Die Wissenschaft hat festgestellt… Die Verharmlosung der Telekommunikationsüberwachung

von Norbert Pütter

Am 15. Mai 2003 präsentierte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries das im Auftrag ihres Ministeriums erstellte Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht (MPI) über die Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) in der Bundesrepublik.[1] Die Untersuchung zeige, so Zypries, dass die TKÜ „ein unverzichtbares und effizientes Mittel zur Strafverfolgung“ sei, das „von den Ermittlungsbehörden sensibel und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingesetzt“ werde.[2]

Die Vorgeschichte des Gutachtens geht auf die erste rot-grüne Koalitionsvereinbarung von 1998 zurück. Unmittelbarer Anlass war die in den 1990er Jahren explosionsartig gestiegene Zahl der Telefon- bzw. Telekommunikationsüberwachungen. Das Gutachten sollte Licht in das Dunkel der Überwachungspraxis bringen und damit die Grundlage für eventuelle Reaktionen des Gesetzgebers bilden. Da die Justiz- und Innenverwaltungen seit Jahrzehnten damit beschäftigt sind, selbst banale Statistiken der Öffentlichkeit vorzuenthalten, war die Idee eines wissenschaftlichen Gutachtens durchaus sachlich begründet. Allerdings hatte sie auch damals schon die Funktion, die eigentlich nicht erwünschte Novellierung auf die lange Bank einer wissenschaftlichen Expertise zu schieben. Während das MPI forschte und sich die Fertigstellung des Gutachtens mehrfach verzögerte, wurde der Katalog der Straftaten, die eine TKÜ erlauben, mehrfach erweitert: direkt durch die Aufnahme des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und die Verbreitung pornografischer Schriften,[3] indirekt durch die Einführung des § 129b (kriminelle und terroristische Vereinigung im Ausland) ins Strafgesetzbuch.[4] Parallel hierzu wurden KritikerInnen, die eine restriktivere Fassung der TKÜ-Bestimmungen wollten, mit dem Hinweis auf das ausstehende Gutachten auf die Zukunft vertröstet.[5]

Die Untersuchung

Das MPI nutzte die Gelegenheit des Gutachtens zu einer aufwändigen Untersuchung, die nicht nur für Deutschland Neuland betritt, sondern auch im weltweiten Vergleich (fast) einzigartig ist. Um „Rechtwirklichkeit und Effizienz“ der TKÜ zu erfassen, wählte das Institut einen Zugang über drei verschiedene Methoden:

Erstens wurden die Akten von Strafverfahren analysiert, in denen es zu einer TKÜ gekommen war. Da die Verfahren abgeschlossen und die Unterlagen zugänglich sein sollten, wurden die Verfahren aus dem Jahr 1998 für die Untersuchung genutzt. Nach der Statistik der Länder waren in diesem Jahr 2.705 Verfahren mit TKÜ-Maßnahmen gemeldet worden. Durch eine gewichtete Zufallsstichprobe wurden 813 Verfahren für die Analyse ausgewählt. Bis zum Ende der Auswertungen wurden dem MPI jedoch nur die Akten von 523 Strafverfahren zur Verfügung gestellt (S. 133f.). Die Aktenanalyse ergab, dass es in 22 Fällen zu keiner TKÜ gekommen war, so dass für die Untersuchung 501 Verfahren ausgewertet werden konnten. In diesen Verfahren kam es zu 1.700 TKÜ-Anord­nungen, die 2.783 Anschlüsse betrafen (S. 147).[6]

Zweitens wurden Einschätzungen und Meinungen über die TKÜ in einer schriftlichen Befragung erhoben. Insgesamt versandte das MPI 6.256 Fragebögen an Beschäftigte bei Polizeien, Staatsanwaltschaften, Gerichten sowie an StrafverteidigerInnen. Die Rücklaufquote betrug insgesamt 46 %; am höchsten war sie bei den PolizistInnen (77 %), bei den anderen drei Gruppen lag sie zwischen 33 und 36 % (S. 140).

Um Detailwissen und praktische Erfahrungen in die Untersuchung einbringen zu können, wurden drittens 43 Personen anhand eines Fragenkatalogs (meist telefonisch) interviewt. Auch diese Experten entstammten den genannten vier Berufsgruppen (S. 141).

Die Untersuchung erweitert das bisherige Halbwissen über die TKÜ erheblich. Sie bestätigt, dass der weit überwiegende Teil der TKÜ in den Ermittlungen wegen Rauschgiftkriminalität stattfindet (199 der 501 Verfahren); weit abgeschlagen folgen Raub- und Mordermittlungen mit 55 bzw. 46 Verfahren (S. 145). Die Studie bestätigt weiter, dass in der zweiten Hälfte der 90er Jahre Mobiltelefon-Anschlüsse fast die Hälfte aller überwachten Anschlüsse ausmachten (S. 150). Das Gutachten enthält detaillierte Angaben über die Zahl der Beschlüsse und die Anzahl der überwachten Anschlüsse pro Verfahren, über das Alter der Beschuldigten und deren Verteilung auf die Verfahren. Darüber hinaus wird das „Schicksal“ der TKÜ im Verlauf des Ermittlungsverfahrens dargestellt – beginnend mit den Informationsquellen, die die Verfahren mit TKÜs in Gang setzten, über den Zeitpunkt, ab dem es zur Überwachung kam, bis zur Bedeutung der TKÜ-Ergebnisse im Strafprozess. Interessant sind auch die Angaben über die Zahl der abgehörten Gespräche pro Anordnung bzw. Verfahren (Spannweite zwischen 0 und 30.500 Gesprächen). Auch wenn die Akten fünf Jahre alte Vorgänge betreffen, so kann nun niemand mehr behaupten, über die TKÜ sei kaum etwas bekannt. In dieser Hinsicht wären vergleichbare Untersuchungen für die anderen geheimen Ermittlungs- und Polizeimethoden sehr wünschenswert.

Wald und Bäume

Die Detailfülle, mit der der Bericht auf 472 Seiten aufwartet, verdeckt jedoch, dass das MPI die ihm gebotenen Chancen nicht genutzt hat. Zunächst fällt auf, dass der Bericht mit wenig relevanten Informationen aufgebläht ist. Warum etwa die rechtlichen TKÜ-Regelungen in Schottland oder Neuseeland dargestellt werden, bleibt unverständlich. Auch auf das Recht der vierzehn weiteren vorgestellten Länder wird in anderen Teilen der Untersuchung nur vereinzelt Bezug genommen. Interessante Fakten ausländischer Vorschriften sind dagegen nur am Rande erwähnt und in ihrer praktischen Bedeutung allenfalls in Ansätzen erfasst, so etwa das Minimierungsgebot (S. 95) und die „consent surveillance“ (S. 124) in den USA. Eine solch oberflächliche Darstellung ergibt keine Anregungen für die deutsche Diskussion.

Nachteilig auf den Ertrag der Studie wirkt sich auch aus, dass die AutorInnen offenkundig unter Evaluation nur etwas verstehen, was in Zahlen ausgedrückt werden kann. Ansonsten ist nicht erklärlich, warum einige einschlägige Untersuchungen zu den verdeckten Methoden von ihnen nicht zur Kenntnis genommen wurden.[7] Dass sie die Monografie von Zimmermann nicht erwähnen, ist darüber hinaus ein Indiz, dass sie an der rechtspolitischen Funktion der Telefonüberwachung nicht interessiert sind.[8] Wichtiger als diese Kleinigkeiten, die eher das Umfeld des Gutachtens betreffen, ist der Umstand, dass die Kriterien, an denen Rechtswirklichkeit und Effizienz gemessen werden, im Laufe der Untersuchung immer undeutlicher werden. Je differenzierter die Operationalisierungen und Auszählungen, desto fragwürdiger werden die Befunde und die Schlussfolgerungen, die das Gutachten selbst zieht und damit der Ministerin und anderen politisch Verantwortlichen in den Mund legt. An vier Komplexen soll dies im Folgenden kurz dargestellt werden: dem Anstieg der Überwachungen in den 90ern, der Stellung der TKÜ im Ermittlungsverfahren, der Bedeutung von Anordnungs- und Benachrichtigungspflichten und dem Ertrag der Überwachungen.

Der TKÜ-Boom

Vor der Auswertung des selbst erhobenen Materials setzt sich die Studie mit dem Anstieg der TKÜ in den 90er Jahren auseinander. Von 1995 bis 1998 stieg die Zahl von 3.667 auf 9.802 Anordnungen, im Jahr 2000 betrug sie bereits 15.741 und – eine Zahl, die der Bericht nicht mehr enthält – bis 2002 war sie auf 21.974 gestiegen. Die Untersuchung prüft einige Erklärungen für diese dauerhaften Steigerungen. Dass der Anstieg eine Folge gestiegener Kriminalität sei, wird überzeugend zurückgewiesen. Vielmehr würde mehr überwacht, weil es mehr Mobiltelefone gebe. Dies zeigten auch die nach Anschlussarten aufgeschlüsselten Anordnungen: die Festnetzzahlen blieben fast stabil, während das Wachstum allein auf Mobilfunkanschlüsse zurückzuführen sei (S. 36f.). Im Kontext der Untersuchung ist diese Feststellung allerdings wenig hilfreich. Zum einen kann die gewählte Erklärung nicht beantworten, warum die TKÜs seit ihrer Legalisierung 1968 permanent zunahmen: etwa von 1980 bis 1986 um 100 %.[9] Sollte es noch andere Gründe für den Anstieg geben? Auch der internationale Vergleich wäre in dieser Hinsicht aufschlussreich. Das MPI führt ihn an, um zu belegen, dass Deutschland nicht „Überwachungs-Weltmeister“ ist. Aber hat die Mobiltelefonie in den 90ern nicht auch in den USA, Frankreich und Österreich zugenommen? Mit anderen Worten: Es gibt keinen Automatismus zwischen Mobilfunkrate und Überwachung. Warum hat das MPI z.B. nicht erhoben, welche Polizeidienststellen die TKÜs beantragen? Dann hätte man zumindest die Vermutung prüfen können, dass bestimmte Polizeistrategien für das Überwachungs-Wachstum verantwortlich sind. Immerhin haben über 58 % aller TKÜ-Verfahren ihren Ursprung in anderen polizeilichen Ermittlungen (davon über 14 % in anderen TKÜs, S. 154). Warum verliert das Gutachten kein Wort darüber, dass die enormen Steigerungen nur möglich sind, wenn die entsprechende Technik bei der Polizei angeschafft wird, und dass deren Anschaffung auf bewusste Entscheidungen zurückgeht?[10] Warum fragt das MPI nicht nach den Gründen für die unterschiedliche TKÜ-Überwachungsdichte in den StPO?[11] Die Oberflächlichkeit des Gutachtens wird in dieser Hinsicht gekrönt durch den Vergleich von TKÜ- und Mobiltelefonie-Steigerun­gen. Da die TKÜs langsamer zugenommen hätten als die Handys, sei die Überwachungsdichte sogar zurückgegangen (S. 38)! Bisher ging man in demokratischen Rechtsstaaten davon aus, dass ein Grundrechtseingriff nicht davon abhängt, wie oft jemand redet oder telefoniert, sondern ob er oder sie einer bestimmten Tat verdächtig ist. Worin bestünde ansonsten der Unterschied zum Überwachungsstaat?!

Vom letzten zum ersten Mittel

Seit 1968 ist die Telefon- bzw. die Telekommunikationsüberwachung in den §§ 100a und 100b der Strafprozessordnung (StPO) geregelt. Dem damaligen Gesetzgeber war bewusst, dass es sich um einen Eingriff in ein wichtiges Grundrecht handelte. Deshalb wurde die Telefonüberwachung an eine Reihe von Bedingungen gebunden: Zulässigkeit nur bei bestimmten Taten (der Katalog wurde bekanntlich ständig erweitert), Anordnung durch den Richter (allein bei Gefahr im Verzuge durch die Staatsanwaltschaft), die nachträgliche Benachrichtigung der Betroffenen und durch die Subsidiarität der Maßnahme, d.h. sie darf nur dann eingesetzt werden, wenn die Ziele (Aufklärung des Sachverhalts, Aufenthaltsermittlung des Tatverdächtigen) „auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre“.[12]

Durch spätere Novellierungen der StPO wurden andere verdeckte Methoden ebenfalls an Subsidiaritätsklauseln gebunden; etwa der Einsatz Verdeckter Ermittler oder die Überwachung mit technischen Mitteln. Unabhängig von der Frage, welches der „letzten Mitteln“ zuerst eingesetzt werden soll, besagt die Subsidiaritätsklausel, dass zunächst weniger in die Rechte der Beschuldigen eingreifende Maßnahmen ergriffen werden müssen, dazu zählen z.B. Zeugenbefragungen, Vernehmungen oder Durchsuchungen.

Die MPI-Studie zeigt, dass von Subsidiarität beim TKÜ-Einsatz nicht die Rede sein kann. Statt „Ultima Ratio“ habe die Überwachung der Telekommunikation „die Funktion eines Mittels der ersten Wahl“ (S. 159). Auch ein Vergleich unterschiedlicher Verfahrensgruppen zeigt, dass im Hinblick auf organisierte und „marktförmige Kriminalität“ entgegen den Vorgaben des Gesetzgebers die verdeckten Methoden nicht am Ende, sondern am Anfang polizeilicher Ermittlungen stehen (S. 304). Handelt es sich hingegen um Delikte der „klassischen“ Kriminalität, wie Mord und Raub – denen nur ein kleiner Teil der TKÜs gelten –, dann beginnen die Ermittlungen mit offenen Maßnahmen (S. 313).

Das Gutachten sieht in dieser Umkehrung des Rechts durch die Praxis eine unmittelbare Folge der Kriminalitätsentwicklung. Fehlende Opfer, Abschottung, dauerhafte illegale Marktbeziehungen erlaubten keinen anderen Zugang als den über verdeckte Methoden. In seinen abschließenden Empfehlungen regt das MPI denn auch an, für bestimmte Kriminalitätsformen eine „Sonderbetrachtung“ in die StPO einzuführen (S. 465f.). Bereits hier fällt auf, dass das Gutachten nichts über die Schwere oder Schädlichkeit jener Kriminalitätsformen aussagt, für die ein Sonder-Eingriffsrecht geschaffen werden soll. Offenkundig geht es dem Gutachten nur darum, das Recht der gängigen Praxis anzupassen.

Notare statt Kontrolleure

Das Grundrecht soll in der Logik der StPO nicht allein durch materielle Bestimmungen, sondern auch durch Vorschriften geschützt werden, die das Verfahren der TKÜ-Anordnung betreffen. § 100b StPO bestimmt, dass die TKÜ nur durch den Richter angeordnet werden darf; bei Gefahr im Verzuge kann sie für die Dauer von drei Tagen auch von der Staatsanwaltschaft angeordnet werden. Das MPI-Gutachten bestätigt, dass die staatsanwaltschaftlichen Eilanordnungen eine untergeordnete Rolle spie­len (Anteil: 12 %, S. 175); es bestätigt auch, dass die Überwachungs­anträge von Richtern so gut wie nie abgelehnt werden (0,4 %, S. 177). Sehr ausführlich prüft das Gutachten die Inhalte der Anträge und der richterlichen Überwachungsbeschlüsse.[13] Dies geschieht in expliziter Auseinandersetzung mit der im Dezember 2002 bekannt gewordenen Untersuchung von Backes und Gusy, die „den richterlichen Verzicht auf eine eigenständige Kontrolle staatsanwaltschaftlicher Anträge“ diagnostizierten und kritisierten.[14]

Das Gutachten untersucht die Begründungen für TKÜs auf drei Ebe­nen: bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht. Der Anteil der als „substantiell“ gewerteten Begründungen lag zwischen 28,5 (Polizei) und 23,5 % (Richter). Lediglich formelhafte Begründungen weisen zwischen 44,4 und 57,2 % der Anordnungen auf (S. 227-231). Zusammenfassend stellt das MPI fest, dass die Qualität der richterlichen Begründungen von den Anträgen der Polizei und der Staatsanwaltschaft abhängt (S. 235). Mit anderen Worten: Die Stichhaltigkeit einer TKÜ-Anordnung wird von Polizei und Staatsanwaltschaft vorgegeben und von Richtern im Regelfall „abgesegnet“. Zur Erklärung verweisen Ermittlungsrichter in den Interviews auf ihre Arbeitslast. Ein Richter gibt an, er habe 10 bis maximal 30 Minuten Zeit für eine Entscheidung. Zusammen mit einem Kollegen müsse er pro Jahr 6.200 Entscheidungen bewältigen – darunter eben auch TKÜ-Anordnungen (S. 258). Dass die Richter sich unter diesen Bedingungen an die Formulierungen der Antragsteller halten, ist nachvollziehbar.

Das Gutachten diagnostiziert eine Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit. Wer an wen angenähert werden soll, lässt der Text zwar offen, aber die Sympathie gilt dem „kooperativ funktionierenden System“, das auf „Vertrauen“ und auf der Sach- und Fachkunde von PolizistInnen und StaatsanwältInnen aufbaue. Diese „Vertrauensbasis“ sollte „gestärkt werden“ (S. 268). Wie der Grundrechtsschutz, so scheint für das MPI auch die Gewaltenteilung ein antiquiertes Relikt vergangener Zeiten zu sein.

Niemanden beunruhigen

Sollte ursprünglich der Richtervorbehalt eine juristische Vorabkontrolle gewährleisten, so sollte die Benachrichtigungspflicht die von der TKÜ Betroffenen in die Lage versetzen, zumindest nachträglich die Rechtmäßigkeit ihrer Überwachung gerichtlich überprüfen zu lassen. Nur in Ausnahmefällen erlaubt § 101 StPO, dass die Betroffenen nicht informiert werden. Diese Ausnahme ist in der Praxis offenkundig die Regel. Die Aktenauswertung des MPI ergab, dass bei 6,4 % der überwachten Anschlüsse unter Bezug auf die Ausnahmeregelung die Benachrichtigung der Überwachten unterblieb. Direkte Benachrichtigungen erfolgten bei 15,3 % der Anschlüsse, indirekt (etwa über die Verteidigung oder das Strafverfahren) wurden die Betroffenen von weiteren 11,7 % informiert – dabei werden als Betroffene in der Regel nur die Anschlussinhaber verstanden. Für zwei Drittel aller Überwachungen konnte das MPI keinerlei Hinweise auf eine nachträgliche Benachrichtigung finden (S. 276).

Im Hinblick auf die Benachrichtigung reklamiert das Gutachten gesetzlichen Novellierungsbedarf. So müsse etwa sichergestellt werden, dass die Verteidiger ihre Mandanten tatsächlich über die erfolgte Überwachung informieren. Auch müsse ein Kriterium bestimmt werden, ob und welche Dritte (also weder Tatverdächtige noch Anschlussinhaber), die abgehört worden waren, zu benachrichtigen seien. Gegebenenfalls sei zwischen privaten und geschäftlichen Kommunikationsinhalten zu unterscheiden (S. 471).[15] Im letzten Satz des Gutachtens wird aber auch hier der Praxis Vorrang eingeräumt: „Eine zwar in rechtsstaatlicher Weise normierte, aber tatsächlich nicht durchführbare Regelung erscheint als Provokation des Regelungsbruchs“ (S. 472).

Erfolge und der Sinn der TKÜ

Man könnte argumentieren, statt die Rechtswirklichkeit der TKÜ an demokratisch-rechtsstaatlichen Grundsätzen zu messen, sei es zeitgemäßer, sie nach ihren Erfolgen zu beurteilen. Die neuen Verbrechensformen verlangten eben nach einem neuen Rechtsstaatsverständnis, in dem die Bürgerrechte, Grundrechtsschutz, unabhängige Kontrollen, Gewaltenteilung etc. auf den Ehrenplatz in Sonntagsreden verwiesen werden müssen. Aber selbst auf der Ebene pragmatischer Effizienz ist die TKÜ bei Lichte betrachtet ein großer Misserfolg: Das Gutachten konnte den Ausgang der Verfahren gegen 1.065 überwachte Beschuldigte verfolgen. Die Verfahren gegen 534 Beschuldigte wurden von der Staatsanwaltschaft eingestellt; davon bei 433 mit der Begründung, dass kein genügender Anlass zur Klageerhebung gefunden werden konnte (S. 344f.). Im Klartext bedeutet das, dass rund 50 % der Abgehörten ohne jede strafrechtliche Relevanz belauscht wurden. Die Schlussfolgerung der GutachterInnen, die TKÜ finde „in der Praxis auch zielgerichtet und umsichtig Verwendung“ (S. 463), bleibt angesichts dieser Versagensquote ein Rätsel. Einem Postboten, der 50 % seiner Sendungen in falsche Briefkästen wirft, würde man wohl kaum attestieren, er handele „zielgerichtet und umsichtig“!

Um die tatsächlichen Effekte der TKÜ aufzuspüren, unterscheidet das MPI zwischen unmittelbaren, mittelbaren und sonstigen Erfolgen; außerdem wurden die Maßnahmen von der Polizei und den MPI-Auswertern bewertet. Während zu den unmittelbaren Erfolgen etwa „Entlastung“ oder „Selbstbelastung“ gezählt wurden, gehörten zu den mittelbaren Erfolgen die „Hinweise auf Straftaten Dritter“ oder Hinweise auf eine weitere Straftat. Die „sonstigen Erfolge“ stellten eine Restkategorie dar (S. 358f.). Nur in 302 der 501 ausgewerteten Verfahren (= 60,3 %) führte die TKÜ überhaupt zu irgendeiner Art von Erfolg (S. 368). Aufgeschlüsselt nach Erfolgsarten ergab die Analyse dieser 302 Verfahren, dass 62 % aller TKÜ-Erkenntnisse zu mittelbaren Erfolgen und nur 28 % zu unmittelbaren führten (S. 371), d.h. nur in 85 Verfahren wurden die Informationen gefunden, die man zu finden hoffte, während in 188 Verfahren „Zufallsfunde“ gemacht wurden. Die Bewertung durch die MPI-Auswerter bestätigt diese Zahlen: lediglich 26 % der TKÜs wurden als erfolgreich eingestuft. Diese Bilanz belegt sowohl die geringen Erfolge der TKÜ wie deren großes Ausforschungspotential.

Das Gutachten verfolgt den Weg der TKÜ-Erkenntnisse über das Strafverfahren bis zum Urteil und das Rechtsmittelverfahren: Die TKÜ wird nur bei 12 % der Beschuldigten als Beweismittel in der Anklage aufgeführt; in 38 % dieser Fälle maßen die MPI-Auswerter den TKÜ-Beweisen keinerlei Bedeutung für die Anlageschrift bei (S. 402). Nur bei 82 Beschuldigten wurden die TKÜ-Erkenntnisse im Urteil aufgegriffen. Gemessen an den 1.138 TKÜ-Beschuldigten des Jahres 1998 waren dies 7,2 Prozent. Die eigentliche Bedeutung der TKÜ liegt nach Ansicht der GutachterInnen darin, dass sie zur Erlangung anderer Beweise beiträgt. Dieser mittelbare Erfolg könne deshalb nicht an ihrer Erwähnung im Strafverfahren gemessen werden. Die enorme und effektlose „Streubreite“ der TKÜ, „die auch das soziale Umfeld der Zielperson einbezieht und sich damit insbesondere auf völlig unverdächtige Kommunikationsteilnehmer erstreckt“,[16] wird durch diese Einsicht aber nicht relativiert.

Mittelbare und unmittelbare Erfolge selbst werden keiner Würdigung unterzogen. Weder erfolgt ein Bezug auf die Schwere der Tat, noch auf die Wirkungen erfolgreicher Verurteilungen. Hinter dem neuen Nebelbegriff der „Transaktionskriminalität“ verschwinden die Maßstäbe für die Schwere der Taten. Zweifellos ist der Straßendeal eine Form der Transaktionskriminalität; aber sagt dies etwas über die Schwere der Tat, über die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs mittels TKÜ aus? Wenn die TKÜ vor allem zum strafverfolgerischen Eindringen in illegale Märkte eingesetzt wird, warum fragt das Gutachten dann an keiner Stelle danach, wie die Marktbedingungen durch die TKÜ verändert werden? Warum spielen die Erfolgsaussichten der Strafverfolgung in der Kontrolle illegaler Märkte keine Rolle für die „Effizienz-Bewertungen“ des MPI? Vermutlich scheute man diese Perspektive, weil die Bilanz der TKÜ dann noch verheerender ausgefallen wäre.

Ausführlich beschäftigt sich das Gutachten mit dem Begriff der Effizienz (S. 356 ff.). Einer Gegenüberstellung von Aufwand und gewünschtem Ertrag widersetzen sich die AutorInnen, weil der Polizei die Konkurrenz fehle und Marktmechanismen außer Kraft gesetzt seien (S. 357). Warum das Gutachten nicht wenigstens eine schlichte Aufwandsrechnung erstellt, bleibt unklar. Offenkundig hat man entsprechende Daten nicht erhoben. Auch die Angaben zu den Kosten der TKÜ sind mangelhaft. Lediglich auf die Dolmetscherkosten (zwischen 55 und 218.999 DM, S. 182) wird hingewiesen. Wenn man bedenkt, dass weniger als ein Drittel der TKÜs zu den erhofften Erfolgen führte, wäre eine finanzielle Kostenrechnung vermutlich nicht ganz uninteressant gewesen.

Reaktionen

Das MPI schließt sein Gutachten mit einer Reihe von Empfehlungen. Teilweise werden alternative Lösungen benannt, überall ist aber das Bemühen spürbar, der Praxis zu einer sicheren Rechtsgrundlage zu verhelfen. Am deutlichsten wird dies, wenn eine „Sonderbetrachtung“ für bestimmte Kriminalitätsformen ins Spiel gebracht wird (S. 465f.). Nachdem in den 80er Jahren die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ den Polizeigesetzen zugeschlagen wurde, in den 90ern die StPO um verdeckte Methoden erweitert und der Informationsaustausch zwischen präventiv und repressiv gewonnenen Daten legalisiert wurde, soll nun ein präventiver Sonderbereich für die TKÜ im Strafprozessrecht geschaffen werden. Während die Praktiker übereinstimmend TKÜ-Regelungen für präventivpolizeiliche Zwecke ablehnen (S. 199f.) – denn sie empfinden etwa die Umgehung der Subsidiaritätsklausel als unproblematisch –, will das MPI ein rechtsstaatlich sauber geregeltes Überwachungs-Vorfeld. Wie die Untersuchung, so zeichnen sich die Vorschläge durch ihre „verfassungsrechtliche Maßstabslosigkeit“ (Bizer) aus.

Die Justizministerin hat angekündigt, die Mängel in der richterlichen Anordnung und in der Benachrichtigungspflicht auf Novellierungsbedarf zu prüfen. Die Datenschutzbeauftragten,[17] die Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen[18] und die der FDP[19] haben weitergehende Reformen gefordert. Ihre Wünsche beziehen sich durchweg auf die Anforderungen an die Begründung von TKÜ-Anträgen, auf die Qualität der richterlichen Entscheidung (Kollektivorgan, besonders qualifizierte Richter), auf die Einführung von Berichtspflichten, auf die Dauer der Überwachungsmaßnahmen, auf Verwertungs- und Beweismittelverbote oder auf die Reduzierung des Straftatenkatalogs.

Die Vorschläge gehen regelmäßig über das vom MPI angebotene Repertoire hinaus. Aber sie bleiben in dessen Horizont. Wie im MPI-Gutachten, so spielen die abhörenden Polizeien auch in der Reformdiskussion keine Rolle. Sofern man überhaupt etwas ändern wird, ist absehbar, dass der bürokratische Aufwand der TKÜ-Antragstellung erhöht wird, ohne dass der Unkultur der Überwachung entgegenwirkt wäre. Hier wäre der Platz für internationale Vergleiche gewesen. So bedeutet etwa das US-amerikani­sche Minimierungsgebot, dass die abgehörten Gespräche mitgehört werden müssen, die Überwachung sofort abgeschaltet werden muss, wenn das Gespräch irrelevant ist und nur das aufgezeichnet wird, was für das Verfahren von Bedeutung ist. Allein eine solche Vorschrift würde die Zahl der Überwachungen reduzieren, es würde die Praktiker vor Ort zu einer Abwägung von Aufwand, Anlass der Überwachung und Erfolgsaussicht veranlassen, bevor sie einen Antrag stellen. Und schließlich würde es die Streubreite mittelbarer TKÜ-Erkenntnisse verringern und die Benachrichtigungsproblematik erheblich verkleinern. Aber so zu verfahren, hieße ja, tatsächlich aus Erfahrungen lernen zu wollen, statt bestehende Praktiken zu legitimieren.

Norbert Pütter lehrt Politikwissenschaft an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin und ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Mittlerweile auch als Buch: Albrecht, H.-J.; Dorsch, C.; Krüpe, C.: Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen, Freiburg 2003. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf das Gutachten. Dieses ist auch im Volltext auf der Homepage des Max-Planck-Instituts zugänglich: www.iuscrim.mpg.de/verlag/online/Band_115.pdf.
[2] Bundesministerium der Justiz, Zypries: Telefonüberwachung wirksam und maßvoll, Pressemitteilung v. 15.5.2003
[3] BGBl. I v. 10.10.2002, S. 3954
[4] BGBl. I v. 22.8.2003, S. 3390
[5] BT-Drs. 15/725 v. 28.3.2003
[6] Laut TK-Regulierungsbehörde ergingen bundesweit 1998 9.802 TKÜ-Anordnungen (S. 30), demnach umfasst die MPI-Stichprobe ca. 17,3 % der Überwachungen von 1998.
[7] z.B.: Stock, J.; Kreutzer, A.: Drogen und Polizei, Bonn 1996, S. 284 ff.; Pütter, N.: Der OK-Komplex, Münster 1998, S. 180 ff.; Busch, H.: Polizeiliche Drogenbekämpfung – eine internationale Verstrickung, Münster 1999, S. 238 ff.
[8] Zimmermann, G.: Staatliches Abhören, Frankfurt a.M. u.a. 2001
[9] Pütter, N.: Fernmeldeüberwachung, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 60 (2/1998), S. 36-42 (41f.)
[10] Bizer, J.: Die Evaluierung der Telekommunikations-Überwachung. Anmerkungen zur MPI-Studie, in: Kriminologisches Journal 2003, H. 4 (im Erscheinen)
[11] ebd.
[12] Die Auskunftsersuchen nach § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes (nicht über den Inhalt, sondern die Umstände der Kommunikation (= Verbindungsdaten, Dauer etc.)) spielten 1998 quantitativ eine geringe Rolle. Sie werden im Folgenden nicht gesondert betrachtet. Die Bestimmung wurde 2001 durch die §§ 100g und 100h der StPO ersetzt.
[13] Bizer a.a.O. (Fn. 10) sieht im Zustand der Akten eines „der erschütternsten Ergebnisse der Untersuchung“. So konnte die Studie in der Hälfte der Fälle Antrags- und Anordnungstext nicht vergleichen, weil die Akten lückenhaft waren. Die schlampige Aktenführung, vom Gutachten mit keinem Wort gewürdigt, verletzt – so Bizer – die vom Grundgesetz geforderte Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.
[14] Backes, O.; Gusy, C.: Wer kontrolliert die Telefonüberwachung? Eine empirische Untersuchung von Richtervorbehalten bei Telefonüberwachungen, in: Strafverteidiger 2003, H. 4, S. 249-252. Mittlerweile als Buch veröffentlicht: Backes, O.; Gusy, C.: Wer kontrolliert die Telefonüberwachung?, Frankfurt u.a. 2003. Bemerkenswert ist, dass das MPI auch die Interviewpartner nach ihrer Bewertung der Studie befragt. Sie war zu diesem Zeitpunkt nur in einer knappen Zusammenfassung bekannt; selbst zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Gutachtens war sie noch nicht veröffentlicht.
[15] Bizer a.a.O. (Fn. 10) weist überzeugend nach, dass dieser Vorschlag der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutzbereich des Post- und Fernmeldegeheimnisses widerspricht.
[16] Bizer a.a.O. (Fn. 10)
[17] Entschließung der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder v. 25./26.9. 2003, www.baden-wuerttemberg.datenschutz.de/ds-konferenz/okt2003/mpi-tk.html
[18] Positionspapier zur Telefonüberwachung v. 7.5.2003, in: Telefonüberwachung reformieren, Pressemitteilung 300/2003 v. 15.5.2003 (Anlage)
[19] BT-Drs. 15/1583 v. 24.9.2003