Asylpolitik in der Europäischen Union – Schutz vor Flüchtlingen

von Olaf Neußner

Für Asylsuchende und Flüchtlinge scheint die Tatsache, daß sie nach Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union (EUV) in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) Schutz vor politischer Verfolgung, vor Bürgerkriegen oder anderen bewaffneten Konflikten suchen, nichts wesentlich verändert zu haben. Nach wie vor ist die reichste Staatengemeinschaft dieser Erde vor allem damit beschäftigt, die Maßnahmen auszubauen, mit denen sie sich vor Asylsuchenden und Flüchtlingen zu schützen sucht.

Für Flüchtlinge ist dabei unerheblich, ob die Maßnahmen vor Inkrafttreten des EUV am 1. Januar 1993 in rein zwi-schenstaatlicher Zusammenarbeit ersonnen wurden oder nunmehr im Rahmen einer per Unionsvertrag vorgesehenen Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz erarbeitet werden, zu deren primärem Objekt die Asylpolitik (Artikel K 1 Nr. 1) aus-erkoren wurde.

Im Gegensatz zu einer für Asylsuchende nicht spürbaren Veränderung schien das Interesse an einer mit dem Unionsvertrag zur „Angelegenheit von ge-meinsamem Interesse“ (Artikel K 1) gewordenen Asylpolitik für die Mit-gliedstaaten derartig groß, daß sie in einer Erklärung in der Schlußakte des Vertrages vorsahen, die Einbeziehung der Asylpolitik ins Gemeinschaftsrecht (der ‚Ersten Säule‘) zu prüfen. Die gemeinsamen Ängste vor Asylsuchenden und Flüchtlingen schienen größer als die Sorge um den Verlust der nationalen Souveränitätsrechte in diesem so sensiblen Bereich der Innenpolitik.

Hintergründe

Bereits vor Inkrafttreten des Unionsvertrages haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft in Sachen Asyl- und Einwanderungspolitik in Vorbereitung eines gemeinsamen Binnenmarktes zusammengearbeitet, da von dem geplanten freien Personenverkehr ohne Binnengrenzen möglicherweise auch Asylsuchende und Flüchtlinge hätten profitieren können. Zwar stand die Zusammenarbeit auf keiner explizit vertraglichen Grundlage, wurde jedoch unter der Perspektive der sogenannten „Ausgleichsmaßnahmen zum Wegfall der Binnengrenzkontrollen“ betrieben. Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und nationale Parlamente hatten kaum Einblick, geschweige denn Einfluß auf die Inhalte der Zusammenarbeit. Die für das Asyl- und Flüchtlingsrecht in Europa einschneidendsten, bis zum Inkrafttreten des Unionsvertrages beschlossenen Maßnahmen sind die im Juni 1990 in Dublin unterzeichnete ‚Konvention über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines Asylbegehrens‘ (Dubliner Konvention) und eine Reihe von – rechtlich nicht bindenden, aber faktisch sehr wirksamen – Entschließungen und Schlußfolgerungen. Dazu zählen insbesondere die ‚Entschließung über offensichtlich unbegründete Asylanträge‘, die ‚Ent-schließung zu einem ein-heitlichen Konzept in bezug auf Drittaufnahmeländer‘ und die ‚Schlußfolgerungen betreffend Länder, in denen im allgemeinen keine ernst-liche Verfolgungsgefahr besteht‘, die alle im November 1992 in London ver-abschiedet wurden, sowie die im Juni 1992 in Lissabon beschlossene Ein-richtung eines ‚Zentrums für Information, Diskussion und Austausch über Asyl‘ (CIREA). Mit der Dubliner Konvention wurden Kriterien entwickelt, um den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Überprüfung eines in der EU gestellten Asylantrags zuständig sein soll. Ziel der Konvention ist es, die Durchführung paralleler oder sukzessiver Asylverfahren in mehreren Staaten der entstehenden ‚Gemeinschaft ohne Binnengrenzen‘ zu verhindern. Zu-sammenfassend läßt sich sagen, daß nach der Dubliner Konvention der Staat, der die legale oder illegale Einreise eines Asylsuchenden, sei es durch Erteilung eines Visums oder durch mangelnde Grenzkontrolle, verursacht hat, für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig wird. Dabei richtet sich die Prüfung des Asylbegehrens allein nach dem jeweiligen nationalen Recht. Mit der Einrichtung von CIREA wurde der für die Umsetzung der Dubliner Kon-vention für notwendig erachtete Austausch über Zugangszahlen, Anerken-nungspraxis und andere mit dem Thema Asyl verbundene Fragen geschaffen. Die drei Londoner Entschließungen und Schlußfolgerungen, die von vielen Mitgliedstaaten, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, ins nationale Recht umgesetzt wurden, legen diese beschleunigte Verfahren für eine Reihe von „offensichtlich unbegründeten“ Asylanträgen und eine weite Definition dieses Begriffs sowie das Konzept „sicherer“ Drittstaaten und „sicherer“ Herkunftsländer nahe. Bemerkenswert ist die Entschließung zu Drittauf-nahmeländern, da hier die Intention der Asylpolitik am deutlichsten zu Tage tritt. So werden zum einen Kriterien festgelegt, nach denen ein Drittstaat außerhalb der EU bestimmt werden kann, in dem ein Asylbewerber bereits vor Verfolgung sicher war und demzufolge hätte Asyl beantragen können. Zum anderen stellt die Entschließung das Verhältnis zwischen der Drittstaatenre-gelung und der Dubliner Konvention klar: Die Mitgliedstaaten sind gehalten, bei Asylantragstellung zu prüfen, ob der Asylsuchende nicht an einen Staat außerhalb der EU verwiesen und zurückgeschickt werden kann, bevor der Asylantrag in der EU inhaltlich geprüft und die Kriterien der Dubliner Kon-vention angewandt werden müssen. Gleichzeitig stellt die Entschließung auch klar, daß selbst dann, wenn jemand entsprechend der Dubliner Konvention an den für die Prüfung zuständigen EU-Staat überstellt wurde, dieser den Antragsteller gemäß seinem nationalen Recht an einen Drittstaat außerhalb der EU überstellen kann. Damit ist offensichtlich, daß entgegen anderslautenden Beteuerungen, mit der Dubliner Konvention die Durchführung eines Asylverfahrens innerhalb der EU nicht garantiert ist.

Zusammenarbeit nach dem Unionsvertrag

An der bereits vor Inkrafttreten des Unionsvertrages festzustellenden Ten-denz, daß Asylsuchende möglichst anderswo und insbesondere außerhalb der EU Asyl und Schutz suchen sollten, hat sich inhaltlich wenig geändert. Daß sich die Inhalte der Politik kaum geändert haben, mag nicht überraschen. Daß sich jedoch auch an der Form der Zusammenarbeit und den Instrumenten nichts Wesentliches geändert hat, ist zumindest so bemerkenswert, daß sowohl die Kommission als auch der Rat in ihren jeweiligen Bestandsaufnahmen zum Funktionieren des Unionsvertrages darüber ihr Bedauern ausdrückten. Nicht nur die (neuen und kaum verwendeten) Instrumente erwiesen sich als untauglich, auch die vorgesehene Einbeziehung der Gemeinschaftsorgane ließ zu wünschen übrig. Die Frage der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), der zumindest für die Auslegung von Konventionen zuständig gemacht werden könnte (Art. K 3, Abs. 2 c), wenn sich die Mitgliedstaaten explizit darauf einigten, droht seit geraumer Zeit die Verhandlungen im Rahmen der Innen- und Justizpolitik zu sprengen. Bislang jedenfalls haben nicht nur Asylsuchende und Flüchtlinge, sondern auch alle anderen von einer gemeinsamen Innenpolitik betroffenen Personen und der EuGH nichts miteinander zu tun. Es sieht mittlerweile sogar so aus, als ob die Niederlande (der einzige der ur-sprünglichen Signaturstaaten der Dubliner Konvention, der diese noch nicht ratifiziert hat) es aufgegeben hätten, auf der Unterzeichnung eines Zusatz-protokolles zu bestehen, mit dem der EuGH für die Beilegung von Rechts-streitigkeiten bezüglich dieser Konvention zuständig gemacht werden sollte. Das Europäische Parlament schließlich, das informiert und dessen Auffassungen gebührend berücksichtigt werden sollten (Art. K 6 EUV), hat bislang noch keinen einzigen Text vor seiner Verabschiedung im Rat zu Gesicht bekommen. Die jährlichen Entschließungen des Parlamentes zu den Fortschritten in der Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz sind kraftlos geblieben und zeugen in erster Linie von der Empörung über mangelnde Einbeziehung in diesen Bereich europäischer Politik.
Die Musik spielt nach wie vor hinter den verschlossenen Türen des Rates, in Arbeitsgrupppen von Ministerialbeamten der nationalen Ministerien. Im Asylbereich sind dies – in der Hierarchie von unten nach oben – die Arbeits-gruppen Asyl und CIREA (1. Ebene), die Lenkungsgruppe I ‚Asyl und Ein-wanderung‘ (2. Ebene), der K-4-Ausschuß (3. Ebene) sowie der ‚Ausschuß der Ständigen Vertreter‘ (AStV), der als einziges Gremium aus den in Brüssel ansässigen Vertretern der Mitgliedstaaten besteht und in allen Politikbe-reichen der EU tätig ist (4. Ebene). Gekrönt werden die Arbeiten in diesen Gremien, meist nach der politischen Einigung durch ihre Verabschiedung im Rat für Inneres und Justiz, der als ‚formelles‘ Organ die halbjährlich stattfin-denden ‚informellen‘ Tagungen der für Einwanderungsfragen zuständigen Minister abgelöst hat.

Musterentwurf eines bilateralen Rückübernahmeabkommens

Am 30. November 1994 verabschiedete der Rat für Inneres und Justiz eine Empfehlung, nach der die Mitgliedstaaten sich verpflichteten, ab 1.1.95 einen Musterentwurf eines Rückübernahmeabkommens zu nutzen, um solche Abkommen mit möglichst vielen Drittstaaten zu schließen. Sie wollen sicherstellen, daß illegal Eingereiste oder Personen ohne die erforderlichen Aufenthaltstitel möglichst effektiv und ohne bürokratische Hindernisse in Drittstaaten oder ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können. Strategie der EU-Mitgliedstaaten ist, die wirtschaftlichen Abkommen der Union (Europa-, As-soziations- und Kooperationsabkommen), an denen Drittstaaten sehr interes-siert sind, nur noch unter der Bedingung abzuschließen, daß diese bereit sind, Rückübernahmeabkommen mit den EU-Staaten abzuschließen. Viele im Asylbereich tätige Organisationen haben kritisiert, daß der Musterentwurf keine ausreichend klaren Regelungen zum Schutz von Asylsuchenden vorsieht und damit die Gefahr von Kettenabschiebungen besteht. Die vom Rat verabschiedete Empfehlung stellt somit ein weiteres Element zu der bereits mit der Entschließung zur Drittstaatenregelung begonnenen Tendenz dar, Asylsuchende möglichst an Staaten außerhalb der EU zu verweisen, ohne Rücksicht auf die Folgen für die Betroffenen.

Mindestgarantien für Asylverfahren

Ein zunächst positiv scheinender Schritt deutete sich an, als Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) in seiner Regierungserklärung am 3.12.93 davon sprach, daß eine gemeinsame europäische Asylpolitik nur erfolgreich sein könne, wenn überall in Europa über einen Asylantrag nach weitgehend einheitlichen Kriterien und aufgrund gleichwertiger Verfahren entschieden würde. Das erste Resultat, eine Entschließung über Mindestgarantien in Asylverfahren, zeigte allerdings, wie gering der politische Wille zu einer tatsächlichen ‚Harmonisierung‘ der Asylpolitik, insbesondere der Asylverfahren, tatsächlich ist, und wie gering die Chance, dabei etwas für den Schutz von Asylsuchenden und Flüchtlingen zu erreichen. Die gemeinsame Entschließung vom 21.6.95 beginnt vielversprechend mit einer Reihe von grundlegenden Verfahrensgarantien; beispielsweise dem Recht, während der Prüfung eines Rechtsmittels gegen eine negative Entscheidung im Land bleiben zu können. Dann jedoch folgen zu fast allen der insgesamt 17 grundlegenden Garantien wieder Ausnahmen: U.a. ist vorgesehen, daß bei Asylanträgen, die an der Grenze gestellt wurden oder bei Anwendung der Drittstaatenregelung ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung haben muß. Im Grunde stellt der verabschiedete Text so insgesamt nichts anderes dar als eine Festschreibung des in den einzelnen Mitgliedsstaaten bestehenden (recht unterschiedlichen) verfahrensrechtlichen Status quo oder, mit den Worten eines Beamten, der an den Verhandlungen auf europäischer Ebene teilgenommen hat, eine „Fotografie“ der aktuellen Situation.
So fehlt im Ergebnis jegliche wirkliche Angleichung der Verfahren ebenso wie die Einigung auf grundlegende Mindestgarantien, die eine effektive und umfassende Prüfung von Asylbegehren verbindlich festlegen würden.
Nach der ‚Einigung‘ auf verfahrensrechtliche Aspekte folgten Diskussionen über die materiellrechtlichen Aspekte des Asylrechts, etwa die Frage, wer Flüchtling ist und in der EU anerkannt werden sollte. Das Ergebnis dieser Debatte ist der erste, im Rahmen der Innen- und Justizpolitik (fast) verab-schiedete gemeinsame Standpunkt über die Auslegung der Definition des Flüchtlings in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Vor allem war strittig, inwieweit ein solcher Standpunkt für die Mitgliedstaaten rechtlich bindend sein sollte. Beigelegt wurde der Streit durch eine Formulierung, mit der klargestellt wurde, daß damit den für die Prüfung von Asylbegehren zuständigen Behörden eine Leitlinie gegeben werden solle, diese jedoch nicht für Gerichte gelten könne. Da jedoch in der Regel Gerichte für grundsätzliche Fragen der Anerkennungspraxis ausschlaggebend sind, fragt sich auch hier, inwieweit damit tatsächlich zu einer Harmonisierung beigetragen wird. Kritikerin dieses Gemeinsamen Standpunktes war vor allem die mit der Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention betraute Organisation der UN, die Weltflüchtlingsorganisation UNHCR. In einer Presseerklärung zeigte sich UNHCR besorgt darüber, daß dadurch eine unge-rechte Situation geschaffen würde, in der Personen, die in einem Bürgerkrieg von der Regierung verfolgt würden, Asyl erhalten könnten, nicht aber Perso-nen, die von Rebellengruppen oder der Opposition verfolgt würden. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist jedoch unerheblich, wer Urheber der Verfolgung ist. Mit ihr sollen alle Personen internationalen Schutz finden können, unabhängig davon, ob ein Staat seine Staatsangehörigen vor Verfolgung nicht schützen kann oder will. Dänemark und Schweden brachten in einer Erklärung im Anhang zum Gemeinsamen Standpunkt immerhin zum Ausdruck, daß sie die Auffassung des UNHCR teilen.

Nachdem unterdessen die wesentlichen Aspekte einer Asylpolitik vom Rat für Inneres und Justiz festgelegt sind, ist es mehr als fraglich, ob gegenwärtige Projekte wie die Arbeit an gemeinsamen Standards der Aufnahme von Asylsuchenden oder an den Rechten anerkannter Flüchtlinge zu Resultaten führen, die positive Auswirkungen für Flüchtlinge haben werden. Hilfreich für diesen Prozeß wäre es eventuell, wenn er transparenter gestaltet wäre und sowohl parlamentarische Kontrolle durch nationale und das Europäische Parlament ebenso ermöglichen würde wie gerichtliche Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof; doch sind damit noch keine Garantien gegeben, daß sich auch inhaltlich etwas zum Besseren wenden wird.

Olaf Neußner ist langjähriges Mitglied von amnesty international und derzeit in der Entwicklungshilfe tätig.
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.

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