Pressekonferenz: Die falsche Antwort auf den 11. September: Der ÜBERWACHUNGSSTAAT, 24.10.2001
In der Revolution von 1989 hatte die Entmachtung des gefürchteten Staatssicherheitsdienstes einen hohen Stellenwert. Als Schild und Schwert der Partei hat die Stasi systematisch Angst und Schrecken verbreitet und versucht, Kritik an Partei und Staat im Keim zu ersticken. Bereits die Angst vor der Stasi hat viele Bürger verstummen lassen, auch wenn sie persönlich gar nicht drangsaliert wurden. Die Medien logen, schwiegen oder verbreiteten Lobeshymnen auf Partei- und Staatsführung und die „Freunde“. Informationen wurden durch Propaganda ersetzt. Das war besonders bitter in Krisensituationen wie dem Einmarsch der Russen in Prag, der Solidarnos-Bewegung in Polen oder dem Krieg der Russen in Afghanistan. Die Ausbildung, die berufliche Karriere konnte sehr schnell zuende sein, wenn man die Zunge nicht im Zaum hatte. Da, wo die Stasi wirklich zu tun gehabt hätte, hat sie jämmerlich versagt. Ich erinnere mich auch noch sehr gut an die Situation, in der das NEUE FORUM vom Ministerium des Innern über die Medien als „verfassungsfeindliche Gruppenbildung“ gebrandmarkt wurde. Wenige Wochen später hatten Innenminister und Stasi ihre Macht verloren, sie waren nicht in der Lage, die tatsächlich vorhandenen Konflikte mit polizeilich-geheimdienstlichen Mitteln zu lösen oder im Zaum zu halten.
Nach dem 11. September war Deutschland starr vor Entsetzen. Dann wurde Information durch Propaganda ersetzt. Die Medien beugten sich so flächendeckend dem Druck der Propaganda, daß die wenigen kritischen Beiträge als Raritäten von Hand zu Hand weitergereicht wurden. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy schrieb in der FAZ, was viele Deutsche denken – aber bis heute nicht offen auszusprechen wagen. Was geht hier vor? Was geht in unserem Lande vor sich, wenn unwidersprochen wieder und wieder in Talkshows die Totschlagargumente Antiamerikanismus und die 40jährige Gehirnwäsche bei den armen Ossis zur Disqualifizierung kritischer Anfragen an die amerikanische Reaktion auf den Terror eingesetzt werden? Was geschieht bei uns, wenn Lehrer vom Dienst suspendiert werden, die mit den Schülern kritisch über den Krieg in Afghanistan reden? Ich fühle mich täglich in meinen eigenen Reaktionen, in den Medien, im Verhältnis zu den Politikern und im Verhältnis zu unseren neuen „Freunden“ in den USA an fast vergessene Zeiten erinnert.
In dieser eiskalten Vernebelung der öffentlichen Wahrnehmung legt Otto Schily hinter verschlossenen Türen Vorschläge auf den Tisch, die Erich Mielke alle Ehre gemacht hätten.
Vielleicht könnte sich Herr Schily darüber hinaus beim Aufbau einer Geruchsdatenbank oder beim Einsatz von Radionukliden zur Markierung von Terroristen und solchen die es werden könnten von den erfahrenen Fachleuten des MfS beraten lassen. Wie voreilig von uns, die Telephonüberwachungseinrichtungen und Videokameras der Stasi zerstört zu haben.
Unter der akuten Bedrohung von Terroranschlägen sind Trittbrettfahrer schrecklich – Trittbrettfahrer sind nicht nur Leute, die falschen Terroralarm provozieren, Trittbrettfahrer sind auch Leute, die die Gefühlslage der Bürger unter der Bedrohung von Terroristen dazu mißbrauchen, Rechtskultur und Bürgerrechte abzubauen, einen Polizei- und Geheimdienststaat aufzubauen und ihre Waffen- und Munitionsbestände zu erproben und zu erneuern.
Versetzen wir uns in die kranke Phantasie der Terroristen, so hätte es eine gewisse Logik, daß das nächste Ziel eines Terroranschlags ein Kernkraftwerk sein sollte. Die Unschützbarkeit kerntechnischer Anlagen vor Krieg und Terror ist eines der ältesten Argumente gegen die Nutzung der Kernenergie. Der Absturz einer vollgetankten großen Passagiermaschine auf ein deutsches KKW würde unser Land ins Chaos stürzen. Die Regierung weigert sich, die einzig mögliche Verhinderung einer solchen Katastrophe anzupacken – das wäre die umgehende Stillegung aller KKW. Zugegebenermaßen wäre das ein Kraftakt, den man von unserer heutigen Regierung nicht erwarten kann. Fragt man, wie wir denn auf eine Katastrophe dieser Art vorbereitet sind, stößt man ins Leere. 15 Jahre nach Tschernobyl ist der Katastrophenschutz in der Umgebung der KKW eine Katastrophe. Nur ein Beispiel: bei einer solchen Katastrophe wird auch radioaktives Jod frei, das über mehrere hundert Kilometer verteilt und vom menschlichen Organismus aufgenommen wird. Es sammelt sich in der Schilddrüse und kann dort Krebs oder andere Erkrankungen verursachen. Durch die rechtzeitige Einnahme eines ganz einfachen und billigen Medikaments (Kalium Jodatum) kann man das jedoch weitgehend verhindern. Als ungelöst galt bisher lediglich das Problem, wie man innerhalb von Minuten bis Stunden eine Bevölkerung von mehreren 100.000 oder gar Millionen Menschen zuverlässig mit diesem Medikament versorgen kann. In diesen Tagen hat sich herausgestellt, daß dieses simple Medikament auf dem Markt überhaupt nicht verfügbar ist. Es ist zu befürchten, daß das schon lange so ist. Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.
Die Pläne von Otto Schily haben mit der Handlungsunfähigkeit angesichts bevorstehender Anschläge auf KKW eines gemeinsam: die Opfer der Anschläge sind im Vergleich zum reizvollen Aufbau eines hightech- und waffenstarrenden Überwachungsstaates und einer umweltschützenden Atomindustrie kaum von Interesse. Aber das war ja schon immer so.
Nachbemerkung: 1983 habe ich mir in Christa Wolfs „Kassandra“ drei Stellen angestrichen:
„Sprach in Troja irgendein Mensch von Krieg? Nein. Er wäre bestraft worden. In aller Unschuld und besten Gewissens bereiteten wir ihn vor. Sein erstes Zeichen: Wir richteten uns nach dem Feind. Wozu brauchten wir den?“
„Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gibt, müßte man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter anderen Sätzen: Laßt euch nicht von den Eigenen täuschen.“
„Verfluchter Krieg. Wir schwiegen, alle drei. Mit diesem Schweigen, an dem mehrere beteiligt sind, so lernte ich, beginnt Protest.“
Kontakt: Dr. Sebastian Pflugbeil · Gründungsmitglied des NEUEN FORUM, Minister a.D., MdA a.D., Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz · Gormannstr. 17 · 10119 Berlin