem neuerlichen Gesetz erheblich erweitert wurde.
Erstmals verhängt worden war der Ausnahmezustand nach den Attentaten von Saint-Denis und Paris in der Nacht zum 14. November 2015. Staatspräsident François Hollande stützte sich dabei auf ein 1955, während des algerischen Befreiungskrieges erlassenes Gesetz. Da dieses den Ausnahmezustand auf höchstens zwölf Tage beschränkte, legte die Regierung dem Parlament in Windeseile einen Neuentwurf vor, der bereits am 20. November 2015 in Kraft trat (Loi n°2015-1501). Nach Darstellung des Innenministeriums war dies das „schnellste“ Gesetzgebungsverfahren seit Verkündung der Verfassung 1958.[2] Bisher hat das Parlament dieses neue Notstandsgesetz vier Mal verlängert: im Februar und im Mai 2016 für jeweils drei Monate, im Juli 2016 für sechs Monate und im Dezember 2016 für sieben Monate, also bis zum 15. Juli 2017.
Der Erlass des Präsidenten traf auf keinerlei Widerstand in der angesichts des Ausmaßes der Anschläge erstarrten französischen Gesellschaft, und im Parlament stimmten nur sehr wenige Abgeordnete gegen das Gesetz vom 20. November. Die folgenden Verlängerungsgesetze wurden nicht mehr nur mit der weiterhin bestehenden Bedrohung durch den Terrorismus legitimiert. Der Ausnahmezustand müsse aufrechterhalten werden, „bis wir mit Daesh fertig sind“, erklärte Premierminister Manuel Valls in einem Interview mit der BBC am 22. Januar 2016, kurz bevor der Ministerrat den Entwurf des zweiten Verlängerungsgesetzes vorlegte.[3] In der dritten Runde war von der Sicherung der Fußball-EM und der Tour de France die Rede. Und in der vierten verwies man auf die kommenden Wahlen und die in diesem Zusammenhang zu erwartenden Kundgebungen und Demonstrationen.
Diese Legitimationsübungen konnten aber nicht verdecken, dass die von der Regierung beschworene (längerfristig) „anhaltende“[4] Bedrohungslage nicht mit den im Notstandsgesetz formulierten Voraussetzungen übereinstimmten, nämlich einer „unmittelbaren“ und damit kurzfristigen Gefahr bzw. „Ereignissen, die wegen ihrer Beschaffenheit und Schwere eine öffentliche Katastrophe darstellen“. Verschiedene Justizbehörden warnten deshalb bereits seit Dezember 2015 davor, dass das Ausnahmerecht zur Normalität werden könnte, brachten aber nicht den Mut auf, den Maßnahmen, die aufgrund des Ausnahmezustands angeordnet wurden, zu widersprechen oder sie aufzuheben.
Hinzu kommt, dass auch das Ausnahmerecht nicht dazu taugte, weitere terroristische Aktionen zu verhindern: Am 14. Juni 2016 wurde ein Polizisten-Ehepaar in seinem Wohnhaus nahe Paris ermordet, am 14. Juli folgte der o.g. Angriff mit einem LKW in Nizza, bei dem 86 PassantInnen ihr Leben verloren, und am 26. Juli wurde in der Nähe von Rouen ein Priester während der Messe getötet. Notstandsgesetze produzieren einen Teufelskreis: Ihr Versagen als Instrument der Terrorismusprävention führt nicht zu ihrer Aufhebung, sondern regelmäßig zu ihrer Verschärfung.
Dabei ist das Instrumentarium des Ausnahmezustands in Frankreich schon in seiner Ursprungsfassung sehr weitgehend gewesen.[5] Bereits das Gesetz von 1955 räumte den Präfekten, den lokalen Statthaltern der Regierung, u.a. Befugnisse ein, die Bewegungsfreiheit von Personen aufzuheben, Schutz- oder Sicherheitszonen einzurichten, in denen der Aufenthalt von Personen reglementiert wird, Aufenthaltsverbote zu verfügen, Hausarreste zu verhängen, Versammlungsstätten vorsorglich schließen und Wohnungen auch in der Nacht ohne richterliche Anordnung durchsuchen zu lassen.
Das Gesetz von November 2015 entschärfte zwar die in der Version von 1955 enthaltenen Ausnahmebefugnisse in einigen Punkten: Die Medienzensur und die Übertragung justizieller Kompetenzen an Militärgerichte wurden gestrichen. Die Voraussetzungen, die eine Anordnung außerordentlicher Maßnahmen erlauben, wurden jedoch erheblich herabgesetzt: Hausarreste oder Aufenthaltsverbote zielen nun nicht mehr auf Personen, „von denen eine tatsächliche Gefahr ausgeht“, sondern auf alle, „von denen anzunehmen ist, dass ihr Verhalten eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen könnte“.
Die Behörden haben diese Befugnisse weidlich und durchaus brutal angewandt. Im Schatten des Ausnahmezustands entwickelte sich jedoch auch ein „gewöhnliches“ Anti-Terror-Recht, das dem Notstandsrecht kaum nachsteht.
Der Aufbau eines „Bekämpfungsrechts“
Günter Frankenberg hat darauf hingewiesen, dass sich in den letzten Jahrzehnten in diversen Staaten ein „Bekämpfungsrecht“ entwickelt hat, das neue Konzepte von Normalität und Freiheit mit sich bringt.[6] In Frankreich war das Gesetz vom 9. September 1986 (Loi n° 86-1020) ein Meilenstein in dieser Entwicklung: Es dehnte die maximale Dauer des Polizeigewahrsams auf vier Tage aus, brachte einen neuen Straftatbestand der Verherrlichung von Terrorakten, erweiterte die staatsanwaltschaftlichen Befugnisse und begründete eine Sondergerichtsbarkeit für Terrorismus. 1991, 1992 und 1995 folgten weitere Anti-Terror-Gesetze, die u.a. die präventive Telefonüberwachung ermöglichten. Als Reaktion auf die Terrorwelle des Sommers 1995[7] wurden zwei weitere Gesetze verabschiedet, darunter das Loi n° 96-647, das die bloße Vorbereitung eines Terroraktes kriminalisierte. Im Herbst 2001, nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 in den USA, folgte ein befristetes Gesetz, das 2003 und 2006 verlängert und erweitert wurde: Das Loi n° 2006-64 erlaubte in Fällen von Terrorismus (und „ähnlichen Tatbeständen“, etwa im Bereich der Organisierten Kriminalität) einen Polizeigewahrsam von bis zu sechs Tagen. Einige Vorschriften galten bis Ende 2015.
Nach den Anschlägen von 2012[8] verkündete François Hollande das Gesetz n° 2012-1432, das die Teilnahme an Terrorakten, Kämpfen bzw. militärischen Vorbereitungen im Ausland unter Strafe stellte. Die Bedrohung durch aus Syrien zurück gekehrte DschihadistInnen und die hohe Zahl der schon 2013 in Frankreich verübten Anschläge dienten im Jahr darauf als Begründung für das Loi n° 2014-1353, das vorbeugende Ein- und Ausreiseverbote und eine vereinfachte Bestrafung der Terrorismusverherrlichung – und das nun nicht mehr nur die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, sondern auch die bloß individuelle Vorbereitung von Terrorakten – kriminalisierte. Die Tatbestandsmerkmale dieser Vorbereitung blieben dabei sehr unscharf.
2016 folgte eine erneuter Ausbau: Die Anti-Terror-Gesetzgebung wurde an jene Teile der Notstandsgesetzgebung angepasst, die erheblich erweiterte präventive Befugnisse der Exekutive vorsehen und gleichzeitig die gerichtliche Kontrolldichte reduzieren. Jean-Jacques Urvoas verwies in seiner Erklärung im Juli 2016 ausdrücklich auf das einen Monat zuvor verkündete „Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus und der Organisierten Kriminalität“ (Loi n° 2016-731), das in Teilen die Befugnisse aus den sukzessiven Notstandsgesetzen in das „normale“ Recht überführte: die erleichterten Möglichkeiten der Wohnungsdurchsuchung auch in der Nacht, die Vereinfachung der Identitätsfeststellung, die Fahrzeugdurchsuchung oder die Befugnis, Personen nach einer Wohnungsdurchsuchung ohne richterliche Anordnung zur weiteren Befragung in Gewahrsam zu nehmen. Die Verstrickung von Normalität und Ausnahmezustand zeigt sich am deutlichsten am vierten Notstandsgesetz, mit dem nicht nur den Ausnahmezustand verlängert wurde, sondern das zugleich neue Regelungen zur „Verstärkung der Terrorismusbekämpfung“ brachte (loi n° 2016-987). So wurde u.a. die Bewaffnung der StadtpolizeibeamtInnen[9] und der Zivilreserve erweitert. Letztere erhielt auch mehr Befugnisse.
In der Tat erfüllt die Anti-Terror-Gesetzgebung uralte Ausrüstungsforderungen von PolizeibeamtInnen und erweitert damit die praktische Macht der Polizeibehörden gegenüber einer immer schwächeren Zivilgesellschaft. Letztendlich muss die Auswirkung des Bekämpfungsrechts nicht nur an der direkten Nutzung straf- bzw. polizeirechtlicher Befugnisse gemessen werden, sondern auch ihrem indirekten Einfluss auf breitere Segmente des Staatsapparates.
Die Anwendung des Bekämpfungsrechts
Der Einfluss des über Jahrzehnte hinweg ausgebauten Anti-Terror-Rechts auf die Gesellschaft ist erheblich. Das Land wurde mit Notstandsmaßnahmen und -anordnungen überzogen, die Teile der Gesellschaft tief erschütterten, insbesondere (aber nicht nur) muslimische oder nordafrikanische Familien. Im Jahr seit der erstmaligen Verhängung des Ausnahmezustands, also vom 14. November 2015 bis zum 14. November 2016, erfolgten nicht weniger als 4.200 Durchsuchungen ohne richterliche Anordnung. 563 Hausarreste wurden angeordnet, davon galten 47 ununterbrochen von November 2015 bis Februar 2016. Die Polizeibehörden meldeten hunderttausende Identitätsfeststellungen auf der Grundlage der im 4. Notstandsgesetz eingeführten Regelungen. Dieselben Behörden führten während dieser Zeit darüber hinaus die üblichen verdachtsunabhängigen Kontrollen durch, die – ironischerweise – wie gewohnt ungemeldet erfolgten.[10] 540 Personen erhielten Platzverweise bzw. Aufenthaltsverbote im Zusammenhang mit Demonstrationen oder Kundgebungen. Wie Dominique Raimbourg (Vorsitzender des Rechtsausschusses der Nationalversammlung) und Jean Frédéric Poisson, die beiden Berichterstatter des Parlaments, festhielten, vermitteln schon diese wenigen Zahlen den Eindruck „einer Maßlosigkeit der angewandten Instrumentarien“.[11]
Die Berichterstatter mussten zwar einräumen, dass sie keine Aussagen über „die praktischen Durchsetzungsbedingungen“ der Anordnungen machen konnten, sie befürchteten aber erhebliche psychische und gesellschaftliche Folgen der Notstandsmaßnahmen, besonders bei letztendlich unschuldigen Betroffenen. Die notorisch[12] autoritäre französische Polizei musste schon wenige Tage nach der Verkündung des Notstandsdekrets vom 14. November 2015 vom Innenminister an die Leine genommen werden. In einer Anweisung erinnerte er daran, dass „der Ausnahmezustand in keiner Weise den Rechtsstaat ablöst“ und dass „seine Durchsetzung streng verhältnismäßig“ zu verlaufen habe; der Respekt gegenüber den Betroffenen müsse gewahrt werden. Auch der damalige Vorsitzende des Rechtsausschusses der Nationalversammlung (und spätere Justizminister) J.-J. Urvoas erwähnte in seinem Bericht zur Vorbereitung des 2. Notstandsgesetzes die „Gewalttaten“ von PolizeibeamtInnen. Währenddessen wurde das gewöhnliche Terrorismusbekämpfungsrecht in Anschlag gebracht, um insbesondere die gesellschaftlichen Befürchtungen über die angebliche geistige Abkoppelung eines Teils der französischen Jugend zu bedienen: So gab es 2015 täglich mehr als eine gerichtliche Verurteilung wegen Terrorismusverherrlichung, was der von der damaligen Justizministerin verlangten „systematischen Verfolgung“ solcher Taten entsprach.[13]
Gewalt und Staatsgewalt in der Gesellschaft
Der Terror und das Bekämpfungsrecht haben in den letzten Jahren zwar nicht zu einem grundsätzlichen Wandel in der französischen Gesellschaft geführt. Sie haben jedoch die langjährigen militaristischen und autoritären Neigungen legitimiert bzw. verschärft.
Zumindest in den Großstädten bietet Frankreich heute das Gesicht eines Landes, dessen Alltag von Militär und Waffen geprägt ist. Sowohl Polizeikräfte als auch Soldaten gehen in den Zentren der Metropolen mit Maschinenpistolen und in den abgelegenen Banlieuestädten mit Gummigeschoss-Gewehren auf Streife. Die Jahrzehnte alten Vorschriften des „Plan Vigipirate“,[14] die seit 1986 fast ununterbrochen die Präsenz von Soldaten im öffentlichen Raum gewährleisten, Ausflüge von Kindergruppen und Schulen einschränken und dafür sorgen, dass das Betreten öffentlicher Gebäude nur nach Kontrollen durch das Sicherheitspersonal möglich ist, wurden im Januar 2015 erneut verschärft, indem zunächst 7.000, dann weitere 10.000 zusätzliche Soldaten zum Dienst in den französischen Städten, an Bahnhöfen, Flughäfen usw. abkommandiert wurden. 12.500 weitere „einsatzfähige Reservisten“ (= bewaffnete pensionierte Polizei- und Gendarmeriebeamte und Freiwillige Helfer teilweise mit Polizeibefugnissen) wurden laut dem Innenminister im Juli 2016 kurz geschult und auf Streife geschickt. In den Schulen soll sich gemäß einer gemeinsamen Anweisung des Innenministers und der Bildungsministerin eine „Kultur der Risikobewältigung und der Sicherheit“ entfalten: Ab September 2016 mussten dort unter der Aufsicht der Präfekten auch Anti-Terror-Übungen veranstaltet werden.[15] Bei der Police Nationale und der Gendarmerie wurden angesichts der andauernden terroristischen Bedrohung etwa 5.000 neue Stellen geschaffen. Die RekrutInnen durchlaufen nun eine beschleunigte Ausbildung (8,5 statt 12 Monate).
Besorgniserregend ist aber nicht nur die die bloße Zahl der bewaffneten VertreterInnen des Staates auf öffentlichen Plätzen, sondern auch die wachsende Rolle der Polizei und überhaupt der Staatsgewalt in der Gesellschaft. Erste Zeichen dafür sind unter anderem die immer weniger in Frage gestellten Einsätze der verschiedenen Einsatzkommandos gegen TerroristInnen. Mohammed Merah (s. Fn. 8) wurde 2012 in seiner Wohnung erschossen, ohne dass es dafür einen zwingenden Grund gegeben hätte. Ein noch fragwürdigerer massiver Einsatz in Saint-Denis am 18. November 2015 erregte keine öffentliche Diskussion: Zwei Männer, die vier Tage zuvor an den Anschlägen beteiligt waren, und ihre Cousine schossen elfmal. Die Polizeikräfte feuerten dagegen 5.000 Patronen ab. In der Terrorbekämpfung scheint die Unterscheidung zwischen Notwehr und Gewaltorgien verschwunden zu sein. Hinzu kommt der tägliche Gebrauch sog. nicht-tödlicher Waffen wie Schockgranaten und Gummigeschosse. 2014 gab es einen Todesfall durch eine Schockgranate. Gummigeschosse führten in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Todesfall, über 20 Personen verloren durch Gummigeschosse ein Auge. Von Deutschland aus betrachtet scheint die Situation außer Kontrolle geraten zu sein.
In einem Kontext durch die Terrordrohung schwankender allgemeiner Sicherheit wissen manche PolizeibeamtInnen das plötzlich weit offene Opportunitätsfenster zu nutzen. Sicherlich nicht das geringste Paradox des Notstands besteht darin, dass unangemeldete Demonstrationen doch ständig stattgefunden haben – und zwar veranstaltet von PolizeibeamtInnen. Nachdem im Oktober 2016 drei Polizeibeamte durch einen Molotowcocktail-Angriff schwer verletzt wurden, gab es mehrere unerlaubte Demonstrationen von bewaffneten, uniformierten und vermummten PolizeibeamtInnen, die sich u.a. für eine Liberalisierung des polizeilichen Schusswaffengebrauchs einsetzten. Dass Träger der Staatsgewalt in einem so angespannten Kontext sich Räume für solche Kraftproben erkämpfen und diese zum größten Teil erfolgreich nutzen, zeigt die eigentliche Gefahr des Terrors und seiner Bekämpfungsmaschinerie: die Machübernahme durch die Hüter der Rechtsordnung. Seit dem Regimewechsel von 1958 (Machtübernahme durch General Charles de Gaulle) sind die Kräfteverhältnisse zwischen Polizei, Politik und Gesellschaft in Frankreich nie mehr so angespannt gewesen – und diese Anspannung ist viel dramatischer, als es die Berichte der deutschen Tagespresse vermuten lassen.