Archiv der Kategorie: CILIP 110

NSU und Staat – Verhinderte Aufklärung (Juni 2016)

Der V-Mann Johann H.: Eine Spur führte zum Verfassungsschutz-Spitzel

von Kim Finke (LOTTA Magazin)

Mehr als zwei Jahrzehnte stand Johann H. auf der Gehaltsliste des Staates und mischte in zahlreichen Neonazi-Gruppen mit, teils in führender Position. Im Februar 2012 fiel dem Bundesamt für Verfassungsschutz seine Ähnlichkeit mit dem Phantombild des Bombenlegers aus der Kölner Probsteigasse auf.

Am 19. Januar 2001 war dort eine mit Schwarzpulver gefüllte Bombe explodiert, nachdem die Tochter der Inhaberfamilie eines Lebensmittelgeschäfts den Deckel einer im Laden zurückgelassenen Dose angehoben hatte. Die junge Frau wurde schwer verletzt. Wer die Sprengfalle in dem Laden deponierte, konnte mehr als zehn Jahre lang nicht ermittelt werden. Für die Kölner Polizei kam ein rassistisches Tatmotiv damals nicht in Betracht. Ebenso wenig wurden frühere gegen ausländische Familien gerichtete Sprengstoffanschläge in Köln in die Ermittlungen einbezogen – wie die am 22. Dezember 1992 vor der Wohnungstür einer türkischen Familie in Köln-Ehrenfeld deponierte Sprengfalle oder die beiden in Werkzeugen und Haushaltsgeräten versteckten TNT-Bomben im Frühjahr 1993.[1] Die Hintergründe des Probsteigassen-Anschlags blieben bis November 2011 unbekannt, erst dann bekannte sich der NSU in seinem „Paulchen-Panther“-Video zu der Tat. Zwei Monate später geriet der V-Mann Johann H. ins Visier. Ein Untersuchungsaus­schuss (PUA) des nordrhein-westfälischen Landtags versucht seit Sommer letzten Jahres die Hintergründe des Anschlags und die mögliche Beteiligung lokaler HelferInnen aufzuklären. Der V-Mann Johann H.: Eine Spur führte zum Verfassungsschutz-Spitzel weiterlesen

Redaktionsmitteilung

Am Anfang herrscht helle Aufregung und Bestürzung. Behörden versuchen zu vertuschen. Die Öffentlichkeit fordert Aufklärung. Verantwortliche werden gesucht und müssen gegebenenfalls zurücktreten. Es wird ein bisschen aufgeräumt, unter Umständen verabschiedet man das eine oder andere Gesetz, MinisterInnen geloben Besserung, das mediale Interesse erlahmt. Die Logik des politischen Skandals besteht darin, dass er vorbei geht und sich nichts Grundsätzliches ändert. In dieser Logik droht auch der NSU-Skandal zu verebben. Die Bundesanwaltschaft reduziert den „Nationalsozialistischen Untergrund“ auf das einsame terroristische Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Das Oberlandesgericht München lehnt es ab, den V-Mann „Primus“ als Zeugen zu laden. Viereinhalb Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU befassen sich zwar – immer noch und wieder – parlamentarische Untersuchungsausschüsse mit diesem Komplex und insbesondere mit der Rolle des Inlandsgeheimdienstes, der die Aufklärung nach wie vor behindert. Redaktionsmitteilung weiterlesen

Niederlage überwunden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wird belohnt

Während Untersuchungsausschüsse und Öffentlichkeit immer noch um die Aufklärung des NSU-Komplexes ringen, haben die Innenministerien den Skandal längst auf ihre Weise beigelegt.

Beim Verfassungsschutz, vor allem bei seinem Bundesamt (BfV), ist wieder Ruhe eingekehrt. Der Inlandsgeheimdienst hat seine Legitimationskrise überwunden. Nur noch die üblichen Verdächtigen fordern seine Abschaffung: halsstarrige Bürgerrechtsorganisationen und Linke, die den Laden noch nie mochten, Antifas, die der Meinung sind, dass sie die Nazi­szene ohnehin besser kennen als die amtlichen ExtremismusbekämpferInnen, ein paar Liberale, die es ernst meinen. Der Rest des politischen Spektrums verlangt allenfalls „Reformen“, hat aber ansonsten seinen Frieden mit dem Dienst geschlossen. BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen darf über den Zusammenhang von Flüchtlingsproblematik und Terrorismus schwadronieren, ohne Widerspruch zu ernten. PolitikerInnen von der CDU/CSU bis zu den Grünen fordern die Überwachung der AfD. Und auch das alte Wissen, dass der linke Extremismus mindestens genauso gefährlich sei wie der rechte, kann wieder ungestört verbreitet werden.[1] Niederlage überwunden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wird belohnt weiterlesen

Summaries

Thematic focus: The NSU complex – clarification denied

How to overcome a defeat – an introduction
by Heiner Busch

While parliamentary enquiry commissions still seek to clarify the murderous history of the “National Socialist Underground” (NSU) and the role of the domestic intelligence agencies (Verfassungsschutz) in this complex, the federal and state ministers of the interior have found their own way to move on. The position of the Federal Office of the Protection of the Constitution has been strengthened, the dubious use of informers has been legalized, and the president of the federal office is demanding a massive increase of staff for his agency. Summaries weiterlesen

Chronologie

zusammengestellt von Otto Diederichs

Juni 2015

4. Juni: NSA-Affäre: Weil die Bundesregierung ihm den Einblick in die Listen der Suchbegriffe des US-Geheimdienstes NSA verweigert, setzt das für die Kontrolle der Abhörmaßnahmen der Geheimdienste zuständige G-10-Gremium des Bundestages zwei Anträge auf Abhöraktionen des Bundesnachrichtendienstes (BND) aus. Am 17. Juni beschließt die Bundesregierung, einer „Vertrauensperson“ Einblick in die NSA-Listen zu gewähren. Gegen die Stimmen der Opposition schlägt der NSA-Un­tersuchungsausschuss am 2. Juli den ehemaligen Bundesverwaltungs­­richter Kurt Graulich als „Sonderermittler“ vor. Im Juli veröffentlicht „Wi­ki­leaks“ Dokumente, die belegen, dass die NSA auch deutsche Regierungen seit den 1980er Jahren abgehört hat. Chronologie weiterlesen

Berlin-Friedrichshain: massenhafte Kontrollen

Tom Jennissen

Seit Januar müssen sich AnwohnerInnen und BesucherInnen des alternativ geprägten Nordkiezes rund um die Rigaer Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain vermehrt auf willkürliche Personalienkontrollen einstellen. Nach einigen umstrittenen Einsätzen weitete die Polizei ihre Praxis aus, dort anlass- und verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen.

Anders als im Hamburger „Gefahrengebiet“, das mittlerweile samt seiner Rechtsgrundlage vom dortigen Oberverwaltungsgericht als verfassungswidrig erachtet wurde,[1] stützen sich die Kontrollen in Berlin auf die allgemeine polizeirechtliche Regelung zur Identitätsfeststellung. Gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1 des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG), dessen Regelung sich so oder so ähnlich auch in den anderen Landespolizeigesetzen finden lässt, darf die Polizei die Identität einer Person u.a. dann feststellen, wenn sie sich an einem Ort aufhält, von dem Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabreden, vorbereiten oder verüben. In der Berliner Praxis legt die Polizei bestimmte Orte fest, die sie als „kriminalitätsbelastet“ erachtet und stellt das generelle Vorliegen der oben genannten Voraussetzungen fest. Berlin-Friedrichshain: massenhafte Kontrollen weiterlesen

Verdeckte Ermittler gegen Rocker

Alfred Becker

Das Landeskriminalamt (LKA) Rheinland-Pfalz hat für Ermittlungen im Roc­ker­milieu den fiktiven Motorradclub „Schnelles Helles“ gegründet. Die eingesetzten Beamten mehrerer LKÄ sowie des Bundeskriminalamtes sollten laut Medienberichten Revierstreitigkeiten mit dem Hells An­gels-Charter Bonn auslösen und Beweise für eine geplante Anklage sam­meln.[1] Die ErmittlerInnen wollten so herausfinden, wie die Hells Angels auf eine Neugründung eines Motorrad-Clubs reagieren würden. Das Vor­gehen sollte bewusst Aufmerksamkeit erregen: Beim Namen und den Farben des Clubs sowie beim Schriftzug lehnten sie sich mit einem satirischen Logo-Design eng an das der Hells Angels an. In der Biker-Szene gilt dies als Provokation. Das Logo von „Schnelles Helles“ wurde in Motorradwerkstätten und einschlägigen Kneipen verteilt und sogar auf Bierdeckel gedruckt. Verdeckte Ermittler gegen Rocker weiterlesen