Alternativen von Strafrecht und Polizei: Eine ernüchternde Geschichte

von Helga Cremer-Schäfer

In der Auseinandersetzung um rassistische Polizeigewalt kommt auch die Kritik an Polizei und Gefängnis, an Überwachen und Strafen, wieder zu ihrem Recht. Sozialarbeit wird als Alternative zur Polizei diskutiert. Diese Alternative ist problematisch, solange sie einige Grundannahmen zur Bekämpfung von „Kriminalität“ nicht in Frage stellt.

Sowohl durch den polizeilichen Zugriff der Gefahrenabwehr mit Platzverweis und Gewahrsamnahme als auch durch Verurteilung von Straftäter*innen und ihre Unterbringung in Gefängnissen findet Ausschließung statt. Die Delinquent*innen werden zeitweise aus der Gesellschaft entfernt. Dies ist die breit akzeptierte Form, in der der Staat „Kriminalität bekämpft“. Zu den seltenen historischen Bedingungen, Ausschließungsvorgänge zu begrenzen, gehörten heute zurückgedrängte, doch nicht ganz verschwun­dene professionelle, disziplinäre und wissenschaftliche Gegenbewegungen, die gegenüber staatlich organisierter Bestrafung und dem zugehörigen Ausschlusswissen (wie der traditionellen Anwendungswissenschaften Kriminologie, Psychiatrie, repressiven Fürsorgewissenschaft) eine abolitionistische Haltung einnahmen. Das hieß, institutionell verwaltete Etiketten – „Verbrechen“, „Asozialität“, „Hangtäter*innen“, „Wohlstandsverwahrlosung“ – als Zuschreibung des Status eines „minderen Menschen“ zu analysieren,[1] geschlossene Anstalten/Ge­fäng­nisse als organisierte Ausschließung zu kritisieren, Verdinglichungen durch alternative Herrschaftstechniken zum Objekt von Kritik zu machen und im Negativen eine mögliche andere Zukunft aufscheinen zu lassen: ohne Ausschließungsregime, ohne Ausschließung durch Einschließung in all ihren Formen, ohne speziell die Institution Verbrechen & Strafe, ohne eliminatorische und technische Problemlösungsphantasien, ohne institutionelle Stigmatisierung durch Kontroll-Institutionen.

Die in den 1960er und 1970er Jahren durchgesetzten Modernisierungsreformen von Strafrecht beruhen auf instrumenteller Kritik von Apparaten und von zugehörigem kriminologischem Ausschluss-Wissen. Für Polizei, Strafjustiz und Gefängnis sind bis heute recht unterschiedliche Folgen erkennbar. Modernisierung bei der Polizei bedeutete Aufrüstung als Organisation von Kriminalitätskontrolle. Der Polizei-Apparat hat sich von Beginn an als wirksames und überlegenes Instrument von Kriminalitätskontrolle behauptet und auch durchgesetzt. Die (europäische) Strafjustiz war für Modernisierungsreformen stärker auf eine Allianz mit Institutionen sozialer Kontrolle angewiesen: „Helfen statt Strafen“, „Strafe als Erziehung“. Ohne Sozialarbeit keine Begrenzung der durch Stigmatisierung produzierten „Rückfälligkeit“, keine Verhinderung „kri­mineller Karrieren“, keine Resozialisierung, keine Pädagogisierung von Strafen und damit keine Lösung „sozialer Probleme“ – vor allem keine Lösung der Probleme, die in Folge von Gefängnisstrafen erst entstehen (Arbeitslosigkeit, Armut).

Institutionalisierten Alternativen (wie Soziale Arbeit), die sich auf soziale Kontrolle von Normabweichung verpflichten lassen, üben sich seit dem Übergang zum neoliberalen, „aktivierenden“ Sozialstaat verstärkt in der Praxis von „Grenzen ziehen“. Sie konstituieren ihr Objekt wie gehabt über die Klassifikation: (re)formierbar – nicht (re)formierbar. Das Aussortieren von nicht (Re)Formierbaren erfolgt inzwischen nach der schnellen Logik von „three strikes and you are out“: stärker als in der Phase des wohlfahrtstaatlich regulierten Fordismus werden Ausschluss-Etiketten formuliert: „Mehrfach- und Intensivtäter*innen“, „besonders auffällige Straftäter*innen unter 21“ auf Seiten der Polizei, „Systemsprenger*innen“ und „Risikogruppen“ auf Seiten Sozialer Arbeit. Geschlossene Anstalten gelten zunehmend als notwendiges Kontrollinstrument für die „Schwierigen“ der Jugendhilfe-Klientel. Die Logik des staatlichen Strafrechts („Punitivität“) findet sich seit Mitte der 1980er Jahre in Methoden von Verhaltenskontrolle, später in der von „risikoorientierter“ Bewährungshilfe beziehungsweise Straffälligenhilfe; Jugendgerichtshilfe versteht sich wieder als Sozialer Dienst für Strafjustiz. Hinzu kommen Ermächtigungen für soziale Professionelle „von der Kita bis zur geschlossenen Unterbringung“, sich als „neue Autorität“ in Erziehungs-Hilfen zu präsentieren.[2] In der Propagierung und Anwendung von „hilfreichem“ Zwang und Disziplinarstrafen, der Selbstverständlichkeit der Anwendung von „Freiheitsentziehenden Maßnahmen“ der Jugendhilfe zeigen sich punitive Tendenzen. Damit ist gemeint, dass Formen von Verhaltenskontrolle, von Devianz-Theorien, Etiketten und Legitimationsmustern für Ausschlüsse entwickelt werden, die der staatlich organisierten Bestrafung ähneln. Soziale Arbeit, die als soziale Kontrolle von Delinquenz und Kriminalität verstanden wird, beteiligt sich aktiv an der Entwicklung von Etiketten, die Personen und Kollektive als „mindere Menschen“ bestimmen. Eine „strukturelle Stigmatisierung“ der traditionellen „öffentlichen und privaten Fürsorge“, die sich wegen der Reformen von Strafrecht im 20. Jahrhundert erhalten hat und im Kontext neoliberaler Sozialstaatlichkeit stärker in den Vordergrund tritt.

Verbrechen & Strafe und Schwäche & Fürsorge

Die seit den Modernisierungen von Strafrecht Anfang der 1970er Jahre institutionalisierte Allianz der Institutionen Verbrechen & Strafe und Schwäche & Fürsorge entwickelte sich im 20. Jahrhundert als Auseinandersetzung zwischen zwei verschiedenen Sozialtechnologien. Staatlich organisierter Bestrafung liegt die Logik einer unmittelbaren „Lösung“ von Konflikten und gesellschaftlich zu bearbeitenden Problemen durch Einschüchterung, Strafdrohung und Ausschließung zugrunde; die Kategorisierungen „Verbrechen“ und „Kriminalität“ fungieren als Ausschluss-Tickets (Etiketten): Sie reduzieren Personen auf ein Merkmal und formieren damit Personen als das Objekt legitimierter, staatlich organisierter Ausschließung. Ordnung instrumentell durch soziale Kontrolle individueller und kollektiver Norm-Abweichungen herzustellen, neigt mehr zu einer zeitlich, materiell und an Konformitätsbereitschaft gebundenen Unterstützung. Materielle Ressourcen, Erziehung, Qualifizierungen sollen es Personen und Kollektiven ermöglichen, mit Diskriminierungs- und Ausschlusssituationen subjektiv weniger leidvoll zurecht zu kommen und so die Objektivität der Gesellschaft weniger zu gefährden. Den Etiketten „Verbrechen“ und „Kriminalität“ fügten Institutionen sozialer Kontrolle „Delinquenz“ und „Hilfebedürftigkeit“ des heteronomen Delinquenten bzw. „soziale Problemgruppen“ hinzu. In diesen individuellen und kollektiven Fällen soll staatliche Bestrafung durch Erziehen/Hilfe/Re­sozi­alisierung ersetzt werden.

Die Reformierung von Strafrecht als eine Form sozialer Kontrolle von „Kriminalität“ wurde von sozialen Bewegungen angestoßen, genauer: durch zugehörige Öffentlichkeiten, durch sozialadvokatorische Bewegungen, politische Zusammenschlüsse und Parteien. Teile der Akteure, die in den Apparaten oder anderen staatlichen helfenden Einrichtungen arbeiteten, haben sich zu rechts- und kriminalpolitischen Bewegungen zusammengeschlossen. Eine Reformstrategie, die an der Kategorisierung „Verbrechen“ und „Kriminalität“ als Indikatoren für eine ungelöste „soziale Frage“ festhielt,[3] doch staatlich organisierte Bestrafung als Reaktion auf den heteronomen Delinquenten ersetzt wissen will, ermöglichte es in politischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts ungerechte, repressive gesellschaftliche Zustände ebenso zu skandalisieren wie eine sozialtechnokratisch unfähige staatliche Herrschaft. Wenn „Verbrechen“ und „Kriminalität“ von „sozial Schwachen“ als Ergebnis von ungerechten und undemokratischen Verhältnissen bestimmt werden kann, eröffnet dies sozialen Bewegungen auch Gelegenheiten, ihre Vorstellungen einer gerechteren staatlichen Herrschaft darzustellen.

Sozial- und rechtsreformerische Bewegungen haben sich mit dieser ambivalenten Strategie soweit durchgesetzt, dass die Institution Verbrechen & Strafe uns nicht nur als ein Ausschlussapparat gegenübertritt, Kriminalnormen nicht nur auf ökonomische und politische Interessen bezogen sind und Strafrechtsanwendung nicht nur auf vermeintlich „sozial Schwache“ oder „gefährliche Klassen“ bzw. „gefährliche Staatsfeinde“ gerichtet ist – wohl aber auf die „wirklich gefährlichen Verbrecher“. Das Strafrecht wurde so zu einer anerkannten und anrufbaren Institution auch für diejenigen, die eine gerechte Ordnung anstreben – zum Schutz von Frauen und Kindern vor ihren Männern und Vätern, zur rechtsstaatlich geformten Revanche im Wege der Nebenklage, durch Einlassung des „Täter-Opfer-Ausgleichs“ in den punitiven Instrumentenkasten.

Die Debatte um „Diversion“ und „net-widening“ kann man als Indikator interpretieren, dass Kriminalisierungspolitik und „Problemlösungen“ durch Sozialarbeit „gleichberechtigt“ kooperierten. Verlängernde „Umleitungen“ des Wegs in den Vollzug von Strafen ermöglichten, bei unangetastetem bzw. inflationiertem Kriminalrecht eine Kontrolle der Gefängnisbelegung.[4] Die Allianz hat in der langen Konjunktur von Politik der Inneren Sicherheit, permanenten Moralpaniken und dem „policing the crisis“ das hiesige Gefängnis von skandalisierbarer „Hypereinsperrung“ entlastet. Eine modernisierte und wohlfahrtsstaatlich reformierte Strafjustiz, die ihre Kontrollfunktionen erziehenden und helfenden Institutionen überträgt, kann ihre soziale Selektivität und Mitarbeit an der Reproduktion des Paria-Sektors – also jener Gruppen, die aus dem Inneren der Gesellschaft ausgeschlossen und zugleich Bestandteil ihrer Klassenstruktur bleiben – besser unsichtbar machen als die Polizei: durch den Hinweis, dass Verurteilungen sich selbstverständlich an rechtlichen Verfahrensvorgaben orientieren. Zu den wichtigsten bürokratischen An­wendungsregeln in einem Strafprozess zählen Vorstrafen bzw. Rückfall. Die Orientierung an Vorstrafen und Rückfall bzw. einer „Jugendhilfekarriere“ impliziert das Moment, das Bestrafen und Einsperren hinauszuschieben.

So banal es ist, wirkt dieser „second code“ unter Umständen wie eine institutionalisierte Selbstkontrolle der Justiz, Inhaftierungen in einer bestimmten Größenordnung zu halten. Dafür bedurfte es einer funktionierenden Allianz mit „sozialen Diensten“. Diese haben sich ab den 1990er Jahren sehr engagiert auf diese Allianz eingelassen und ihre Arbeit nicht mehr an den Bedürfnissen derer ausgerichtet, für die Einrichtungen der sozialen Arbeit wichtige Ressourcen bereitstellen könnten, sondern an den durch die Politik der „Inneren Sicherheit“ vorgegebenen Etiketten. Identifizierte Risiko-Gruppen können sich inzwischen in einer von sozialer Arbeit dominierten „Präventionslandschaft“ bewegen, ob sie Fußballfans, Rauschmittelnutzer*innen oder „Extremist*innen“ sind. Jugendarbeit, die sich der Emanzipation, der Bildung oder der Selbstorganisation explizit verpflichtet, findet sich gerade noch als Einsprengsel in der sozialen Infrastruktur.

Abolitionismus: Gegendenken und Pragmatik

Eine Institution, die „Kriminalität ernst nimmt“, kann keinen Weg zu Entkriminalisierung von Armut bereiten. Sie stellt einer darauf fokussierten Praxis keinen Rahmen bereit. Der Vorstellung, polizeiliche Sicherheitspolitik könnte durch Sozialpolitik und eine Politik hilfreicher sozialer Kontrolle von „Kriminalität“ ersetzt werden, ist daher mit einem realistischen Pessimismus entgegenzutreten. Soziale Arbeit als Alternative zu Instanzen von Strafrecht bleibt einer „Dialektik von Ausschließung“ verhaftet, weil sie als institutionalisierte Praxis „Kriminalität ernst nimmt“ und darauf lediglich mit einer anderen Herrschaftstechnik reagiert. Darauf hat Heinz Steinert schon Ende der 1980er Jahre im Konflikt zwischen dem „Left Realism“ der Britischen Kriminologie und der als „linken Idealismus“ diskreditierten Kritik des strafenden Staates hingewiesen.[5]

Es ist sicher nicht zufällig, dass sich in den 1980er Jahren in öffentlichen Diskursen über Strafrecht und Gefängnisse verstärkt abolitionistische Denkmodelle einschalten. Das abolitionistische Denkmodell positioniert sich grundsätzlich gegen eine Legitimierbarkeit staatlich organisierter Bestrafung. „Abolitionismus – das heißt heute einfach, die Merkwürdigkeit, Absurdität und Gefährlichkeit dieses staatlichen Arrangements im Blick zu behalten. Und diese Einsicht so ernst zu nehmen, dass man sich eine Gesellschaft ohne Gefängnisse zumindest vorzustellen versucht.“[6]

Abolitionismus bestand in den 1980er Jahren darin, Gegenargumente zur Ideologie von Reformvollzug als „Schöne Neue Welt“ zu formulieren; darin, das Ende vom kurzen Traum einer Humanisierung von Strafrecht aufzuzeigen und Folgen der Alternative „Hilfe/Therapie statt Strafen“ darzustellen. Abolitionismus als herrschaftskritische Haltung wurde ergänzt durch positive Vorschläge, die die Gefahren des Positiven thematisierten: „Kriminalität als Konflikt“ verstehbar zu machen und das Prinzip „Bestrafung von Schuldigen“ durch das von Nils Christie formulierte Prinzip der „Wiederaneignung und Regulierung von Konflikten“ zu ersetzen, gehören zusammen. Wiederaneignung und Konfliktregulierung als „Gegen-Praxis“ zur Bestrafung der Schuldigen, liegt Vorstellungen von „Restorative Justice“ zugrunde. Für eine Alternative kommt es aber darauf an, sich im Gegen-Denken und in Gegen-Praxis von Etiketten wie „Gewalt“ und „Kriminalität“ zu verabschieden. Ein Rückblick auf Nils Christies Vorschläge zeigt eine Möglichkeit auf, wie Etikettierung vermieden werden kann.

Mit der Perspektive von Nils Christie, strafrechtliche „Lösungen“ von Konflikten als staatliche Enteignung von Konflikten und Bestrafung als Leidzufügung durch staatliche Apparate zu analysieren, waren Überlegungen verbunden, wie eine Situation beschaffen sein müsste, in der Reaktionen auf Konflikte auf ein „niedrigeres Niveau von Schmerzzufügung“ gebracht werden könnten. Alle Instanzen von Strafrecht verfehlen diese Bedingungen systematisch. Ihr organisatorischer Rahmen ist nicht geschaffen für die Erzeugung von Wissen um die vielfältigen Bedeutungen der Handlungsweisen anderer. Die Anwendung von Etiketten wie (Gewalt)Kriminalität bedeutet im Extrem eine Handlung und eine Person auf ein Merkmal zu reduzieren. Der Kontext einer Situation und besonders von Ausschlusserfahrungen wird systematisch ausgeblendet.

Alternativen?

Das aus abolitionistischer Perspektive entwickelte Modell von Konfliktregulierung unterscheidet sich vom im Strafrecht institutionalisierten „Täter-Opfer-Ausgleich“ dadurch, dass die Gefahr bisheriger „Alternativen“, doch wieder in die Logik sozialer Kontrolle zu passen, reflektiert wird. Im österreichischen Jugendgerichtsgesetz wurde der „Außergerichtliche Tatausgleich“ so institutionalisiert, dass er nicht durch das Streben nach einem „gerechten“ Strafrecht absorbiert werden kann. Zwei Prinzipien verhindern eine Absorption in besonderem Maße. Sie können meines Erachtens als Kriterien der Beurteilung von Alternativen genutzt werden, die sich in einem Rahmen von Institutionen sozialer Kontrolle entwickeln. Anders als die uns bekannten Reformen, die nur Bestrafung durch eine andere Reaktion auf Kriminalität ersetzen wollen, beginnt hier Konfliktregulierung damit, die Kategorisierung von Schädigungen, Gewalttätigkeiten oder Konflikten als „Kriminalität“ abzuschaffen. Eine Praxis, die vor allem Institutionen von Grund auf lernen müssen. Aufgabe der Wissenschaft wäre dagegen, Grundlagen für ein „Denken in Konflikten“ zu legen, Alternativen beim Umgang mit schwierigen Situationen sozialer Ausschließung zu entwickeln, die Perspektiven der verschiedenen Beteiligten an einem Konflikt zu ihrem Recht kommen zu lassen, um keine neuen Etikettierungen entstehen zu lassen.

Ich nenne nur einige weitere Beispiele, mit denen weitergearbeitet werden kann. Die Studie von Gerhard Hanak, Johannes Stehr und Heinz Steinert zur alltäglichen Bearbeitung von schwierigen Situationen hat dem Verständnis von „Kriminalität als Konflikt“ die Alltagssituationen „Ärgernisse und Lebenskatastrophen“ hinzugefügt.[7] Bearbeitung von schwierigen Situationen des Alltags, so der zusammenfassende Rückblick von Johannes Stehr „zielt auf die Wiederherstellung gestörter Routinen, auf die Wiedergutmachung und Kompensation von Schädigungen und Verletzungen, als Voraussetzung und Bedingung dafür, den Alltag weiter (in gewohnter Weise) bewältigen zu können … Die Alltagslogik der Konfliktbearbeitung steht damit der Logik der Institution ‚Verbrechen & Strafe‘ gegenüber, die mit der Kategorie der ‚Kriminalität‘ grundlegende Unterscheidungen zwischen Konfliktbeteiligten – in einer Täter- Opfer-Dichotomie – trifft und auf dieser Basis staatliches Strafen als Ausschließung legitimiert.“[8]

Einen weiteren Ansatz aus abolitionistischer Perspektive finden wir im Kontext einer alternativen Sicherheitsberichterstattung bei Arno Pilgram.[9] Er hat vorgeschlagen, „strafrechtlich verbotene Existenzsicherung als paradoxe[n] Integrationsversuch ansonsten perspektivloser Akteure“ zu deuten. Und wäre nicht die Überschreitung der Grenze „zwischen ‚legaler‘ und ‚illegaler‘ Ökonomie, zwischen äußerster Prekarität und Entscheidung für Kriminalität … als ein Akt der – wenngleich riskanten und oft misslingenden – ‚Selbstermächtigung‘, existenzieller Problemlösung und ‚Selbstintegration‘ interpretierbar“?

Johannes Stehr hat sich mit der stigmatisierenden Zuschreibung auseinandergesetzt, „Fremde“ würden an einer „ganz anderen“ Herkunfts-Kultur festhalten. In einer anti-rassistischen Perspektive, so Stehr am Beispiel der Sinti und Roma, ließe sich dieses „Festhalten“ angemessener als kollektive Stigmaabwehr und Widerständigkeit gegen Assimilationsforderungen interpretieren.

Es gehört zum „alten“ Wissen, dass „innerer Ausschließung“ eine Normenfalle organisiert: Das Leben am Rand oder im Getto ist auf „Schattenökonomie“ angewiesen. Illegale Arbeiten und Dienste, die die legitime Bevölkerung durchaus nachfragt, werden entweder überhaupt nur im Paria-Sektor zur Verfügung gehalten oder billiger angeboten als in der „offiziellen“ Ökonomie (Drogen, Prostitution, Pornographie, Schmuggel, Hausarbeit, Bau- und Reparaturarbeiten, amtlich gerne „Schwarzarbeit“ genannt). Zur Schattenökonomie gehört, was wir „Ar­beit an den Mängeln des Sozialstaats“ nennen könnten oder Zurückweisung von Zwangsidentität, die eine herrschende Arbeits- und Lebensweise impliziert. Die Kategorisierungen von Verwaltungen heißen in der Regel „Sozialstaatsmissbrauch“ oder „Asylbetrug“ oder „Apathie“. Aus der Reihe von Subkulturstudien beziehungsweise dem Gegenwissen zu Moralpaniken über Gewalt, über den „mugger“ als Objekt von „policing the crisis“ und die „riots“ der 2000er Jahre will ich abschließend nur Alice Goffmans Erzählung „On the Run“ herausgreifen.[10] Ihre wissenschaftliche Erzählung zeigt, dass die Amalgamierung von Armutsproduktion, Rassismus und einer Politik der totalen Kontrolle Schwarze junge Männer auf Bearbeitungsweisen von Ausschließung verweist, die sie in der Ausschluss-Situation festhalten, aus der sie ausbrechen wollten. Für Schwarze junge Männer werden, wie in der totalen Institution, im Ghetto durch Strafjustiz und Polizei „Normenfallen“ organisiert. Die Normkonformität, die Kriminalisierung und Inhaftierungen beenden würden, können im Armen-Ghetto nicht eingehalten werden.

Ein realistischer Pessimismus muss davon ausgehen, dass Institutionen keinen Ausweg bieten. Der Denkprozess, durch den Bearbeitungen von Situationen sozialer Ausschließung „entkriminalisiert“ werden können, ist bekannt. „Kriminalität“ abschaffen können nur Anti-Institutionen. Es sind die Leute selbst, die in ihren Alltagen wie Anti-Institutionen mit Konflikten, Situationen von Stigmatisierung und Situationen sozialer Ausschließung umgehen können. Ob der Sozialstaat lernen könnte, ihnen für diese Anti-Praxis bedingungslos Mittel zur Verfügung zu stellen? Sie wären gut angelegt.

[1]    vgl. Goffman, E.: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/Main 1967
[2]   vgl. Widersprüche, Heft 154 (2019): Neuer Autoritarismus – Schwarze Pädagogik 2.0? sowie Degner, L. u.a. (Hg.): Dressur zur Mündigkeit? Tribunal über die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland abrufbar über https://akshamburg.wordpress.com
[3]    ätiologisch thematisiert im kriminologischen Topos „Armut verursacht Kriminalität“ oder der kulturindustriellen Wendung „Tatmotiv Armut“
[4]    einen Überblick gibt Voß, M.: Diversion: Eine neue Form der sozialen Kontrolle, in: Müller, S.; Otto, H.-U. (Hg.): Damit Erziehung nicht zur Strafe wird. Sozialarbeit als Konfliktschlichtung, Bielefeld 1986, S. 79-93
[5]    Steinert, H.: Marxsche Theorie und Abolitionismus. Aufforderungen zu einer Diskussion. Kriminalsoziologische Bibliografie 1987, Jg. 14, Heft 56/57, S. 131-157
[6]    ders.: Abolitionismus: die harte Wirklichkeit und der Möglichkeitssinn, in: Christie, N.: Grenzen des Leids, Bielefeld 1986, S. 1-14
[7]    Hanak, G.; Stehr, J.; Steinert, H.: Ärgernisse und Lebenskatastrophen. Über den alltäglichen Umgang mit Kriminalität, Bielefeld 1989
[8]    Stehr, J.: Konfliktorientierung in der Forschung zur sozialen Ausschließung, in: Anhorn, R.; Stehr, J. (Hg.): Handbuch Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Wiesbaden (im Erscheinen)
[9]    Pilgram, A.; Fuchs, W.: Vorarbeiten für eine fortlaufende Beobachtung der Delinquenz ausländischer Staatsangehöriger in Wien und Pilotbeobachtung für das Jahr 2015, www.irks.at/publikationen/studien/2016/delinquenz-ausl%C3%A4ndischer-staatsangeh%C3%B6riger-in-wien.html
[10] Goffman, A.: On the Run. Die Kriminalisierung der Armen in Amerika, München 2014

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