von Benjamin Derin und Michèle Winkler
Kritik an der Polizei ist so alt wie die Institution selbst und reicht von Reformvorschlägen über das Nachdenken über Alternativen bis zu Forderungen nach ihrer Abschaffung. Der Artikel skizziert die Ausgangspunkte anhand einiger zentraler Ansätze und wagt einen perspektivischen Ausblick.
Im Juli 2014 starb Eric Garner an einem polizeilichen Würgegriff. Seine letzten Worte „I can‘t breathe“ wurden zum Slogan gegen tödliche Polizeigewalt und zur Metapher für den Druck, der auf Schwarze Leben wirkt und ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Auch George Floyd äußerte im Mai 2020 mehrmals vergeblich, dass er nicht atmen könne, bevor er unter dem Knie eines US-Polizisten starb. Das Video der grausamen Behandlung Floyds ging um die Welt. Massive Proteste in den USA folgten. Die Black Lives Matter (BLM)-Bewegung forderte weitreichende Polizeireformen bis hin zur Abschaffung der Polizei. Einer der meistgenutzten Slogans war „Defund the police“ (Streicht der Polizei die Mittel!). Die Proteste fanden einen globalen Resonanzraum, in Deutschland beteiligten sich über 200.000 Demonstrant*innen, viele von ihnen Schwarz und People of Color (PoC). Die Dimensionen verdeutlichen: Es scheint mittlerweile ein gewisses öffentliches und mediales Problembewusstsein für (rassistische) Polizeigewalt zu geben. Es zeigt sich ein wachsendes Interesse an kritischen Perspektiven auf die Polizei, an Überlegungen zu abolitionistischen Ansätzen und zu Übertragungsmöglichkeiten von „Defund the police“ auf den deutschen Kontext.
Abolish und Defund als abolitionistische Konzepte
Vanessa E. Thompson ordnet beide Forderungen – „Abolish“ und „Defund“ – der Bewegung für transformative Gerechtigkeit zu, die emanzipatorische Alternativen zu den herrschenden Formen des Umgangs mit Gewalt zu entwickeln sucht. Abolitionistische Bewegungen knüpfen an den Kampf zur Abschaffung der Sklaverei an und konzentrieren sich heute v.a. auf Strafregime und ihre Institutionen: Polizei, Gefängnisse, aber auch andere repressive Institutionen wie Geflüchtetenlager oder Psychiatrien. Ziel ist die Verwirklichung einer Gesellschaft, in der auf soziale Probleme und Gewalt nicht mit Kriminalisierung, Repression und Einsperrung reagiert wird. Demzufolge müsse sowohl staatlicher als auch interpersonaler Gewalt mit neuen Praktiken zur Herstellung von Gerechtigkeit begegnet werden. Diese visionären Praktiken würden insbesondere in Communities entwickelt, die sich simultan einem hohen Maß staatlicher als auch gesellschaftlicher Gewalt ausgesetzt sehen: Schwarze (trans*) Frauen, nichtbinäre oder illegalisierte Personen. Eine aus abolitionistischen Ideen abgeleitete Forderung ist insofern das Abziehen finanzieller Ressourcen von der Polizei (Defunding), um die Mittel in andere Bereiche umzuverteilen: in sozialen Wohnungsbau, medizinische Versorgung oder ins Bildungswesen. Dabei dürfe aber nicht einfach auf einen Wohlfahrtsstaat gesetzt werden, der selbst viel zu oft repressiv agiere und Ausschlüsse produziere. Vielmehr gehe es „um eine umfassende gesellschaftliche Transformation und Stärkung von Institutionen der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe sowie der sozialen, intersektionalen und sozioökonomischen Gerechtigkeit“.[1]
Was heißt Polizeikritik in Deutschland?
Die Vehemenz, mit der die Black Lives Matter-Proteste in Deutschland auf die Straße getragen wurden, überraschte zunächst. Schließlich handelte es sich bei den geltend gemachten Problemen nicht um neue Phänomene. Möglicherweise spielten neben Polizeigewalt und Alltagsrassismus auch der rechte Terror und die Enthüllungen über rechte Netzwerke in Sicherheitsbehörden eine Rolle. Im Juni 2020 waren erst wenige Monate seit dem rassistischen Anschlag in Hanau vergangen. Entwürdigende Behandlungen durch die Polizei, RacialProfiling und Polizeigewalt sind zudem Themen, die auch in Deutschland virulent sind. Fragt man Schwarze und (post-)migrantische Communities, Geflüchtete, Wohnungslose, Drogennutzer*innen, prekär lebende Menschen und Aktivist*innen, dann wird schnell klar, dass es eine ganz andere Erfahrung mit polizeilichem Handeln gibt als die des Beschützers. Zu betonen ist dabei die differenzielle Funktionsweise der Polizei: „Während sie die Ordnung der einen beschützt, behandelt sie die anderen als deren Bedrohung.“[2] Die Polizei ist eben nicht einfach dazu da, Sicherheit für alle herzustellen, sondern erhält letztlich eine ganz bestimmte Ordnung bzw. Sicherheitskonzeption aufrecht, die wiederum von den herrschenden Verhältnissen geprägt ist.
In Deutschland existieren verschiedenste Ansätze und Schwerpunkte von Polizeikritik. Sie reichen von der Benennung von Fehlverhalten über Reformvorschläge bis zu abolitionistischen Bestrebungen. Obwohl die Kritik an der Polizei so alt ist wie die Institution selbst, schien fundierte Polizeikritik selbst in der politischen Linken lange Zeit eher ein Nischendasein zu führen. Es gibt wenig gesellschaftlich verbreitetes Wissen, kritische Forschung und mediale Vermittlung und relativ wenige zivilgesellschaftliche Akteur*innen, die sich auf den Bereich fokussieren. Tendenziell nehmen Reformüberlegungen dabei den meisten Raum ein.[3] Abolitionistische Ansätze werden hingegen nur vereinzelt diskutiert. Perspektiven, in denen Rassismus als konstituierendes Element polizeilicher Praxis untersucht wurde, waren die Ausnahme. Insbesondere die BLM-Proteste haben nun eine Debatte entfacht, die diese fundamentalen Fragen auf die Tagesordnung katapultierte. Der Backlash folgte unmittelbar: Sobald Polizeikritik breiter rezipiert wird, ruft sie Abwehrreflexe und Einhegungsversuche hervor. Exemplarisch dafür stehen die heftigen Reaktionen auf die Aussage von SPD-Parteichefin Saskia Esken, auch in Deutschland gebe es „latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte“. Der darauf folgende Sturm der Empörung ging so weit, dass Esken von Parteikollegen öffentlich vorgeführt wurde und vor Polizeischüler*innen Abbitte leisten musste.[4] Die Problemfelder, an denen polizeikritische Interventionen ansetzen, sind vielfältig und interdependent. Wir skizzieren nachfolgend einige der spezifischen #Polizeiprobleme der bundesdeutschen Gegenwart und die sich daraus ergebenden Perspektiven der Kritik.
Die gewaltkritische Perspektive
Ausgangspunkt vieler kritischer Positionen ist die Erkenntnis, dass Polizei und Gewalt untrennbar miteinander verbunden sind. Wesensmerkmal dieser Institution ist, dass sie im Auftrag der Gesellschaft Gewalt einsetzen darf und soll. Wenngleich der Großteil der alltäglichen polizeilichen Tätigkeiten ohne Gewalt abläuft, ist es doch diese Befugnis, die sie prägt. Eine Polizei ohne Gewalt gibt es nicht. Dies trifft theoretisch zu, weil die Anwendung von Gewalt die charakteristische Funktion der Polizei ist, aber auch praktisch, weil Polizist*innen jeden Tag irgendwo unmittelbaren Zwang anwenden und an gewalttätigen Konflikten beteiligt sind. Bereits diese Gewaltförmigkeit des Staates, dieser gesellschaftliche Auftrag lässt sich problematisieren. Hierbei kann herrschaftskritisch darauf abgestellt werden, dass schon die Grundannahme notwendiger Gewalt bzw. einer auf dieser Notwendigkeit aufbauenden sozialen Ordnung nicht zu legitimieren sei. Andererseits kann betont werden, dass eine Organisation, die aus einer solchen Institutionalisierung von Gewalt hervorgeht, grundsätzlich problembehaftet und daher kritisch zu betrachten sein wird. Beide Herangehensweisen widersprechen jedenfalls der gängigen Ansicht, dass die Probleme nur in der Art und Weise polizeilicher Gewaltausübung begründet liegen oder dem Umstand, dass sie mitunter gegen „die Falschen“ angewandt wird.
Dennoch eröffnet die Befassung mit genau dieser exzessiven bzw. fehlerhaften Anwendung von Gewalt eine weitere bedeutsame Perspektive der Kritik. „Polizeigewalt hat es nicht gegeben“ ist nicht nur die Lüge, die Olaf Scholz nach dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg erzählte, sondern auch eine Staatsdoktrin. Dass es regelmäßig zu polizeilichen Gewaltexzessen kommt, wird bewusst in Kauf genommen und zugleich vehement geleugnet, obwohl dies zu Genüge dokumentiert ist. Die Polizei ist gegen die Vorwürfe weitgehend immunisiert. Die rund 2.000 Verfahren pro Jahr wegen Körperverletzung im Amt werden überwiegend eingestellt (rund 98%). Wie eine neue Studie bestätigt hat,[5] dürften solche Vorfälle sogar noch weitaus häufiger sein. Besonders drastisch wirkt sich die mangelnde Konfrontation polizeilicher Gewalt mit Blick auf Todesfälle aus. Polizeibehörden oder andere staatliche Stellen veröffentlichen keine Statistiken darüber, wie viele Menschen auf diese Weise sterben.[6] Informationen werden stattdessen v.a. durch unabhängige Recherchen erhoben. So listet Otto Diederichs in dieser Zeitschrift jährlich die Zahl polizeilicher Todesschüsse auf.[7] Und die Kampagne Death in Custody dokumentierte mittlerweile 181 Todesfälle von Schwarzen Menschen, People of Color und von Rassismus betroffenen Menschen aufgrund Polizeigewalt und in Gewahrsamssituationen seit 1990 und geht von weiteren noch unbekannten Fällen aus.[8]
Die antirassistische Perspektive
Nicht nur die Diskussionen um RacialProfiling oder das Konstrukt der „Clan-Kriminalität“ bieten ausreichend Anknüpfungspunkte für eine rassismusspezifische Kritik. Trotz so herausragender Arbeiten wie Farbe Bekennen[9] oder Deutschland Schwarz Weiß[10] gibt es kein hinreichendes Verständnis für die Alltäglichkeit von Rassismus in Deutschland. Dieser wird im Nationalsozialismus und der Kolonialzeit verortet und als weitgehend überwunden angesehen. Häufig werden nur offensichtliche, intendiert rassistische Handlungen als solche anerkannt. In der deutschen Polizeiforschung ist insofern lange Zeit lediglich das Vorliegen offener rassistischer Einstellungen unter Polizist*innen untersucht worden, deren Ausmaß sodann relativiert wurde.[11] Die neuere Rassismusforschung zeigt jedoch, dass rassistische und völkische Denkmuster weiterhin die (deutsche) Gegenwart bestimmen. Zudem wirken sich auch nicht intendierte, rassistische Aussagen oder Handlungen auf die Betroffenen und ihr Wohlbefinden aus. Schließlich verändern sich Konzepte und Artikulationsformen des Rassismus mit der Zeit – so hat etwa eine Verschiebung von biologischem Abwertungsrassismus zu kulturalistischem Rassismus stattgefunden.[12]
Über das Verhalten von Individuen hinausgehend bezeichnet struktureller Rassismus insofern geteilte Annahmen, Routinen und Entscheidungsabläufe, die Schwarze Menschen und PoC faktisch benachteiligen und ausgrenzen. Die Konstruktion des „Anderen“ anhand von Kategorien von „race“ als erster Ebene ermöglicht auf zweiter Ebene eine konkrete Ausgrenzungspraxis.[13] Werden solche Strukturierungen durch Institutionen vorgenommen oder perpetuiert, spricht man von institutionellem Rassismus. Gerade Polizei und Justiz greifen in ihrer Arbeit auf derartige Schematisierungen zurück, was häufig zu einer faktischen Benachteiligung nicht-weißer Menschen führt, die aber nicht reflektiert wird.[14] Diesen Komplexitäten werden auch etablierte Vertreter*innen kritischer Positionen nicht immer gerecht, wenn etwa von „Fremdenfeindlichkeit“ die Rede ist oder struktureller und institutioneller Rassismus in der Polizei negiert wird. Insbesondere Thompson weist hier auf Leerstellen in weiß dominierten kritischen Theorien der Polizei hin und betont die Notwendigkeit einer intersektionalen und postkolonialen Perspektive.[15] Eine so verstandene kritische Polizeiforschung setzt an den Erfahrungen marginalisierter Gruppen und Subjekte an.
Die Perspektive auf rechte Strukturen
Neben den benannten unbewusst und strukturell wirkenden Rassismen (und weiteren, sich überlagernden Ausschlussmechanismen) existiert ein erschreckendes Maß an intendierten Ausdrucksformen extrem rechter Gesinnung in den Sicherheitsbehörden. Im Herbst 2020 verging kaum ein Tag, an dem keine neue Meldung über rechtsextreme Verdachtsfälle in Polizei, Militär und Geheimdiensten veröffentlicht wurde – von Chatgruppen und dem Zurschaustellen von NS-Symbolik über gezielte „Jagd auf Migrant*innen“ im Dienst bis hin zur Bildung terroristischer Gruppen mit Umsturz- und Vernichtungsplänen. Allein in den letzten drei Jahren sind zahlreiche Beispiele öffentlich geworden: der Komplex „NSU2.0“, die rechte Terrorzelle „Gruppe S.“, der rechtsradikale, paramilitärische Verein „Uniter“,„Nordkreuz“, das „Hannibal“-Netzwerk, Franco A., aufgeflogene Chatgruppen in nahezu allen Bundesländern.[16] Oft werden sie als Einzelfälle verhandelt, angesichts der Bedrohungslage sind der gesellschaftliche Aufruhr und die politischen Konsequenzen verschwindend gering. Das Innenministerium lehnt Studien über die Verbreitung rechter Einstellungen und Strukturen ab. Aus dieser Perspektive wird die Polizei als Raum rechter Netzwerke kritisiert.
Die rechtsstaatliche Perspektive
Andererseits lässt sich die abstrakte Rolle der Polizei in der Staatsstruktur in den Blick nehmen. Anlass hierfür bietet typischerweise die legislative Ausweitung polizeilicher Befugnisse, wie sie in den letzten Jahren vermehrt zu beobachten war. Was die Polizei darf und was sie nicht darf, kann für ihr Verhältnis zur Bevölkerung und ihre Verortung im staatlichen Rahmen prägend sein. So findet die Verhandlung der staatlichen und sozialen Verfasstheit zwischen autoritären und liberal-demokratischeren Tendenzen häufig auch anhand oder gegenüber der Polizei statt. Die Entwicklung der polizeilichen Ermächtigungen ist hier durch einen stetigen Ausbau gekennzeichnet. Dies umfasst meist die Etablierung neuer Mittel und Eingriffsrechte (von den jeweils aktuellen technischen Überwachungsmethoden über Waffen und Ausrüstung bis zu Gewahrsam, Fußfesseln und Aufenthaltsverboten), Versuche der Vereinheitlichung der als Konsequenz aus der faschistischen Diktatur dezentralisierten Landesgesetze sowie das Herabsetzen und Aufweichen der Eingriffsschwellen. Vor allem die gegenwärtige, seit 2017 rollende Welle von Reformen der Landespolizeigesetze wird von dem Gedanken der Vorverlagerung dominiert. Unter Stichworten wie der „drohenden Gefahr“ darf (und soll) die Polizei dabei immer früher eingreifen, muss ihren Verdacht weniger konkretisieren und kann ihre Grundrechtseingriffe immer leichter rechtfertigen. Parallel dazu enthält auch das Strafrecht zunehmend Tatbestände, die weit im Vorfeld ansetzen (wie die „Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Straftat“, § 89b StGB). Aus dieser Perspektive gilt es, die Tendenz der permanenten Ausweitung polizeilicher Befugnisse umzukehren und die Polizei rechtsstaatlich einzuhegen.
Die sicherheitspolitische Perspektive
Dass trotz schwerwiegender Missstände kein breites gesellschaftliches Nachdenken über Sinn und Zweck polizeilichen Tuns zu vernehmen ist, sondern die Polizei sogar an Bedeutung gewinnt, kann auch vor dem Hintergrund des allgemeinen Diskurses betrachtet werden. Dieser wird seit einiger Zeit von dem Primat der Sicherheit und Prävention beherrscht. Resultat ist ein öffentliches, medial vermitteltes Streben nach hundertprozentiger Sicherheit und Risikominimierung, an dem sich heute der gesamte Apparat der Inneren Sicherheit und der Politik ausrichtet, das aber wiederum von diesen Akteur*innen bespielt und so in der Bevölkerung verstärkt wird. Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen muss der Polizei ersichtlich eine enorme Bedeutung zukommen. Wie der sprichwörtliche Besitzer eines Hammers in jedem Problem einen Nagel sieht, sieht eine obsessiv mit Sicherheit und Gefahren befasste Gesellschaft in jedem Problem eines der Inneren Sicherheit und damit ein polizeiliches. So werden soziale Konflikte großflächig in die Sphäre der Polizei verlagert. Aus dem wirtschaftlichen Problem der Wohnungslosigkeit und dem gesundheitlichen Problem der Drogensucht wird das polizeiliche Problem des zu vertreibenden Obdachlosen. Die 110 wird individuell wie politisch zur ersten und einzigen Bewältigungsstrategie, die anderweitige Problemlösungskompetenzen verdrängt. Dabei können gerade Situationen, in denen eine als Allzweckwaffe missverstandene Polizei auf Lagen trifft, zu deren Bewältigung sie nicht adäquat befähigt ist, fatal enden, wie der Schusswaffeneinsatz gegen psychisch kranke Menschen zeigt. Aus dieser Perspektive folgen Forderungen nach einer diskursiven Umrüstung sowie der Umverteilung von Mitteln hin zu Stellen, die besser geeignet sind, den Ursachen sozialer Konflikte zu begegnen.
An diese Betrachtung schließt sich die Frage an, wie die Polizei selbst in den Diskurs hineinwirkt. Auch insofern lässt sich ein Bedeutungszuwachs der Polizei im Sinne diskursiver Macht feststellen. Sie drängt zunehmend aktiv in Debatten hinein und verfolgt dabei dezidiert eigene Interessen. Polizeigewerkschaften äußern sich zu tagespolitischen Themen, Polizeiaccounts bewerten auf sozialen Medien das Einsatzgeschehen live und Polizeivertreter*innen werden vor Strafrechtsverschärfungen im Rechtsausschuss angehört. Weil wie dargelegt auch die Politik der Logik der Inneren Sicherheit folgt (und mit Law andOrder-Positionierungen Wahlen gewonnen werden), wird diese Entwicklung aus der Parteienlandschaft erheblich befördert. Sich nicht bedingungslos hinter die Polizei zu stellen oder gar Kritik an ihr zu äußern, ist mit einem hohen politischen Preis verbunden. Damit wird in der Polizei ein Selbstverständnis bestärkt, demzufolge sie nicht in erster Linie den Bürger*innen dient, sondern diese ihr gegenüber zu Respekt und Gehorsam verpflichtet seien. Die in Politik, Medien und Bevölkerung oft nur geringe Bereitschaft, polizeiliches Agieren zu hinterfragen, hat ein Kontrollvakuum verursacht, das von polizeilicher Seite häufig als selbstverständlich wahrgenommen wird und das gegenwärtig – nicht zuletzt auf das Betreiben der Polizei als politischer Akteur*in hin – weiter ausgedehnt wird.
Im polizeilichen Narrativ steht sie hingegen als „thinblueline“ an der Front des Krieges gegen die Feinde der Gesellschaft, während man ihr auch noch mit Vorhaltungen in den Rücken fällt. Dem entspricht es, dass sich innerhalb der Polizei praktisch keine effektive Fehlerkultur entwickeln konnte. Kritik wird als ungerechtfertigter Angriff empfunden und löst Abwehrreflexe aus. So wird der Hinweis auf den Umstand, dass es auch exzessive polizeiliche Gewalt und rassistische Polizist*innen gibt – was rein empirisch betrachtet niemand ernsthaft wird bestreiten können – nicht etwa zum Anlass genommen, diese Phänomene zu verurteilen und soweit möglich zu reduzieren. Stattdessen werden Gegenerzählungen von steigender Gewalt gegen die Polizei entworfen und Rassismuserfahrungen als Hirngespinste abgetan. Aus dieser Kritikperspektive stellen sich die Entwicklungen als Entfremdung der Polizei von der demokratischen und pluralistischen Gesellschaft dar, in deren Namen sie handeln sollte.
Was tun? Ein Ausblick
Aus den unterschiedlichen Perspektiven ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen. Es ist nicht das Anliegen dieses Textes, umfassende Lösungen für die umrissenen Probleme zu liefern. Fest steht, dass sich die Debatten um die Polizei in den letzten Monaten verändert haben. Es gibt deutlich mehr Medienberichte und Veranstaltungen zu Polizeigewalt und Polizeikritik als noch vor einem Jahr. Es gilt, die geöffneten Diskursräume zu besetzen, die begonnen Debatten zu verstetigen, sie mit aktueller Forschung und Daten, weiteren Perspektiven und Positionen anzureichern.
Mittlerweile werden auch hierzulande wahrnehmbar(er) Forderungen artikuliert. Wie bei anderen politischen Problemen reichen auch hier die Vorschläge von vereinzelten Reformen bis hin zu einer vollumfänglichen Transformation. Abolitionistische Perspektiven und Organisierungsversuche sind die progressivsten dieser Ansätze, benötigen jedoch ausreichend Raum, um sich entfalten zu können. Viele Reformvorschläge hingegen – von der Anpassung der Ausbildung über die Verbesserung der interkulturellen Kompetenz bis zum Einsatz von Bodycams – drohen für sich allein genommen, an der Oberfläche der benannten Probleme zu verharren. Die Diskussion um Abolitionismus in Bezug auf die Polizei im deutschsprachigen Raum kann und muss dabei von den Theorien und Erfahrungswerten von Abolitionist*innen andernorts profitieren. Sich voreilig in Projekte für Community-basierte Sicherheit und transformative Gerechtigkeit zu stürzen, kann jedoch schnell zu Misserfolgen und Frustration führen und die Debatte möglicherweise im Keim ersticken.
Abolitionistische und reformistische Bestrebungen schließen sich nicht notwendigerweise aus. Es gibt eine Vielzahl von Reformen, die abolitionistischen Ansätzen nicht entgehen stehen, sondern ggf. als Etappen gelten können. Dazu dürften einerseits solche Vorhaben zählen, die eine demokratische Kontrolle und eine Beschränkung der Befugnisse der Polizei erbringen – u.a. Kennzeichnungspflichten, unabhängige Beschwerde- und Ermittlungsstellen, die Abschaffung verdachtsunabhängiger Kontrollen und „gefährlicher Orte“, ein Moratorium für die Ausweitung von Sicherheitsgesetzen sowie die Rücknahme der Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre. Aber auch Entkriminalisierung und polizeiliche Entwaffnung können dazu gehören. Der Defunding-Ansatz kann einen entscheidenden Fortschritt darstellen. Auch sind Reformen besonders drängend, die Betroffene vor Stigmatisierung, Gewalt und Tod schützen. Darunter fällt die effektive zivilgesellschaftliche Kontrolle der Polizei, beispielsweise durch das Monitoring von RacialProfiling, Polizeigewalt und Todesfällen, die Ächtung rassistischer Konzepte wie „Clankriminalität“, aber auch die Erarbeitung von Schutzkonzepten, die ohne die Anrufung der Polizei auskommen. Alternativen können allerdings nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Verhältnissen verhandelt werden. Herrschaftsverhältnisse werden durch staatliche Gewalt reproduziert und verfestigt, seien es vergeschlechtlichte, sozioökonomische oder andere Ungleichheiten. Deswegen sind intersektionale Ansätze unabdingbar.
Letztlich wird es auch darum gehen, den autoritären Backlash abzuwehren. Für den Moment hat die gesteigerte Aufmerksamkeit für Polizeigewalt und rechte Netzwerke zu keiner politischen Veränderung geführt. Im Gegenteil: schon die Durchführung externer Studien wird blockiert und eine Vielzahl weiterer Gesetzesverschärfungen ist in der Pipeline. Um dem etwas entgegen zu setzen und neben (derzeit häufig erfolglosen) Abwehrkämpfen auch emanzipatorische Fortschritte zu machen, gilt es, auch Energie darauf zu verwenden, den Austausch von Erfahrungswissen und die Vernetzung voran zu treiben.