Schengener Informationssystem: Verfassungsschutz mit erweiterter Fahndungsbefugnis

Das Bundeskriminalamt soll demnächst europaweite Fahndungen für Geheimdienste ausschreiben

Im Jahr 2018 wurden neue Verordnungen zum Schengener Informationssystem verabschiedet ((EU) 2018/1860, (EU)2018/1861, (EU)2018/1862), mit denen der Umfang der im Schengener Informationssystem (SIS) gespeicherten Daten sowohl inhaltlich – etwa hinsichtlich ausreisepflichtiger Drittstaatsangehöriger – als auch bezüglich der erfassten Daten – Fingerabdrücke, DNA-Profile, und weitere – deutlich erweitert wurde. Auch ist nicht mehr nur die Polizei an dieses „SIS 3.0“ anzuschließen, sondern eine ganze Reihe weiterer Behörden. Alle Verordnungen sind schrittweise bis Ende 2020 vollumfänglich in Kraft getreten.

Das neue SIS kann aber erst in Betrieb gehen, wenn in allen Mitgliedsstaaten die technischen und rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen sind. Das sollte am 22. November 2022 der Fall sein – wegen technischer Schwierigkeiten in einzelnen Mitgliedsstaaten wird sich dies aber noch verzögern. Auch in Deutschland wurden die rechtlichen Schritte zur Inbetriebnahme erst kurz vor knapp vorgenommen.

Die Verordnungen sind zwar unmittelbar geltendes Recht, müssen also als solche nicht in nationales Recht überführt und umgesetzt werden. Allerdings müssen dennoch Verweise in Gesetzen angepasst und die spiegelbildlichen Befugnisse zum Zugriff auf das SIS in den Fachgesetzen der diversen Behörden geschaffen werden. Mit ihrem Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache 20/3707 hat die Bundesregierung hierfür einen entsprechenden Regelungsvorschlag gemacht.

Für eine lange Liste von etwa 2.000 Behörden soll ein jeweils auf ihre gesetzlichen Aufgaben beschränkter Zugriff auf das SIS geschaffen werden: zur Durchsetzung und Ausschreibung von Ausweisungs- und Abschiebungsanordnungen („Rückkehrentscheidungen“) sämtliche Ausländerbehörden, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie das Auswärtige Amt und die Auslandsvertretungen; zum Auffinden gestohlener Luft-, Wasser- und sonstiger Fahrzeuge die Wasserstraßen- und Schifffahrtsämter, Luftfahrt- und Kraftfahrtbundesamt, Kfz-Zulassungsstellen; die Waffenbehörden, um gestohlene Waffen zu finden und die Erteilung von Waffenerlaubnissen an per Haftbefehl gesuchte Straftäter*innen zu verhindern; für zollrechtliche Überprüfungen und zur Strafverfolgung und -vollstreckung die Hauptzollämter. Technisch erfolgt der Zugriff dieser neuen, in vielen Fällen nicht-staatlichen Einrichtungen nicht unmittelbar auf das SIS, sondern dessen nationale Spiegelung, das beim BKA gehostete N.SIS.

Schließlich soll nun auch die Bundespolizei die Befugnis zur Ausschreibung von Personen zur verdeckten Kontrolle erhalten. Eine verdeckte Kontrolle ist dabei so durchzuführen, dass sie als Teil normaler Routinekontrollen erscheint und die betroffene Person nicht erfährt, dass sie beobachtet wird, etwa bei der Einreise über einen Flughafen. Diese verdeckte Fahndung nach Artikel 36 des SIS-II-Ratsbeschlusses gibt es bereits seit 2016. Neu ist nun die Möglichkeit der verdeckten Kontrolle auch für Sachen (Fahrzeuge, Schiffe, Schusswaffen, amtliche Identitätsdokumente) und bargeldlose Zahlungsmittel (Giro-, Debit- und Kreditkarten etc.). Ein Straftatverdacht oder ein konkreter Gefahrensachverhalt muss dafür nicht vorliegen; es reicht nach der Verordnung (EU) 2018/1862, dass die „Gesamtbeurteilung einer Person aufgrund der bisher von ihr begangenen Straftaten erwarten lässt, dass sie auch in Zukunft (…) Straftaten künftig [sic!] begehen wird.“ (Art. 38 Abs. 3 c) VO (EU) 2018/1862).

Die Bundespolizei erhält auch die Befugnis, solche Personen von der Behörde eines anderen Mitgliedsstaates befragen zu lassen („Ermittlungsanfrage“, Art. 37 Abs. 4), dazu werden weitere Informationen und spezifische Fragen zum SIS-Eintrag hinzugespeichert. Anders als die „gezielte Kontrolle“ (Art. 37 Abs. 5), die auch die Durchsuchung der Person und Sachen im Rahmen des nationalen Rechts beinhaltet, wurde die „Ermittlungsanfrage“ ebenfalls neu eingeführt.

Dieselben Befugnisse wird ohnehin auch das Bundeskriminalamt erhalten. Der Gesetzentwurf erweitert für das Bundeskriminalamt allerdings noch eine weitere Aufgabe, die bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren hat: Die kriminalpolizeiliche Behörde soll für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) und den Bundesnachrichtendienst (BND) Ausschreibungen zur verdeckten Kontrolle nach Art. 36 Abs. 1 und 4 der Verordnung (EU) 2018/1862 vornehmen.

Als Nachrichtendienste dürfen BfV, BAMAD und BND nicht unmittelbar auf das SIS bzw. N.SIS zugreifen; ohnehin neigen Geheimdienste zu einer gewissen Paranoia und würden es so als Bedrohung ihrer Schnüffeltätigkeit begreifen, wenn sie als Urheber einer Ausschreibung auftauchten. Auch deshalb wurde bislang schon in § 17 Abs. 3 Bundesverfassungsschutzgesetz vorgesehen, dass die Dienste eine Person oder Sache „zur Mitteilung über das Antreffen“ im polizeilichen Informationssystem ausschreiben lassen können. Nun soll diese Befugnis in einem neuen § 33b Abs. 2 BKA-Gesetz gleichsam gespiegelt und als Aufgabe zugewiesen werden: die Ausschreibungen der Dienste „zur verdeckten Kontrolle“ sollen „durch das Bundeskriminalamt in Amtshilfe im polizeilichen Informationsverbund“ erfolgen. Erhält das BKA im Trefferfall von einer anderen Polizeibehörde die entsprechenden Informationen zu Ort und Zeitpunkt sowie ggf. weitere Angaben zur Person, hat es diese wiederum an die Dienste weiterzuleiten. Die andere Polizeibehörde erfährt dabei nicht, dass die verdeckte Ausschreibung tatsächlich von einem deutschen Geheimdienst stammt.

Dabei handelt es sich um einen klaren Verstoß gegen das Trennungsgebot von Polizei und Nachrichtendiensten in der Bundesrepublik. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer aktuellen Entscheidung (siehe Verfassungsschutz verletzt Trennungsgebot) seine Rechtsprechung zum (informationellen) Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten bestätigt und vertieft. Kern des Trennungsgebotes ist, dass die Geheimdienste in Deutschland keine dem Polizeirecht vergleichbaren Befugnisse haben dürfen, mit Zwangsmitteln in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger einzugreifen.

Einen solchen Eingriff stellt aber schon eine Personalienfeststellung dar. Über den Umweg über ein Instrument zum polizeilichen Informationsaustausch darf hier das BfV also zukünftig jedenfalls indirekt auf die polizeilichen Durchgriffsbefugnisse zurückgreifen, um das eigene Informationsaufkommen anzureichern – sei es durch die bloße Information über den Aufenthaltsort einer Person (anlässlich von Einreisekontrollen oder „anlasslosen“ Kontrollen im Schengenraum) oder auch dabei generierten weiteren Informationen (etwa zu Mitreisenden).

Die Bundesregierung meint in ihrer Gesetzesbegründung über diese Durchbrechung des Trennungsgebots hinwegtäuschen zu können, indem sie behauptet, eine „Befugniserweiterung“ gehe „mit den Änderungen nicht einher“, es handele sich bloß um ein „Übermittlungsersuchen“ an eine andere Behörde. Damit widerspricht die Bundesregierung aber schon der Gesetzeslage: denn in § 17 Abs. BVerfSchG ist klar geregelt, dass nur solche Daten übermittelt werden dürfen, „die bei der ersuchten Behörde bekannt sind“. Es ist aber genau Zweck der verdeckten Ausschreibung, eine Information zu erheben, die ansonsten der ersuchten Behörde nicht bekannt wäre – nämlich zum Aufenthaltsort einer polizeilich nicht bekannten Person.

Auch sonst täuscht die Bundesregierung in der Gesetzesbegründung mit ihrer Behauptung, der Text werde „aus Gründen der Rechtsklarheit redaktionell leicht angepasst“, indem die Formulierung „zur Mitteilung über das Antreffen“ durch „zur verdeckten Kontrolle“ ersetzt werde. Hierzu bestimmt die Verordnung in ihrer Bestimmung der „verdeckten Kontrolle“: sie „umfasst die verdeckte Erhebung möglichst vieler der in Abs. 1 aufgeführten Informationen“. Das ist je nach Fleiß und Geschick der (Grenz-)Beamt*innen unter Umständen deutlich mehr als die Information über das bloße „Antreffen“, nämlich Reiseroute, Begleitpersonen, mitgeführte Sachen und Reisedokumente und alle benötigten Informationen, die mit ausgeschrieben wurden. Jedenfalls enthält der Gesetzentwurf keine Formulierung, die eine solche Nutzung der „verdeckten Kontrolle“ auf die bloße Feststellung des Antreffens einschränken würde.

Für ein Vertrauen darauf, dass die Dienste nicht so weitgehend wie möglich vom Wortlaut der Regelung Gebrauch machen, besteht sicherlich kein Anlass.
Der Gesetzentwurf wurde am 9. November im Ausschuss für Inneres und Heimat des Bundestages ohne Debatte beraten und dem Plenum des Bundestages zur Zustimmung empfohlen. In den nächsten Wochen wird im Bundestag dann die abschließende Beratung und Beschlussfassung stattfinden.

Beitragsbild: Bundespolizeidirektion München.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert