Fernmeldeüberwachung – Über die Verhinderung von Wissen mit statistischen Mitteln

von Norbert Pütter

Das Abhören von Telefongesprächen ist die älteste der technikgestützten heimlichen Überwachungsmethoden. Seit die Strafprozeßordnung vor genau 30 Jahren um die §§ 100a und 100b erweitert wurde, dürfen die Polizeien der Bundesrepublik im Rahmen der Strafverfolgung den Telefonverkehr überwachen. Trotz der langen Erfahrungen mit dieser Methode fehlen nach wie vor genaue Angaben darüber, in welchem Umfang überwacht wird. Der Grundrechtseingriff wird von den Behörden offensichtlich als so belanglos angesehen, daß selbst einfache statistische Daten nicht erhoben werden.

Die Fragen, die eine demokratische Öffentlichkeit an diejenigen Apparate stellt, die gesetzlich ermächtigt sind, in das Fernmeldegeheimnis einzugreifen, sind schlicht. Sie betreffen das Ausmaß der Überwachung des Fernmeldeverkehrs, deren Anlässe und den Personenkreis, der von ihr betroffen ist. Obwohl die Kontrolle der Telefonüberwachung im Zusammenhang mit der Legalisierung des ‘Großen Lauschangriffs’ stärker in die öffentliche Diskussion gekommen war, hat die Qualität der veröffentlichten Zahlen eher abgenommen. In früheren Jahren gab es zwei Erfassungsprobleme:

  • Handelte es sich um Angaben über die Zahl der Anordnungen oder um die Zahl der überwachten Anschlüsse? Mit wenigen Ausnahmen [1] wurden die Anordnungen erfaßt. Wie viele Anschlüsse auf eine Anordnung entfielen, blieb unbekannt. Sofern beide Angaben verfügbar sind, wurden sie in die nachfolgende Tabelle aufgenommen. Daß pro Überwachungsanordnung mehrere Anschlüsse überwacht werden (können), ergibt sich auch aus anderen Angaben, die in die Tabelle nicht aufgenommen werden konnten. In vier Bundesländern wurden in den Jahren 1992 bis 1994 maximal zwei bis sechs Anschlüsse pro Anordnung überwacht. [2] In den beim Generalbundesanwalt 1996 geführten Verfahren wurden höchsten vier Anschlüsse pro Anordnung überwacht. [3] In Sachsen-Anhalt wurden vom 15.7.1991 bis zum 9.3.1994 38 Überwachungsbeschlüsse gezählt, die 73 Anschlüsse umfaßten. [4] Die Gesamtangaben für 1996 zeigen denn auch, daß die Zahl der abgehörten Telefone erheblich über der der Anordnungen liegt.
  • Fernmeldeüberwachungen können bei Gefahr im Verzuge von der Staatsanwaltschaft angeordnet werden; sie müssen beendet werden, wenn sie nicht innerhalb von drei Tagen richterlich bestätigt werden. Jene maximal dreitägigen staatsanwaltschaftlichen Eilanordnungen tauchen in der Regel in keiner Statistik auf. Die wenigen verfügbaren Daten sind in der Tabelle aufgenommen. Je nach Belieben – so scheint es – sind diese Angaben in die Gesamtsumme der Anordnungen aufgenommen worden oder nicht. Man kann deshalb davon ausgehen, daß auch die Zahl der Anordnungen in der Vergangenheit höher war als in den amtlichen Zahlen angegeben.

Erhebungswirrwar

Seit 1993 sah sich die Bundesregierung nicht mehr in der Lage, die Fernmeldeüberwachungen einzelnen Bundesländern zuzuordnen. Statt dessen verwies sie auf die Zahlen der Telekom. Diese sind nach Telekom-Direktionen aufgeschlüsselt, die nicht mit den Grenzen der Bundesländer identisch sind. [5] Den Aufstellungen kann man zwar entnehmen, daß die meisten Anordnungen in der Direktion Frankfurt/Main getroffen wurden (1994: 501) und daß die Anordnungen in der Direktion Berlin von 82 im Jahr 1993 auf 156 im Jahr 1994 stiegen, die Zuordnung zu den Ländern und damit der zeitliche Vergleich werden jedoch erheblich erschwert. Gleichzeitig erlaubt dieses Berichtswesen die generelle Auskunftsverweigerung, die z.B. der Berliner Innensenator praktiziert. [6] Wie das Beispiel Baden-Württemberg zeigt, muß es wohl zunächst zu Skandalen kommen, damit Berichtspflichten eingeführt werden.
Nach längeren Beratungen hat sich die Justizministerkonferenz auf die einheitliche statistische Erhebung der Fernmeldeüberwachungen geeinigt, die seit dem 1.1.1996 stattfindet. [7] Damit sind neue Schwierigkeiten aufgetreten.

  • Statt die alten Kategorien „Anordnungen“ und „Anschlüsse“ aufzunehmen, wird nun die Zahl der Verfahren mit Fernmeldeüberwachungen gezählt. Mit dieser Angabe allein läßt sich nichts über das Ausmaß der Überwachung aussagen. So wurden z.B. 1996 im Bereich des Generalbundesanwalts maximal 17 Anschlüsse in einem Verfahren überwacht. [8] In der OK-Abteilung der Hamburger Polizei wurden 1987 in 10 Verfahren 60, 1988 in 1 Verfahren 11 und 1991 in 12 Verfahren 35 Anschlüsse abgehört. [9] Ohne die Zahl der überwachten Anschlüsse zu erheben, sagen Angaben über die Verfahren wenig aus.
  • Im Zusammenhang mit der vereinheitlichten Registrierung wurde dazu übergegangen, die von der Überwachung Betroffenen zu erfassen (s. auch: Rheinland-Pfalz, Niedersachsen in der Tabelle). Damit sind Beschuldigte oder andere Anschlußinhaber gemeint; die Zahl der überwachten Anschlüsse kann demnach nicht geringer sein als die der Betroffenen. Aber wie werden überwachte Telefonzellen, öffentliche Faxgeräte etc. gezählt?

Daß die neue Zählweise mehr Verwirrung als Klarheit bringt, zeigt die Bilanz von 1996. Die Länder meldeten 1.798 Verfahren mit 3.172 Betroffenen, während die Bundesregierung aufgrund der Zahlen der Telefongesellschaften 6.428 Anordnungen nannte. Im Sommer 1997 beschloß die Justizministerkonferenz, die Ursachen für diese Abweichungen klären zu wollen![10]

Delikte und Zielpersonen

Hinsichtlich der Delikte, zu deren Aufklärung die Fernmeldeüberwachung eingesetzt wird, bestätigen die neuen Zahlen, was man aus Bruchstücken schon vorher wußte. Der überwiegende Teil der Anordnungen/ Verfahren betrifft den illegalen Drogenhandel. Z.B. betrafen 833 der im Jahre 1996 bundesweit gezählten 1.798 Verfahren Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz. [11]1.086 der 3.964 Anordnungen von 1993 bezogen sich auf Drogendelikte. [12] Und 1991 galten 285 der 526 baden-württembergischen Anordnungen Drogenverfahren. [13]
Interessanter als die deliktische Verteilung ist der Blick auf die von der Überwachung (direkt) Betroffenen. Überwacht werden können Anschlüsse von Beschuldigten oder von deren Kontaktpersonen, aber auch öffentliche Telefonzellen oder die Apparate in Hotels oder Gaststätten. Angaben hierzu liegen nur bruchstückhaft vor. 1993 wurden z.B. in Baden-Württemberg 14, in Hamburg fünf und in Hessen 29 Telefonzellen überwacht. Im selben Jahr ergingen in Hessen 280 Anordnungen gegen Beschuldigte und 253 gegen Kontaktpersonen; in Brandenburg ergingen 20 Anordnungen gegen Kontaktpersonen und nur 17 gegen Beschuldigte. [14] 1996 standen den 16 Anordnungen, die in Verfahren des Generalbundesanwalts auf Beschuldigte zielten, 86 Anordnungen für Kontaktpersonen gegenüber. [15] Angesichts dieser Streubreite der Fernmeldeüberwachung wundern deren ‘Erfolge’ wenig. In Baden-Württemberg z.B. wurde 1986 in 359 Verfahren abgehört. Bis zum 1.3.1997 waren 200 dieser Verfahren abgeschlossen – in 64 Fällen mit einer Einstellung. Gleichzeitig wurden nach Angaben der Landesregierung in 135 Fällen „sonstige verfahrensrelevante Erkenntnisse oder neue Ermittlungsansätze“ gewonnen. [16] Ausweislich dieser Zahlen darf man wohl vermuten, daß einerseits zu viel überwacht wird, andererseits der polizeiliche Nutzen des Abhörens in weit mehr besteht als in der Aufklärung eines bestimmten Verdachts.

Ungekannte Dimensionen

Mehr als die Zahl der Anordnungen und Anschlüsse, mehr als die der „Betroffenen“ ist für eine Einschätzung des Ausmaßes der Fernmeldeüberwachung von Interesse, wie viele Gespräche von wie vielen Personen überwacht werden. In dieser Hinsicht schweigen alle Statistiken. Entsprechende parlamentarische Anfragen werden seit Jahren mit dem Hinweis beantwortet, daß jene Daten nur mit unverhältnismäßigem Aufwand erhoben werden könnten. Das Argument ist in der Sache wenig überzeugend, wenn etwa der Generalbundesanwalt und das Bundeskriminalamt auf den Pfennig genau ihre Überwachungskosten angeben können. [17] Politisch kennzeichnet es die ‘Innere Sicherheitspolitik’, der Grundrechte so wenig zählen, daß sie deren Verletzung noch nicht einmal genau zu quantifizieren bereit ist. So wird die Öffentlichkeit auch weiterhin auf Einzelfälle [18] angewiesen sein, wenn sie das tatsächliche Ausmaß polizeilicher Fernmeldeüberwachung abschätzen will.

Tabelle 1:
Richterliche und staatsanwaltschaftliche Anordnungen zur Fernmeldeüberwachung gem. §§ 100a, 100b StPO

Die Tabelle ist in zwei Teile geteilt, damit sie leichter ausgedruckt werden kann.

1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984
Baden-Württemberg 162h 169h 162d
Bayern 120h 132h 131d
Berlin
Brandenburg
Bremen 7h 20h 19d
Hamburg 64h 46h 60d
Hessen 147h 209h 187d
Mecklenburg-Vorpommern
Niedersachsen 56h 78h 69d
Nordrhein-Westfalen 156u 249u 272u 376u
Rheinland-Pfalz 44h 40h 42d
Saarland 12h 4h 1d
Sachsen
Sachsen-Anhalt
Schleswig-Holstein 17h 27h 28d
Thüringen
Bundeskriminalamt
Generalbundesanwalt
StA-Anordnung
ohne richterl. Bestät.
9c 8c 18c 21c 17c
Gesamt: Festleitung
Anschlüsse
Mobiltelefone
Anschlüsse
Alle Anschlüsse
104a 252a 432a 511a 526a 443b 766c 835c 1024c 1046c 1205c
1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997
Baden-Württemberg 286h 234h 305h 363h 390h 403h
418l
526f
480l
559e
532l
759i 665p
736p
331p
755q
837q
359q
Bayern 120h 188h 201h 276h 281h 336h 457f 560e 346m
Berlin 8h 47f 72e
Brandenburg 6e
8l
59i 49l
Bremen 16h 15h 32h 40h 31h 34h 143f 206e
Hamburg 51h 79h 101h 85h 124h 121h
174l
174f
160l
226e
184l
206i
201l
193l
Hessen 247h 254h 238h 291h
316s
335h
343s
354h
440l
407f
464l
226s
448e
632l
562i
501l
568l
Mecklenburg-Vorpommern 0e
8l
18i 50l 21t 8t
Niedersachsen 144h 147h 176h 265h 246h 279h 128f 182e 475i 221r
362r
209r
252r
Nordrhein-Westfalen 380u 415u 518u 731u 780u 622h
740u
685l
740f
940u
821l
912e
960l
888i
911l
924l
Rheinland-Pfalz 100h 77h 66h 117h 156h 166h 110f 195e 151v 148v
238v
Saarland 0h 3h 1h 37h 46h 44h 35f 30e
Sachsen 0w 22e
10l
30i 61l 61x
76x
91x
121x
Sachsen-Anhalt 4l 11e
13l
71l 81l 60ü
Schleswig-Holstein 29h 41h 51h 48h 65h 76h 30f 51e 131y 123y
Thüringen 19e 1992 – 1995
96l
Bundeskriminalamt 377z 257ö
257ö
Generalbundesanwalt 104z 96ö
34ö
StA-Anordnung
ohne richterl. Bestät.
24c 29c 2n
17o
3n
13o
5n
10o
6n
18o
(11n)
(23o)
Gesamt: Festleitung
Anschlüsse
Mobiltelefone
Anschlüsse
Alle Anschlüsse
1399c 1532c 1805b 2191e 2247e 2494e

1l

2797e

2l

3499e

4l

3964i

52l

3730j

69l

3667k 4674z
6183z
1754z
1929z
8112z
1227ä

 

Legende:
Normalschrift = Anordnungen;
einfache Unterstreichung = Telefonanschlüsse;
fett = Verfahren;
kursiv = Betroffene

Quellen zur Tabelle:

a Carr, J. G.: Polizeiliches Abhören in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik Deutschland: Rechtslage und Praxis, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1979, H. 2, S. 65-75 (72)
b Meier, W.: Die strafprozessuale Verwertbarkeit von Zufallsfunden über Unbeteiligte und die von unbeteiligten Dritten herrühren bei Abhörmaßnahmen nach § 100a StPO, Tübingen (Diss.) 1988, S. 2
c Schnelle, H.: Abhörmaßnahmen nach §§ 100a, 100b StPO in Nebenstellenanlagen, Stuttgart (Diss.) 1989, S. 13 (die erfaßten StA-Anordnungen ohne richterliche Bestätigung sind in den Gesamtzahlen enthalten)
d BT Drs. 10/2395, S. 7 (ohne staatsanwaltschaftliche Anordnungen)
e BT Drs. 12/5269, S. 6f.
f BT Plenarprotokoll 12/157. (12.5.1993), S. 13353
g BT Drs. 12/7116, S. 17
h Lücking, E.: Die strafprozessuale Überwachung des Fernmeldeverkehrs, Freiburg i. Br. 1992, S. 42 (Angaben für das Saarland von 1981-87 einschl. Eilanordnungen)
i BT Drs. 12/8306, S. 6
j BT Drs. 13/555, S. 2
k BT Drs. 13/3618, S. 2
l BT Drs. 13/4437, S. 7f. (Angaben über Mobilfunk nur aus 10 Ländern). In Baden-Württemberg wurden Auto- oder Mobiltelefone überwacht: 1990:4, 1991: 6, 1992: 9, 1993: 10, s. LT Baden-Württemberg Drs. 11/2567, S. 3
m LT Bayern Plenarprotokoll 13/78. (23.4.1997), S. 5671
n LT Bayern Drs. 12/7623 (Angaben nur für Bayern, Zahl in Klammern offensichtlich in Gesamtzahl der Anordungen enthalten)
o LT Baden-Württemberg Drs. 11/95, S. 2 (nur für Baden-Württemberg, Zahl in Klammern offensichtlich in der Gesamtzahl der Anordnungen enthalten)
p LT Baden-Württemberg Drs. 12/127, S. 2
q LT Baden-Württemberg Drs. 12/1811, S. 1f.
r LT Niedersachsen Drs. 13/3112, S. 6
s LT Hessen Drs. 13/2360, S. 1 u. 3
t LT Mecklenburg-Vorpommern Drs. 2/1420 (Angaben beziehen sich auf „Fälle“; für 1996 bis 23.5.1996 erfaßt)
u LT Nordrhein-Westfalen Drs. 11/4440, S. 2
v LT Rheinland-Pfalz Drs. 13/1658, S. 1
w LT Sachsen Drs. 1/3968
x LT Sachsen Drs. 2/5781
y LT Schleswig-Holstein Drs. 13/2776, S. 1
z BT Drs. 13/7341, S. 2-5
ä Frankfurter Rundschau v. 17.4.1998
ö Vorläufige Mitteilung des Bundesministeriums der Justiz an MdB Manfred Such
ü LT Sachsen-Anhalt Drs. 2/2140, S. 3
Norbert Pütter ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Wohl nur in NRW wurde durchgängig immer die Zahl der Anschlüsse erfaßt, s. Dinkel, A.: Überwachungspraxis in Deutschland, in: Kriminalistik 1994, H. 2, S. 87-91
[2] BT Drs. 13/437, S. 9
[3] BT Drs. 13/7341, S. 6
[4] LT Sachsen-Anhalt Drs. 1/3628, S. 3 u. 5
[5] BT Drs. 12/8306, S. 2, 13/555, S. 2, 13/3618, S. 2
[6] s. zuletzt: Landespressedienst Berlin v. 16.3.98, S. 15
[7] s. zum Erfassungssystem: BT Drs. 13/341, S. 12-14
[8] BT Drs. 13/7341, S. 6
[9] Bürgerschaft Hamburg Drs. 14/1482, S. 1
[10] LT Niedersachsen Drs. 13/3112, S. 4
[11] Pressemitteilung MdB Manfred Such v. 12.4.1996
[12] BT Drs. 12/8306, S. 4
[13] LT Baden-Württemberg Drs. 11/95, S. 2; 1996 betrug der Drogenanteil 56,4% aller Anordnungen, s. LT Baden-Württemberg Drs. 12/1811.
[14] BT Drs. 12/8306, S. 5-7
[15] BT Drs. 13/7341, S. 5
[16] LT Baden-Württemberg Drs. 12/1811, S. 4
[17] BT Drs. 13/7341, S. 8
[18] Etwa den berühmten Fall der Göttinger ‘Antifa M’: neun Anschlüsse mit insgesamt 13.929 Gesprächen, s. LT Niedersachsen Drs. 13/1255, S. 15