Gladbeck: der Mythos von der gewaltsamen Machbarkeit von Sicherheit

Zwei Bankräuber nehmen, um 400.000 DM zu erpressen, zwei Geiseln. Ein für die Polizei keineswegs völlig außergewöhnliches Verbrechen. Alleine in Nordrhein-Westphalen mußte sich die Polizei in den Jahren 1976 bis 1985 laut Kriminalstatistik mit 91 Geiselnahmen und 75 Fällen von erpresserischem Menschenraub auseinandersetzen.1)

Doch diese Geiselnahme endet nicht wie die Fälle zuvor in Nordrhein-Westfalen, unblutig, undramatisch. Sie mündet vielmehr in einer Irrfahrt der Geiselnehmer durch Norddeutschland und wächst sich als mediales Ereignis zu einer Jagd auf drei VerbrecherInnen aus, an der alle teilhaben können und alle wissen, daß die Polizei sie letztendlich schnappen wird, tot oder lebendig. Die heißdiskutierte Frage ist nur noch, wann und unter welchen Umständen dies geschehen würde.

Die Geiselnehmer ihrerseits klammern sich an das wenige was sie haben: Ihre Pistolen, ihren Haß auf die Gesellschaft und ihre irreale Hoffnung auf ein besseres, als ihr bisheriges, verpfuschtes Leben. Ihr eigenes gering achtend, schrecken sie vor der Tötung ihrer Geiseln nicht zurück, als sie sich in die Enge getrieben sehen.

Die scheinbar zwanghafte, tödliche Konsequenz der Geiselnahme erschreckt und wirft zugleich die Frage auf, ob denn – hätten sich die Polizei, die Medien oder die Politiker anders verhalten – das Leben der Geiseln hätte gerettet werden können. Doch zu einer vom Erschrecken vor den Opfern der Gewalt getragenen offenen Diskussion um die denkbaren Handlungsmöglichkeiten von Polizei, Exekutive und Politik ist es weder während noch nach der Tat gekommen.

Dies hätte zunächst etwas vorausgesetzt, zudem kaum mehr jemand der Politiker und Journalisten den Mut hatte: nämlich die Täter selbst noch als Menschen zu begreifen, die trotz aller Gewalttätigkeit immer noch in ihren Handlungsweisen beeinflußbar sind. Doch für die hinter den von Reportern eingefangenen Gewaltbotschaften liegenden Appelle und Hilflosigkeiten der Geiselnehmer fand sich kein Ansprechpartner. Sie waren – schon bevor sie ihre erste Geisel erschossen, nur noch rabiate Bestien, eiskalte Gangster, blindwütige Killer, die nur eines verstanden: Gewalt, und nur eines verdienten: den Tod. Und der „Finale Todesschuß“ schien deshalb der liberalen Süddeutschen über die FAZ bis hin zur Welt, dem liberalen Hirsch über Blüm und natürlich Geisler bis hin zu Strauß als das Gebot der Stunde. Und daß am Tag nach dem tragischen Ende der Geiselnahme viele gegenüber der Rambo-Vorstellung der bayerischen Polizei auf Distanz gingen, lag nicht am Inhalt des von Staatssekretär Gauweiler und seinem Innenminister Lang gegebenen Stück. Im Gegenteil, so haben sie es sich alle vorgestellt, die vom Todesschuß die Lösung erwarteten, nur eben nicht am Tag danach.

Auf den ersten Blick erscheinen die vielfältigen Versuche von CSU/CDU Politikern, alles auf die, im sozialdemokratischen NRW fehlende, rechtliche Ermächtigung zum „finalen Todesschusses“ zurückzuführen, nur als eines: Als billiger Appell an die Jagdinstinkte, die in diesen Tagen nicht nur an deutschen Stammtischen zu beobachten waren und als Versuch sich als Volkes Rächer zu inthronisieren. Doch hinter der politischen Auseinandersetzung um die Geiselnahme in Gladbeck verbirgt sich mehr als degoutante Jagdszenen aus unserer Republik. Ein zweiter, genauerer Blick auf diese Debatte zeigt, daß dieser vielmehr eine tiefergehende Bedeutung zukommt. Sie ist Ausdruck des Bemühens breiter Teile der Konservativen, die Politik „Innerer Sicherheit“ auf die gewaltsame Durchsetzung einer staatlich definierten Sicherheit und Ordnung zu reduzieren. Sie ist damit zugleich Sympthom für eine seit den siebziger Jahren zu beobachtende wachsende Politisierung der polizeilichen Wahrung von „Sicherheit und Ordnung“.

1. Der Griff nach einer hoheitlichen Ermächtigung zum Töten

„Der sogenannte finale Todesschuß der Polizei, der nichts anderes als gebotene Nothilfe in Lebensgefahr ist, steht auf der Linken in Verdacht. Wir beklagen oft Herrschaft der Ideologie in den kommunistischen Ländern – doch wieviel Schaden richtet bei uns die ideologische Blindheit an“ (FAZ vom 22.8.88). Der Vorwurf der Blindheit fällt auf den Kommentator Reißmüller selbst zurück. Ein Blick in die einschlägige juristische Literatur – etwa Wagners Kommentar zum Polizeigesetz von NRW – hätte ihn, wie die anderen zumeist durch Inkompetenz glänzenden Politikkommentatoren schnell vor Augen geführt, daß es der Polizei in NRW an einem nicht gefehlt hat: an der rechtlichen Möglichkeit Nothilfe in Lebensgefahr zu leisten. Sie hat zwar nicht die rechtliche Ermächtigung dazu, den Tod einer Person aus eigenem behördlich-hoheitlichem Entschluß herbeiführen; die Beamten der Sondereinsatzkommandos haben jedoch sehr wohl das Recht sich dort, wo sie – um eine unschuldige Person aus einer lebensgefährlichen Situation zu retten, auf die rechtfertigende Wirkung der Notwehr/-hilfe in straf- und zivilrechtlicher Hinsicht zu berufen. Und die Polizei in NRW hat die rechtliche Möglichkeit auch faktisch genutzt, wenngleich sie das Gegenteil dessen, was damit bezweckt wurde, erreichte. Denn eine der beiden Geiseln mußte diesen Versuch mit ihrem Leben bezahlen.

Ob es nun einen „finalen Todesschuß im nordrhein-westfälischen Polizeigesetz gegenben hätte, wie in Bayern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, oder nicht, war für den konkreten polizeitaktischen Umgang mit den Geiselnehmer selbst völlig irrelevant. Doch gerade der tragische Ausgang des Versuchs, die drei Geiselnehmer zu überwältigen, weist auf die Bedeutung der rechtlichen Differenz zwischen einer Todesschußregelung im Polizeirecht und der Berufung auf die Nothilfe/-wehrrechte hin. Die Polizeiführung kann sich bei ihrem Versuch, die Geiselnehmer durch den Einsatz eines SEK`s und das heist gegebenenfalls auch durch tödlich wirkende Schüsse auszuschalten, nur auf eines berufen: daß dies nach Kenntniss aller Umstände und den zur Verfügung stehenden Mitteln das einzige Mittel zur Rettung der bedrohten jungen Frauen war. Dort, wo die hoheitliche Ermächtigung der Polizei zum Schußwaffengebrauch endet, bleibt sie nicht machtlos. Sie muß jedoch in dem zur Diskussion stehenden Grenzbereich ihre tödlich wirkenden Gewaltmittel dem Primat des Opferschutzes bedingungslos zu unterwerfen.

Der Ruf nach dem finalen Todessschuß signalisiert deshalb nicht – wie Geisler oder der hessische CDU-Generalssekretär Jung – suggerieren, daß Opferschutz vor Täterschutz gehen soll. (FR 2.9.88) Es geht den Befürwortern vielmehr gerade darum, die Tötung einer Person nicht mehr nur als eine gewissermaßen jenseits hoheitlicher Macht liegende, aus der Not geborene Maßnahme zu rechtfertigen. Sie wird vielmehr ein hoheitlicher Akt über den die staatlichen Instanzen-, was keineswegs nur die Rechtsqualität und die Legitimation des Waffengebrauchs in solchen Grenzsituationen polizeilichen Einsatzes verändert. Es besteht nicht nur der begründete Verdacht, daß eine solche Regelung gewaltsam – „tödliche“ Lösungen von Geiselnahmen, erpresserischen Menschenraub etc. befördert. Es besteht vor allem die Gefahr, daß in die staatliche Ermessensentscheidung, die der Anordnung des „finalen Todesschusses“ zugrundegelegt wird, eigene rechtspolitische, auf Machterwerb und symbolische Politik zielende Kalküle einfließen, so daß letzendlich Staatsschutz vor Opferschutz geht. Die Ausführungen von Strauß, Gauweiler und Lang im Kontext ihrer Rambo-Vorstellung von der sicheren Bewältigung von Geiselnahmen belegen dies deutlich.

2. Stärke zeigen und staatliche Autorität demonstrieren, anstatt nach Lösungen suchen

In den Köpfen von Gauweiler oder Geisler mögen zwar alle Geiselnahmen durch Präzisionsschützen „lösbar“ sein. In der Praxis sicher nicht, auch dann nicht, wenn man alle verfassungsrechtlichen und moralischen Bedenken einmal beiseite läßt. Denn die Folgen des Schußwaffeneinsatzes für die Geiseln sind nur begrenzt kalkulierbar, so professionell man Beamte von SEK`s auch ausbilden mag. Dies gilt umso mehr als viele der Geiselnahmen gerade nicht dem berechnenden Plan geldgieriger Gangster entspringen. Sie gleichen häufig eher Aktionen eines Selbstmörders „der aufs Dach steigt, um auf sich aufmerksam zu machen“ (so der Münchner Polizeipsychologe W. Renner über die Gladbecker Geiselnehmer laut Spiegel, 22.8.88, S. 24). Was diese Täter zwar nicht weniger gefährlich macht, in der Praxis die Polizei aber gerade vor die Aufgabe stellt mit allen erdenklichen Mitteln – vor allem durch den dauernden direkten Gesprächskontakt – die Täter von einer Kurzschlußreaktion abzuhalten.

Die Polizei in NRW hat dies in der Vergangenheit konsequent und mit Erfolg versucht. Es ist deshalb auch eine fatale Verkürzung des Problems, wenn von Politikern und Medien im Nachhinein nur noch nach den verpaßten Chancen zur gewaltsamen Ausschaltung der VerbrecherInnen gefragt wird. Die Ausgangsfrage bleibt u.E. vielmehr, ob sie denn alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten sinnvoll ausgenutzt hat. Und nur in diesem Kontext ist es u.E. sinnvoll, nach den vielen Pannen und Fehlern der Polizeien in NRW und Bremen zu fragen und die dazu führten, daß ihr zeitweilig die Kontrolle über das Geschehen völlig entglitt.

Doch um eine solche, sicher kontrovers zu führende Diskussion, ging es den Kritikern aus den Reihen der CDU/CSU und FDP nicht. Das Versagen der Polizei in NRW und Bremen wurde vielmehr direkt auf den Mangel an staatlicher Autorität und gewaltsamer Entschlossenheit der sozialdemokratischen Polizeiführung zurückgeführt. „Wer Ladendiebstähle im Wert unter 100 Mark nicht mehr verfolgen läßt, Besetzthalten ganzer Straßenzüge über Jahre hinweg akzeptiert und Gewalttaten bei Demonstrationen als demokratisches Widerstandsrecht feiert, braucht sich nicht zu wundern, wenn seine Psychologie und Taktik letzlich in einem Blutbad endet“ stellte der bayerische Innenminister anläßlich der Vorführung in München fest. (SZ, 24.8.88) Die bayerische Taktik jedoch hat die konkreten Opfer selbst gar nicht mehr im Blick und kann sie auch nicht mehr im Blick haben – legt man rationale polizeitaktische Kalküle zugrunde. Denn wer auf die bedingungslose Lösung von Geiselnahmen und erpresserischem Menschenraub durch einen finalen Todesschuß setzt, wie Bayern, muß über die konkret gefährdeten Opfer hinwegsehen und muß sich auf die vermeintlich generalpräventive Wirkung eines solchen Vorgehens berufen.

3. Die Politiker als Polizisten

Doch vor Verbrechen, wie dem von Gladbeck ist keine Regierung gefeit. Ein besseres, glücklicheres Ende können nur politische Spekulanten, die mit der Angst der Bürger ihr Geschäft treiben, garantieren. Selbst Diktaturen können – wie der Fall des S-Bahn Mordes in den dreißiger Jahren zeigt – solche Verbrechen nur hinter einem Mantel des Schweigens verbergen, nicht aber verhindern.

1) Schnoor, wahrscheinlich schon unter dem Eindruck der bayerischen Angriffe nennt nur noch die Zahl von von 32 Geiselnahmen seit 1977. Spiegel- Interview, 22.8.88, S. 25