Clemens Arzt, Alexander Bosch
Der verbrecherische Angriff der Hamas auf Israel hat auch in Deutschland zu heftigen Reaktionen geführt. Die Politik hat die Unterstützung Israels zur Staatsräson erklärt. Dennoch wird auch für die Unterstützung der Palästinenser*innen demonstriert. Versammlungsbehörden und Polizei schritten hiergegen im Oktober 2023 in breitem Umfang ein. Totalverbote von Versammlungen waren in Berlin-Neukölln, wo viele Menschen mit palästinensischem oder arabischem Hintergrund leben, über viele Tage die Regel. Dies wird nachfolgend aus ethnographischer und rechtlicher Sicht näher betrachtet. Ist dieses staatliche Vorgehen mit der Versammlungsfreiheit vereinbar, und war die überzogene und rechtlich fragwürdige staatliche Reaktion nicht gerade Anlass für zum Teil gewalttätige Auseinandersetzungen?
Seit dem schrecklichen Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gehen die Wogen international wie auch in Deutschland zu dem Thema hoch. Jüdinnen und Juden in Deutschland äußern ihre nur zu berechtigte Besorgnis und Angst vor Übergriffen auch in Deutschland. Dass sie diese Sorge haben müssen, ist bedenklich und real, nicht erst seit dem 7. Oktober. Eine palästinensische Sicht jenseits der Berichte über die Hamas ist hingegen kaum wahrnehmbar oder gar auf der Straße sichtbar zu machen, ohne in Konflikte mit dem deutschen Staat zu geraten.
Wenn dabei die Staatsräson[1] zum Maßstab der Versammlungs- und Meinungsfreiheit in Deutschland wird, knirscht es laut. Bis Ende Oktober wurde eine Vielzahl von Versammlungen oder Solidaritätsbekundungen mit Bezug zu Palästina von Versammlungsbehörden und der Polizei als „israelfeindlich“ eingeordnet, aufgelöst und/oder verboten. Die Berliner Polizeipräsidentin verweist darauf, dass in Berlin „nur“ rund die Hälfte der Versammlungen zu Palästina verboten worden sei,[2] wobei just am Tag dieser Mitteilung ein neues Verbot erfolgte.[3]
Wozu dies führt, soll am Beispiel Berlin (insbesondere Berlin-Neukölln) illustriert und anschließend rechtlich bewertet werden. Dabei geht es um die Frage, ob Versammlungs- und Meinungsäußerungsverbote zielführend sind, um Gewalt zu verhindern sowie Antisemitismus und Israelfeindlichkeit zu bekämpfen oder ob dadurch nicht gerade auch den vielen Menschen mit Verwandten im Gaza-Streifen oder der West Bank die Gelegenheit genommen wird, auf ihre Sicht und Traumata hinzuweisen.[4]
Meinungsfreiheit für palästinensische Stimmen?
In Berlin lebt die vermutlich größte palästinensische Diaspora in Europa,[5] viele davon im Stadtteil Neukölln.[6] Hier waren nach unserer Kenntnis vom 7. bis 25. Oktober 2023 alle Demonstrationen mit Bezug zu Palästina verboten. In der Anfangsphase wurden sogar palästinensische Symbole wie die Kufiya oder die Palästinaflagge verboten und von der Polizei einkassiert.[7] Ein Schüler an einem Neuköllner Gymnasium, der eine Palästina-Flagge auf dem Schulhof zeigte, wurde offenbar von einem Lehrer verbal wie körperlich angegangen und wehrte sich mit einem Tritt.[8] Schüler wie Lehrer wurden suspendiert.
Eine hiergegen gerichtete Demonstration hat die Berliner Versammlungsbehörde (die in Berlin zur Polizei gehört) untersagt, fand aber dennoch statt. Die anwesende Bereitschaftspolizei setzte das Verbot durch, indem sie einige Schüler*innen im Alter von 14 bis 18 Jahren kurzfristig festnahm und anderen mit Festnahme drohte, wenn sie den Platz nicht verließen, nachdem einige Schüler*innen „Free, Free Palestine“ riefen oder palästinensische Symbole (Kufiya und Nationalflagge) zeigten. Insgesamt war die Situation nicht aggressiv. Antisemitische oder anti-israelische Parolen waren nicht zu hören, dafür aber Schüler*innen, die zu Polizist*innen sagten „Ist Deutschland keine Demokratie?“ oder „Zählt unsere Meinung denn gar nicht?“. Eine Schülerin erzählte, dass sie am Vortag mit ihrer Mutter am Brandenburger Tor war, um der Opfer der Hamas zu gedenken und Solidarität zu zeigen. „Da waren überall Israelfahnen und heute dürfen wir unsere Fahne nicht zeigen? Dabei sterben jetzt auch bei uns Menschen.“
Da in Berlin in den nächsten Tagen weiterhin fast alle Demonstrationen mit Bezug zu Palästina verboten wurden, entwickelte sich der Bereich um die Ecken Sonnenallee/Reuterstraße und Sonnenallee/Pannierstraße zum Hotspot der Versuche, die palästinensische Perspektive auf die Straße zu bringen.[9] Es versammelten sich jeden Abend Menschen mit Kufiya, Palästina-Flagge oder anderen kleinen palästinensischen Symbolen und riefen Pro-Palästina-Parolen. Oft hörte man „Free, Free Palestine“, aber auch israelfeindliche und antisemitische Parolen und Sprüche, die in Teilen auch strafrechtlich relevant gewesen sein könnten. Die massiv anwesende Bereitschaftspolizei versuchte, jegliche Ausrufe und mutmaßlich pro-palästinensische Symbole zu unterbinden oder wegzunehmen.
Am Abend des 11. Oktober kam es dann zu ersten Zusammenstößen zwischen der Polizei und anwesenden Personen. Anlass war die Kontrolle eines Kleinfahrzeuges, weil die Fahrerin aus Sicht der Polizei „verbotenerweise“ eine Palästinaflagge an ihrem Fenster angebracht habe. Es kam zu Solidarisierungsaktionen, welche die Polizei versuchte zu unterbinden, die daraufhin mit Böllern beworfen wurde. Ein Szenario, welches sich an den nächsten Abenden wiederholte. Immer wieder versuchten Personen, sich auf der Sonnenallee zu versammeln, immer wieder wurde von der Polizei versucht, dies zu unterbinden.
Insbesondere am 17. und 18. Oktober kam es zu massiven Auseinandersetzungen, nachdem weiterhin alle Demonstrationen mit Bezug zu Palästina verboten blieben und sich die – nach einigen Tagen infrage gestellte – Nachricht verbreitete, dass in Gaza eine Rakete ein Krankenhaus getroffen habe und bis zu 500 Menschen gestorben seien. Die Polizei nahm an dem Tag auf der Sonnenallee fast 200 Menschen fest.[10]
An diesen Tagen waren immer wieder sehr emotionalisierte und wütende Personen zu sehen, die mit Blick auf das polizeiliche Vorgehen Zweifel an der deutschen Demokratie äußerten. Während der Ausschreitungen war zu hören: „Jetzt zeigen wir es euch mal“ oder „So lange ihr uns unsere Rechte nehmt, nehmen wir uns die Straße.“
Auch in persönlichen Gesprächen war deutliche Wut und Frustration zu hören, welche insbesondere daraus resultierte, das Gefühl zu haben, dass die Perspektive der Betroffenen nicht zähle und man ihnen das Recht auf Meinungsäußerung nehme. Ausgrenzungserfahrungen spielten mithin eine zentrale Rolle für die oben genannten Ausschreitungen am 17./18. Oktober. Ein Umstand, wie er auch als Erklärung für die wiederkehrende Gewalt in französischen Banlieues[11] oder in dem als sozialen Brennpunkt geltenden Stadtteil Schilderswijk[12] in Den Haag angenommen wird. Interessanterweise blieb es hingegen am Abend des 21. Oktober in Berlin-Neukölln ruhig, nachdem zum ersten Mal von Kreuzberg bis zum Neuköllner Hermannplatz eine Pro-Palästina-Demonstration unter Auflagen – welche auch durchgesetzt wurden – verlaufen durfte. Am 28. Oktober zog eine Großdemo mit mehr als 10.000 Teilnehmenden friedlich durch Kreuzberg und dies, nachdem in Gaza eine Bodenoffensive Israels begonnen hatte.[13] Auch in anderen Städten wie Frankfurt, Duisburg oder Düsseldorf, wo Pro-Palästina-Demonstrationen unter Auflagen stattfinden konnten, kam es zu keinen vergleichbaren Szenen wie in Berlin-Neukölln.
Wie sind solche Verbote rechtlich zu bewerten?
Nach Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG) genießen nur „Deutsche“ Versammlungsfreiheit als Grundrecht.[14] Dieser begrenzte Schutz wird allerdings erweitert, wenn Landesverfassungen (z. B. Art. 26 Verfassung von Berlin) das Grundrecht auf alle Männer und Frauen oder alle „Bewohner“ (so Art. 113 Bayerische Verfassung) erstrecken, was in der aufgeregten Diskussion, ob auch „Palästinenser“ in Deutschland demonstrieren dürften, übersehen wird. Nach dem Versammlungsgesetz (VersG) des Bundes von 1953 hat „Jedermann“ das Recht, sich zu versammeln. Auch Berlin gewährt dieses Recht in § 1 Versammlungsfreiheitsgesetz Berlin (VersFG Bln) jeder Person. So auch Art. 11 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention). Hinzu kommt, dass die Versammlungsbehörden und Polizei schwerlich vor jeder Demo die Ausweise kontrollieren können, um festzustellen, ob es sich wirklich um „Deutsche“ handelt. Derartige Kontrollen wären zudem mit Art. 8 GG und dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht vereinbar.
Schutz nach Art. 8 GG genießen allein Versammlungen, die „friedlich und ohne Waffen“ stattfinden. Könnten etwa Rufe wie der nach einer „Auslöschung Israels“ nicht unfriedlich sein, wie jüngst von einem Berliner Verfassungsrechtler vertreten?[15] Die Antwort ist Nein, auch wenn dies eine Straftat darstellen dürfte: Unfriedlich ist eine Versammlung nach gängigem Verständnis in der Literatur und Rechtsprechung nur, wenn sie einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder unmittelbar anstrebt.[16] Unfriedlich wäre also eine Versammlung, die jüdische Einrichtungen, Synagogen oder vergleichbare Objekte angreift. Strafrechtlich relevante Äußerungsdelikte können zwar eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des Versammlungsgesetzes darstellen, sind aber nicht gemäß Art. 8 GG unfriedlich, egal wie provokativ die dort getätigten Äußerungen sind.[17] Dabei sind sich selbst Jurist*innen bei vielen Parolen (etwa „From the River to the Sea“) nicht einig, ob diese Strafnormen verletzen, weshalb hier nunmehr die Polizei entscheidet, was verboten ist und was nicht.
Eine Genehmigung für Versammlungen braucht in Deutschland niemand. Es gibt mithin keine „genehmigten“ oder „nicht genehmigten“ Demonstrationen, sondern allenfalls solche, die beschränkt, verboten oder aufgelöst werden. Man muss Versammlungen entgegen dem Wortlaut des Art. 8 Abs. 2 GG aber der zuständigen Versammlungsbehörde anzeigen (anmelden), soweit es sich nicht um eine Spontanversammlung handelt. Dies alles gilt selbstredend auch für „Palästinenser-Demonstrationen“.
Mit Blick auf den Nationalsozialismus und die Shoah hat Deutschland die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson erklärt. Rechtlich ausbuchstabiert ist dies jedoch nicht.[18] Unstrittig sollte indes bis hin in die Versammlungsbehörden und Polizei sein, dass die Staatsräson die Verfassung, die Grundrechte und auch das einfache Gesetz nicht einschränken oder gar verdrängen kann.
Anders als etwa § 7 Abs. 1 Nr. 1 Passgesetz (PaßG) kennt das Versammlungsrecht auch keinen Vorbehalt, der Versammlungsverbote etwa bei der Gefährdung „sonstige[r] erhebliche[r] Belange der Bundesrepublik Deutschland“ erlauben würde. Kritik an Israel ist aus verfassungsrechtlicher Sicht damit in Deutschland zulässig und grundsätzlich von der Meinungsfreiheit im Sinne des Art. 5 GG und bei Versammlungen von Art. 8 GG gedeckt. Dies wird nicht selten verkannt. Jeder Mensch, der gegen die Hamas demonstrieren und Solidarität mit Israel bekunden will, kann dies tun. Und ebenso kann gegen die israelische Kriegsführung im Gazastreifen oder für die Rechte der Palästinenser demonstriert werden, selbst nach den schrecklichen Verbrechen der Hamas in Israel.
Eine Versammlung kann nur beschränkt oder verboten werden, wenn die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet ist. Für die öffentliche Ordnung als Schutzgut des Versammlungsrechts ist hier mit Blick auf eine Vielzahl von Regelungen und Beschränkungen im Straf- und Versammlungsrecht kein Raum. Zudem ist die öffentliche Ordnung in § 14 VersFG Berlin kein Schutzgut.
Für Meinungsäußerungen auf Versammlungen setzt vor allem das Strafrecht Grenzen. Hier sei etwa auf die „Billigung von Straftaten“ im Sinne von § 140 Strafgesetzbuch (StGB) hingewiesen oder auch die Volksverhetzung nach § 130 StGB, die hier im Regelfall nicht relevant sein dürfte. Auch eine Beleidigung nach § 185 StGB kommt im vorliegenden Kontext in Betracht. Zudem wurden die strafrechtliche Begrenzungen von Meinungsäußerungen bei Versammlungen 2005 im Kontext der Einfügung des § 130 Abs. 4 StGB versammlungsrechtlich durch einen neuen § 15 Abs. 2 VersG des Bundes „ergänzt“ und seither immer stärker ausgeweitet, so etwa in § 15 VersG Sachsen oder jüngst in völliger Entgrenzung durch § 14 Abs. 2 VersFG Berlin, der wohl kaum vor Art. 5 und Art. 8 GG Bestand haben dürfte. Die Berliner Versammlungsbehörde scheint bisher nicht auf diese Norm zu rekurrieren und geht den Weg über § 14 Abs. 1 VersFG.
Eine Reihe weiterer Städte hat neben Berlin nach dem 7. Oktober durch Allgemeinverfügungen oder Verbot von einzelnen (nicht angemeldeten resp. angezeigten) Versammlungen mit einem über Tage und Wochen hinaus geltenden Verbot von „Ersatzveranstaltungen“ längerfristige und flächendeckende Beschränkungen der Versammlungsfreiheit unabhängig von der Gefahrenprognose für eine bestimmte Versammlung angeordnet, so etwa Augsburg, Bremen, Hamburg, München und eben auch Berlin. Mit Versammlungsfreiheit im Sinne eines Meinungsstreits ist dies nicht vereinbar.
Fazit
Verbote „pro-palästinensischer“ Demonstrationen mit einer „unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ zu begründen, ist eine Abkehr von einer über Jahrzehnte etablierten Praxis und Rechtsprechung. Verbote (vor einer Versammlung) und Versammlungsauflösungen stellen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die schwerste mögliche Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit dar. Das vollständige Verbot einer Versammlung wegen möglicher Meinungskundgaben durch einen Teil der Teilnehmer*innen ist damit allenfalls in seltenen Ausnahmefällen zulässig, nicht aber, wenn dies wie in Berlin die Regel wird. Dieses Vorgehen spiegelt eine Entwicklung wider, die mit wochenlangen Totalverboten während der Corona Pandemie begann und eine Fortsetzung in den Reaktionen der Versammlungsbehörden und Polizei gegen „Klimakleber“ fand. Statt nach dem Grundsatz in dubio pro libertate auch Zumutungen der Versammlungsfreiheit zu ertragen und im Ausnahmefall vor Ort gegen Straftäter*innen einzuschreiten, reagiert der Staat mit Totalverboten. Das Resultat sind nicht selten Ausschreitungen, weitere Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen sowie ein Vertrauensverlust in die Demokratie.