Sachsen extrem: Funkzellenabfrage und mehr

„Das ist sächsische Demokratie.“ Mit diesen Worten kommentierte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) den massiven Polizeieinsatz gegen Demonstrierende, die sich am 19. Februar 2011 in Dresden dem alljährlichen Aufmarsch von Neonazis in den Weg gestellt hatten. Im Juni 2011 wurde bekannt, dass sowohl während der Demonstrationen 2010 als auch 2011 mittels Funkzellenabfragen Mobilfunkdaten in bisher ungeahntem Ausmaß unter anderem im Rahmen von „Strukturermittlungen“ gegen eine kriminelle Vereinigung von den sächsischen Innenbehörden erfasst worden waren.

Dabei wurden nicht nur Verkehrsdaten erhoben – also Daten über Datum, Uhrzeit und Kennung der Kommunikation, Standortdaten etc. –, sondern auch Bestandsdaten wie Namen, Adressen und Geburtsdaten von rund 40.000 Menschen. Die Datenabfrage umfasste zum Teil einen Zeitraum von knapp 48 Stunden am Stück und ermöglichte so auch, Bewegungsprofile Einzelner zu erstellen. Im weiteren Verlauf wurde deutlich, dass mehr als eine Million Datensätze von knapp 300.000 Personen gesammelt worden sind. Laut dem vom Dresdener Landtag mit der Untersuchung beauftragten Sächsischen Datenschutzbeauftragten Andreas Schurig wurde dabei „mehrfach gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen“.[1]

Gleichwohl setzt das Landeskriminalamt Sachsen die Individualisierung der Funkzellenabfrage vom 13., 18. und 19. Februar 2011 unbeirrt fort. Das geht aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der sächsischen Grünen hervor. Aus den 923.167 Verkehrsdatensätzen sind mittlerweile 54.782 Bestandsdaten ermittelt worden. Das sind 12.000 mehr als im Sommer bekannt geworden sind.[2]

Am Abend des 19. Februar 2011 selbst stürmten PolizistInnen das zuvor mittels IMSI-Catcher, mit dem sich Mobilfunkgespräche abhören lassen, überwachte „Haus der Bewegung“. Ein Dutzend Personen wurde festgenommen. Offiziell geschah dies im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens nach § 129 StGB (kriminelle Vereinigung), das sich gegen eine „Antifa-Sportgruppe“ richtet, wie sie polizeiintern genannt wird. Inzwischen wurde die Rechtswidrigkeit der martialischen Razzia in den Räumen der Partei DIE LINKE und einer Anwaltskanzlei festgestellt.[3]

Am 10. August 2011 durchsuchten sächsische ErmittlerInnen die Diensträume und Wohnung des Jenaer Jugendpfarrers Lothar König, ohne dies vorher mit den Behörden des Nachbarlandes Thüringen abgesprochen zu haben. Laut Staatsanwaltschaft soll König bei den Blockaden des Dresdener Neonaziaufmarsches im Februar aus einem Lautsprecherwagen zu Gewalt gegen die Polizei aufgerufen haben. Zum Zeitpunkt der Hausdurchsuchung noch als Beschuldigter im oben genannten § 129-Verfahren geführt, wurde dieser Vorwurf inzwischen fallengelassen, Anfang Dezember aber Anklage wegen schweren Landfriedensbruch erhoben.[4]

Mit ähnlicher Begründung kam es auch in Berlin und Stuttgart zu Hausdurchsuchungen.[5] Inzwischen wird im ganzen Bundesgebiet gegen Demonstrierende vom 19. Februar wegen schweren Landfriedensbruchs ermittelt. Strafbefehle erlassen bzw. Anklage erhoben wurde auch gegen viele BlockiererInnen vom 19. Februar 2011. Dabei wurde das damals in Kraft gewesene Sächsische Versammlungsgesetz im April 2011 wegen formeller Fehler vom Sächsischen Verfassungsgerichtshof für nichtig erklärt.[6] Die ersten Strafverfahren wurden mittlerweile ausgesetzt.

Funkzellenabfrage für das gesamte Demonstrationsgebiet, Einsatz von Drohnen und Pepperballgewehren, Wasserwerfereinsatz bei Minusgraden, Ermittlung nach § 129 – in Dresden ist eine von Verhältnismäßigkeit und Bürgerrechten entgrenzte Repression zu beobachten, die Gefahr läuft, das grundgesetztlich geschützte Recht auf Versammlungsfreiheit zu unterhöhlen.

(Martin Beck)

[1]      taz v. 9.9.2011; Sächsischer Landtag, Drs. 5/6787 v. 9.9.2011
[2]     Sächsischer Landtag, Drs. 5/7298 v. 23.11.2011
[3]     Freie Presse v. 7.10.2011
[4]     DNN-online v. 8.12.2011
[5]     ak – analyse und kritik, Nr. 566 v. 18.11.2011
[6]     Sächsischer Verfassungsgerichtshof: Urteil v. 19.4.2011, Az.: Vf. 74-II-10