Einmal mehr hat sich das Europäische Parlament (EP) auf einen faulen Deal mit dem Rat eingelassen. Am 25. Oktober 2006 verabschiedete es in erster und einziger Lesung die Rechtsgrundlagen für das Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II). Vorausgegangen war ein „Trialog“ hinter verschlossenen Türen zwischen VertreterInnen der Kommission, des Rates und des EP, darunter der Berichterstatter des Innen- und Bürgerrechtsausschusses, Carlos Coelho. Am 27. September erzielte man einen „Kompromiss“, den das Parlamentsplenum einen Monat später ohne viel Federlesen absegnete.[1]
Anders als das bisherige SIS wird das SIS II nicht mehr durch die Mitgliedstaaten, sondern aus dem EU-Haushalt finanziert. Für den Betrieb der zentralen Einheit (C.SIS) ist vorerst die Kommission zuständig. Zu einem späteren Zeitpunkt soll eine „Agentur“ sowohl die Verwaltung des C.SIS als auch des im Aufbau befindlichen Visa-Informationssystems und von Eurodac (Fingerabdrücke von Asylsuchenden) übernehmen. Mit dem jetzt vom EP angenommenen SIS II-Paket wird das System rechtlich sowohl in der ersten Säule der EU (Asyl, Einwanderung, Grenzen) als auch in der dritten (Polizei und Strafrecht) verankert. Die Verordnung „über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung“ des SIS II unterscheidet sich daher von dem gleichnamigen Ratsbeschluss nur in den Datenkategorien: Die Verordnung regelt die Ausschreibung von Nicht-EU-BürgerInnen zur Verweigerung von Einreise und Aufenthalt (bisher Art. 96 Schengener Durchführungsübereinkommen, SDÜ), der Beschluss bezieht sich auf die eigentlich polizeilichen Daten (Ausschreibungen zur Festnahme, Aufenthaltsermittlung, Beobachtung, Sachfahndung – bisher Art. 95, 97-100 SDÜ). Hinzu kommt eine weitere Verordnung (nach Titel V EG-Vertrag – Transport und Verkehr), die den Zugriff der Kfz-Zulassungsstellen auf Daten über gestohlene Fahrzeuge ermöglicht. Für den Beschluss musste der Rat das Parlament nur konsultieren, für die beiden Verordnungen galt hingegen das Mitentscheidungsverfahren. Das EP war damit grundsätzlich in einer komfortablen Verhandlungsposition, die es allerdings nicht genutzt hat.
Erreicht hat es u.a. eine allerdings sehr verwässerte Informationspflicht der Behörden gegenüber Personen, die zur Einreise- bzw. Aufenthaltsverweigerung ausgeschrieben werden. Diese Pflicht gilt jedoch nicht, wenn die Daten hinter dem Rücken der Betroffenen erhoben wurden (d.h. in erster Linie, wenn Sicherheits- und nicht nur ausländerrechtliche Gründe für die Einreiseverweigerung ausschlaggebend sind) oder wenn die Information mit einem zu großen Aufwand verbunden wäre. Ferner wird die Kommission zu einer Aufklärungskampagne u.a. über die Rechte zur Auskunft über die gespeicherten Daten verpflichtet. Faktisch ist das Auskunftsrecht aber gerade bei den eigentlich polizeilich-strafrechtlichen Daten (Ausschreibungen zur Festnahme oder zur Beobachtung) nicht gegeben.
Akzeptiert hat das EP dagegen die Verlängerung der Ausschreibungsfristen, was automatisch zu einer Zunahme der im SIS gespeicherten Daten führen wird, die Verknüpfung von Datensätzen und den Einstieg in die biometrische Grenzkontrolle. Dass in den Personendatensätzen des SIS II auch biometrische Daten enthalten sein würden, war von Anfang an klar. Nach dem einschlägigen Artikel der Verordnung und des Beschlusses[2] soll die Speicherung von Fotos und Fingerabdrücken nur nach einer „speziellen Qualitätsprüfung“ erlaubt sein. Das Verfahren muss allerdings noch festgelegt werden. Darauf wird das EP keinen Einfluss haben.
Umstritten war lange Zeit, wie diese Daten genutzt werden dürften. Der Kompromiss zwischen Rat und Parlament ist an diesem Punkt von kaum zu überbietender Komik. Unter Buchstabe b des Artikels heißt es hier zunächst: „Lichtbilder und Fingerabdrücke dürfen nur herangezogen werden, um die Identität einer Person zu bestätigen, die durch eine alphanumerische Abfrage im SIS II gefunden wurde.“ Anders ausgedrückt: Die kontrollierenden BeamtInnen fragen das SIS II nach wie vor nach dem Namen einer Person ab und können nur im Trefferfalle zusätzlich die Fingerabdrücke oder das Foto heranziehen. Das war die Forderung der Datenschutzbeauftragten. Unter Buchstabe c heißt es dann aber sogleich: „Sobald technisch möglich können Fingerabdrücke auch herangezogen werden, um Personen auf der Grundlage ihres biometrischen Identifikators zu identifizieren.“ Wer in Zukunft an einer polizeilichen Kontrollstelle an der Grenze oder im Inland angehalten wird, muss sich nicht wundern, dass man nicht seine oder ihre Papiere, sondern ihre Finger sehen will. Das Parlament hat erreicht, dass diese Funktionalität erst genutzt wird, wenn sie technisch möglich ist. Was für ein Erfolg!
Auf den in Art. 17 der Verordnung und Art. 37 des Beschlusses ursprünglich vorgesehenen Zugang der Geheimdienste zu den Daten des SIS II hat der Rat vorerst verzichtet. Die finnische Präsidentschaft hat aber bereits klargestellt, dass die Frage weiter zu prüfen und ein zusätzlicher Ratsbeschluss ins Auge zu fassen sei.[3] Zu diesem Beschluss wird das EP dann allerdings nur mehr konsultiert.
(Heiner Busch)