von Mark Holzberger und Albrecht Maurer
Die Abschaffung der Geheimdienste oder mindestens die Verteidigung des Gebots der Trennung von Diensten und Polizei gehören zum ständigen politischen Repertoire der deutschen Linken und Bürgerrechtsorganisationen. Vor dem Hintergrund der Politik der „vernetzten Sicherheit“ in der BRD wie im Rahmen der EU drohen diese Forderungen zu bloßen Bekenntnissen zu verkommen.
„Der Verfassungsschutz hat durch seine vierzigjährige Tätigkeit nichts zum Schutz der Verfassung beigetragen. Er hat vielmehr durch seine systembedingten, unvermeidbaren Übergriffe und Skandale und durch die Erzeugung von demokratischer und freiheitlicher Unsicherheit die Verfassung geschädigt.“ So heißt es in einer Broschüre mit dem Titel „Weg mit dem Verfassungsschutz“, die die Humanistische Union 1990 vorlegte.[1] Die Forderung, die Trennung von Polizei und Geheimdiensten aufrecht zu erhalten bzw. wiederherzustellen oder die Geheimdienste gleich ganz abzuschaffen, wird seit langem von allen deutschen Bürgerrechtsorganisationen vertreten. Sie speiste sich aus den Erfahrungen mit den Berufsverboten der 70er und 80er Jahre und aus den vielen Skandalen, für die die Geheimdienste verantwortlich waren.
Polizeiliches Handeln, besonders im Staatsschutzbereich, und das Interagieren von Polizei und Diensten wird im Diskurs von Bürgerrechtsgruppen und linken Organisationen oft als politisch zielgerichtetes, rechtlich umfassend abgesichertes und technisch perfekt durchorganisiertes Vorgehen wahrgenommen: Ein homogener, (quasi all-)mächtiger Staatsapparat im Kampf gegen einzelne Bürger bzw. den politischen Gegner.
Dass die Wirklichkeit vielschichtiger ist, als diese (zugegebenermaßen holzschnittartige) Schablone, wurde dieser Tage wieder einmal sichtbar im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU): Das Ausmaß, wie z.B. der bayerische Verfassungsschutz die Nürnberger Strafverfolgungsbehörden systematisch hat auflaufen lassen – das erinnerte nicht nur an ein örtliches „Dilletantenstadl“ mit allerdings lebensgefährlichen Folgen, sondern widerspricht auch landläufigen Annahmen innerhalb der Bürgerrechtsszene über nahezu perfekt erfassende und kommunizierende Sicherheitsapparate.[2]
Ziel dieses Artikels ist es – thesenartig – darauf hinzuweisen, dass der bürgerrechtliche Diskurs der letzten Jahrzehnte über das Verhältnis von Polizei und Nachrichtendiensten auch durch eigene Defizite und Versäumnisse geprägt ist. Die CILIP-Hefte waren und sind zwar von Beginn an eine umfassende Quelle zur Dokumentation und kritischen Beobachtung einer immer enger werdenden Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten.[3] Und dennoch wirkt die dort geübte Kritik u.E. oftmals als durch die realen Zustände überholt – und etwas „angestaubt“.
Dies erscheint uns als eine Folge dessen, dass innerhalb der Bürgerrechtsbewegung eigene tradierte Positionen allzu selten auf ihre zeitgemäße Herleitung hin überprüft werden. Nicht nur bei den Sicherheitsorganen – auch in bürgerrechtlichen Debatten wird das Trennungsgebot bzw. die Forderung nach Abschaffung der Geheimdienste zu einer – wenngleich ehrenhaften – Worthülse. Möglicherweise ist das auch einer der Gründe für den relativ geringen Einfluss der Bürgerrechtsbewegung auf die durchaus besorgniserregenden Entwicklungen innerhalb und im Zusammenspiel der Polizeibehörden und Geheimdienste unseres Landes.
Die „guten alten Zeiten“
Dass Polizei und Verfassungsschutz in der BRD getrennt voneinander organisiert wurden, ist bekanntlich keine Errungenschaft der „Väter und Mütter des Grundgesetzes“ und der hinter ihnen stehenden deutschen Parteien. Ganz im Gegenteil: Das Trennungsgebot wurde von den Militärgouverneuren der drei westdeutschen Besatzungszonen verfügt. In ihrem „Polizeibrief“, einem Schreiben an den Parlamentarischen Rat vom 14. April 1949, legten sie fest, dass der künftige Nachrichtendienst der Bundesrepublik keine polizeilichen Kompetenzen haben dürfe.[4] Der Brief galt zumindest bis zum „Zwei-plus-vier-Vertrag“ von 1990, der das vereinigte Deutschland in die volle Souveränität entließ, als förmlicher Bestandteil bundesdeutschen Verfassungsrechts.
Im traditionellen Verständnis hat das Trennungsgebot mindestens drei Dimensionen: Es beinhaltet erstens eine organisatorische Trennung, wonach weder die Nachrichtendienste einer Polizeidienststelle angegliedert noch umgekehrt eine polizeiliche Organisation einem der Dienste angehängt werden darf. Es impliziert zweitens eine funktionelle Trennung: Demnach haben Polizei und Nachrichtendienste grundsätzlich unterschiedliche gesetzliche Aufgaben. Während Polizeibehörden der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung dienen, darf der Verfassungsschutz auch nach völlig legalen „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ forschen. Hinzu kommen drittens unterschiedliche Befugnisse: Geheimdienste sind demzufolge keine einen unmittelbaren Zwang ausübenden Vollstreckungsbehörden. Sie haben keine Befugnisse zur Durchsuchung, Beschlagnahme, Vernehmung oder gar Festnahme. Umgekehrt sollte den Polizeibehörden der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel untersagt sein.
Spiegelt man nun die Realität an diesen hehren Ansprüchen, dann wird klar, dass von diesen Bestandteilen kaum etwas übrig geblieben ist: Die organisatorische Trennung existiert zwar noch in dem Sinne, dass Polizei und Geheimdienste unterschiedliche Behörden sind. Tatsächlich geht ihre Zusammenarbeit längst weit über den anlassbezogenen Informationsaustausch hinaus, den schon die Unkeler Richtlinien von 1954 vorsahen und der schließlich 1990 im Bundesverfassungsschutzgesetz förmlich verankert wurde. Sie kooperieren heute „ad hoc“ innerhalb großer Ermittlungsverfahren (wie im Falle der sog. Sauerland-Gruppe) oder bei Großeinsätzen (wie G8- oder Nato-Gipfeln) in sogenannten Besonderen Aufbauorganisationen (BAO). Dass diese temporäre Zusammenarbeit sich länger hinziehen kann, ergibt sich schon aus der Dimension der betreffenden Verfahren oder Einsätze. Zur Fiktion wird die organisatorische Trennung angesichts gemeinsamer institutionalisierter Gremien wie z.B. dem Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ), dem Gemeinsamen Analyse und Strategiezentrum Illegale Migration (GASIM) oder dem jetzt neu geschaffenen Gemeinsamen Abwehrzentrum Rechts (GAR). Schließlich besteht der Zweck dieser Gremien gerade darin, beide Seiten auch organisatorisch zusammenzubringen.
Ähnlich sieht es bei der funktionellen Trennung aus: Während der polizeiliche Staatsschutz seit Jahrzehnten auch das eigentlich straflose Vorfeldverhalten potentieller Straftäter auskundschaftet, wurde dem Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst in den 90er Jahren ermöglicht, bei der Bekämpfung der „organisierten Kriminalität“ tätig zu werden, der eigentlich den Strafverfolgungsbehörden vorbehalten war.
Durcheinander geraten sind auch die Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten. Hier war es vor allem die Polizei, der die Gesetzgeber in Bund und Ländern seit den 80er Jahren einen ganzen Kranz von verdeckten – sprich: geheimen – Befugnissen im Vorfeld konkreter Gefahren und Verdachtsmomente zuschanzten, die sich von den „nachrichtendienstlichen Mitteln“ der Geheimdienste praktisch nicht unterscheiden.[5]
Das schiefe Bild einer „neuen GESTAPO“
1978 erschien im Hamburger Jürgen Reents-Verlag eine Dokumentation der „Antifaschistischen Kommission des Kommunistischen Bundes“, die dem „Russell-Tribunal zur Untersuchung von Repression und Verletzung von Menschenrechten in der BRD“ vorgelegt wurde, Titel: „Nach Schleyer: ‚Sonderkommandos‘ in der BRD – Zügiger Aufbau der neuen GeStaPo“. Nun war die Behauptung, innerhalb der Bundesrepublik würde die Gestapo bzw. das Reichssicherheitshauptamt wieder errichtet, niemals CILIP-Position. Gleichwohl finden sich ähnliche Warnungen nicht nur bei Linksradikalen. Professor Eggert Schwan (seinerzeit noch CDU-Mitglied, Mitglied der Humanistischen Union und des Beirates des Instituts für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit) schrieb beispielsweise 1986 u.a. im Spiegel: „Sollten die Sicherheitsgesetze, darunter der Entwurf eines Gesetzes über die Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten verabschiedet werden, dann sind wir wieder dort, wo wir 1933 gelandet sind, bei der Bildung der Gestapo.“[6]
Der damalige „Alarmismus“, das wird am Bezugspunkt 1933 in dem Zitat von Eggert Schwan deutlich, sollte nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse unter den Nazis und in der Bundesrepublik gleichsetzen, sondern vor Entwicklungen warnen, gegen die mit Trennungsgeboten und stark beschränkten zentralen staatlichen Institutionen nach 1945 und 1949 Barrieren aufgerichtet worden waren.
Ein solcher historischer Bezugspunkt war nützlich, weil er den Blick schärfte für die grundsätzlich unbegrenzten Kooperationen und Zentralisierungstendenzen in der Sicherheitspolitik. Er war auch zeitgemäß, weil das Niederreißen der Nachkriegsbarrieren, das heißt, das erneute Zusammenführen der Behörden und Befugnisse und die Zentralisierung der Sicherheitsbehörden Programmpunkt polizeilicher Experten wie dem BKA-Chef Horst Herold oder dem obersten Polizisten Baden-Württembergs Alfred Stümper waren. Die Warnungen vor einer neuen Geheimpolizei und den entsprechenden Gesetzen wurden durchaus verstanden.
Zumindest problematisch war dieser Bezugspunkt aber, weil die tatsächliche Entwicklung, auch aufgrund neuer technischer Möglichkeiten immer deutlicher in eine ganz andere Richtung lief: Vernetzung nicht Zentralisierung! Nicht unbedingt eine, sondern mehrere Spinnen in verschiedenen Netzen! Zum einen wuchs der Polizei ein geheimer Arm mit wuchernden Befugnissen, Institutionen und Gremien zu. Gleichzeitig erhielten auch die Dienste in unterschiedlichem Ausmaß exekutive Arme und neue Zuständigkeiten. Im Ergebnis bestehen heute in der Bundesrepublik neben 38 Kriminalämtern und Geheimdiensten des Bundes und der Länder[7] eine selbst für ExpertInnen kaum noch überschaubare Zahl hybrider Gremien und Institutionen, in denen Polizei und Gemeindienste mehr oder weniger dauerhaft zusammenarbeiten.[8]
Es fehlt eine gesetzgeberische Praxis
„Wir wollen die Geheimdienste abschaffen“, so heißt es auf Seite 49 des im Herbst 2001 verabschiedeten Bundesprogramms der Partei Die Linke. Die Grünen hatten dies ebenfalls bis in die frühen 90er Jahre vertreten.[9] Heute fordern dies im grünen Lager nur noch Einzelstimmen (z.B. die grüne Jugend in Niedersachsen). Inzwischen differenzieren Die Grünen stärker: Auf Bundesebene wird nur noch die Auflösung des MAD vorgeschlagen. Und im Hinblick auf den Inlandsgeheimdienst wird eine zahlenmäßige Reduzierung (Auflösung/Zusammenlegung) der 16 Landesämter für Verfassungsschutz gefordert.[10]
Die Abschaffungsforderung hatte bislang kaum praktische Bedeutung für die parlamentarische Arbeit der beiden Parteien. Aktuell hat die Linksfraktion im Thüringer Landtag – bezugnehmend auf die bekannt gewordene „systemische Blindheit“ des Amtes in Sachen NSU – einen Gesetzentwurf für die Auflösung des Landesamtes für Verfassungsschutz vorgelegt. Zur Erfüllung der bundesgesetzlich vorgeschriebenen Zusammenarbeit mit den anderen Bundesländern solle eine Informations- und Dokumentationsstelle ohne nachrichtendienstliche Befugnisse eingerichtet werden.[11] Auch in der breiteren Öffentlichkeit haben Forderungen nach Abschaffung des Verfassungsschutzes derzeit wieder Konjunktur. Sie zielen aber weniger auf das Prinzip des Geheimen, als vielmehr auf die „Erfolglosigkeit“ der Arbeit des Verfassungsschutzes.
Eine zweite Schwäche des bürgerrechtlichen Diskurses war und ist es, dass er folgenlos blieb. Nur ein einziges Mal wurde der Versuch unternommen, die Arbeit des Verfassungsschutzes rechtlich grundlegend zu „bändigen“: Die rot-grüne Landesregierung Niedersachsens produzierte 1992 immerhin – so Rolf Gössner – das „liberalste” Verfassungsschutzgesetz Deutschlands.[12]
Zum einen wurde die Schwelle für das Tätigwerden des Landesamtes erhöht: Bis dahin reichten hierfür „Bestrebungen“ gleich welcher Art gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“. Nun mussten solche Bestrebungen entweder durch Gewalt oder in „aktiv kämpferischer, aggressiver Weise“ erfolgen. Zum anderen listete Rot-Grün – zum ersten Mal in der deutschen Geheimdienst-Geschichte – die zulässigen nachrichtendienstlichen Mittel abschließend auf. Allen darüber hinausgehenden geheimen Aktionen des Verfassungsschutzes war damit ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben worden. Ein zweites „Celler Loch“ sollte es nicht mehr geben.
Seit nunmehr 20 Jahren gibt es aus den Reihen der Bürgerrechtsbewegung bzw. der Grünen und Linken keinen einzigen Entwurf zur Abschaffung oder radikalen Reform der Geheimdienstgesetze bzw. zur legislativen Ausgestaltung/Einschränkung des Zusammenwirkens von Polizei und Nachrichtendiensten. Gesetzentwürfe zur Verbesserung allein der parlamentarischen Kontrollrechte haben trotz geringer Fortschritte in Details allenfalls eine den Status Quo rechtfertigende Funktion.
Dabei hätte nicht zuletzt die Arbeit des GTAZ Anlass für einen solchen grundlegenden Reformansatz geboten – z.B. um das Problem zu lösen, dass die Nachrichtendienste (die lediglich dem Opportunitätsprinzip verpflichtetet sind) im Rahmen einer solchen auf Dauer angelegten operativen Zusammenarbeit die (wiederum an das Legalitätsprinzip gebundenen) Strafverfolgungsbehörden manipulieren können. Heute entscheiden die Geheimdienstmitarbeiter im GTAZ selbst, ob bzw. wann sie Informationen an ihre Polizeikollegen weitergeben oder eben nicht. Hier wären grundlegende Reformen wie 1992 (z.B. im Hinblick auf die Übermittlungspflichten des Verfassungsschutzes § 20 BVerfSchG) mehr als überfällig.[13]
Das Problem mit EUROPOL
Auch die bürgerrechtliche Kritik an der Herausbildung einer europäischen Politik der Inneren Sicherheit basiert neben vielen richtigen und wichtigen Problembeschreibungen[14] – auf drei (zumindest rückblickend gesehen) unzutreffenden Annahmen:
Zum einen wurde prognostiziert, dass es innerhalb der EU zu einer unheilvollen Zentralisierung polizeilicher Strukturen kommen würde. Europol erschien hier lange Jahre als die Schlange, vor der das bürgerrechtliche Kaninchen wie im Schock erstarrt. Tatsächlich hatte aber weder die Gründung noch der spätere Ausbau des Haager Amtes den erwarteten Effekt. Europol spielt zwar – gar kein Zweifel – eine wichtige Rolle bei der polizeilichen Zusammenarbeit in der EU. Dies führte aber keineswegs zu einer Entmachtung der Polizeibehörden der Mitgliedsländer, im Gegenteil: Entwicklungen, wie sie im Schengener Informationssystem bereits angelegt waren (und die später mit dem Prüm-Abkommen weiter fortgeführt wurden und durch die das Prinzip der allgemeinen Verfügbarkeit aller polizeilichen Datenbestände auf die Spitze getrieben wurde), haben nicht eine Zentralisierung der Polizeiarbeit bzw. des polizeilichen Wissens bei Europol bewirkt. Vielmehr diente dies der engeren und unmittelbareren Kooperation der Polizeiorgane untereinander.
In diesem Kontext wurde auch die Rolle der Bundesrepublik überschätzt. Man ging – verstärkt Anfang der 90er Jahre – von einem allgemeinen deutschen Großmachtstreben innerhalb der EU aus. Das Bundesinnenministerium (respektive die deutsche Polizei und insbesondere das BKA) galten nicht nur als Initiatoren, sondern auch als „Hauptnutznießer“ dieses (Zentralisierungs-)Prozesses.[15]
Befürchtet wurde auch, dass es – über Europol – zu einem Unterlaufen bzw. Aufweichen des deutschen Trennungsgebotes kommen würde. Denn, in den EU-Mitgliedstaaten gibt es eben kaum reine Polizeibehörden. Einige EU-Staaten verfügen über regelrechte polizeiliche Nachrichtendienste (wie die Renseignements Généraux in Frankreich). In Großbritannien ist der Security Service, der frühere MI 5, zwar von der Polizei getrennt, verfügt aber seit den 90er Jahren über „powers to bug and burgle“. Ein Trennungsgebot – wie in Deutschland – ist den meisten EU-Staaten fremd. Tatsächlich unternimmt aber das BKA seit Jahren bei Europol einige Verrenkungen, um das deutsche Trennungsgebot zumindest in fein ziselierten Verabredungen pro forma aufrecht zu erhalten – ohne dass diese eigentlich ja paradoxe Rolle der deutschen Vertreter seitens der bürgerrechtlichen Kritik wahrgenommen oder bewertet wird.
Im Ergebnis zeigt sich auch hier: Es ist ein Fehler, wenn man das deutsche Trennungsgebot (also eine Reaktion auf die Verbrechen der deutschen GESTAPO) ohne weiteres auf die EU zu übertragen versucht. Eine umfassende Analyse der Verhältnisse in den anderen Mitgliedstaaten müsste das berücksichtigen und dafür bürgerrechtliche Alternativen ausarbeiten. Wie müsste also die Antwort auf die im Grunde unausweichliche Frage ausfallen, wie denn bei Europol eine bürgerrechtsfreundliche Zusammenarbeit aussehen könnte, angesichts der grundlegenden Strukturunterschiede europäischer Polizeibehörden?
Wie im Inland, zeigt sich auch im europäischen Kontext, dass ein rückwärtsgewandtes – also argumentativ auf die deutsche Geschichte rekurrierendes und darauf beschränktes – Postulat des Trennungsgebotes wenig taugt. Auch auf europäischer Ebene muss der Kern des Trennungsgebots von Polizeien und Nachrichtendiensten re-formuliert werden, um überzeugende Antworten auf die Entwicklung des europäischen Überwachungsstaats entwickeln zu können.
Auch hier liegen von CILIP sehr gute Situationsbeschreibungen und ‑analysen, aber noch keine allgemeinere Orientierung oder eine konkretere Auseinandersetzung um Trennungsgebot und Rolle der Geheimdienste als aktuelle Forderungen europäischer Bürgerrechtspolitik vor.[16]
Für einen neuen Bürgerrechtsdiskurs
Die Crux am diesbezüglichen bürgerrechtlichen Diskurs ist, dass es ihn nicht gibt … Dabei gilt hier wie auch sonst: Offene Auseinandersetzungen machen nicht schwach. Vielmehr ermöglicht nur eine freie Debatte die Überprüfung und – wo nötig – die Verbesserung und Aktualisierung der eigenen Argumente. Um nicht missverstanden zu werden, wenn wir einen offenen Diskurs einfordern, dann nicht, um ein bestimmtes vorgefertigtes Ergebnis durchdrücken zu wollen – oder etwa gar den Verfassungsschutz und seine Zusammenarbeit mit der Polizei hochzujubeln:
- Wir erinnern uns noch sehr gut daran, wie der Verfassungsschutz Mitte der 70er Jahre den ehemaligen Atommanager Klaus Traube wegen des Verdachts der Unterstützung von RAF-Mitgliedern monatelang abhörte.[17]
- Wir wissen, dass die Abhöraktion in Stuttgart-Stammheim 1977 heute – 35 Jahre später (!) – immer noch nicht aufgeklärt ist.
- Wir haben noch lebhaft in Erinnerung wie der Verfassungsschutz im Schmücker-Verfahren 15 Jahre lang nicht nur diverse Gerichte, sondern auch die Verteidigung und die Angeklagten manipulierte.
- Wir waren an dem Versuch beteiligt, parlamentarisch den sog. Plutonium-Skandal aufzuklären, als der BND dabei ertappt wurde, wie er agent provocateur spielen wollte.
- Wir haben im Bundestagsuntersuchungsausschuss u.a. zur Aufklärung der polizeilich/geheimdienstlich gedeckten Entführung von Murat Kurnaz und Mohamed Haydar Zammar lernen müssen, was passiert, wenn man Polizei und Geheimdiensten in der Terrorismusbekämpfung quasi freie Hand lässt.
- Und wir haben uns nunmehr schon zwei Jahrzehnte mit der polizeilich-nachrichtendienstlichen Heimlichtuerei herumgeschlagen, beginnend mit den Vorgängen um Bad Kleinen und mit dem vorläufigen und unrühmlichen Höhepunkt: den Umständen des Abtauchens und der vergeigten Aufdeckung der Mordserie des NSU.
Das ist der Resonanzboden, auf dem wir auf „blinde Flecken“ – also auf Lücken in der bürgerrechtlichen Argumentation – hinweisen wollen. Die Ehrlichkeit gebietet es, darauf hinzuweisen, dass wir mit einer Abschaffungsforderung bzw. dem althergebrachten Rückgriff auf den Polizeibrief von 1949 keine Antworten und keinen Anklang finden werden, wenn öffentlich nach Antworten auf die o.g. Geheimdienst-Skandale und darunter gerade dem letzten im Zusammenhang mit dem NSU gesucht wird.
In diesem Sinne erscheint uns eine Grundsatzdebatte notwendig, bei der zum einen die Forderung nach Abschaffung aller Geheimdienste auf den Prüfstand kommt: Welche Folgen hätte – so müssten wir fragen und Antworten finden – die unterschiedslose und vollständige Abschaffung aller deutschen Geheimdienste? In Zeiten, in denen terroristische Strukturen nicht nur in der Lage, sondern zum Teil auch willens sind, wo immer auf der Welt (Massen-)Verbrechen zu verüben, muss die Frage erlaubt sein, ob zur Verhinderung solcher Straftaten bzw. zur Aufdeckung der entsprechenden kriminellen Infrastruktur geheime Ermittlungsmethoden erlaubt – und vielleicht sogar geboten sind. Braucht der Staat in solchen Fällen Geheimdienste? Gibt es Geheimdienstbereiche, deren Arbeit eben doch nicht durch noch so gute Forschungsarbeiten an Universitäten oder Stiftungen erledigt werden kann (was aus Bürgerrechts-Sicht immer wieder gerne als allumfassender Geheimdienst-Ersatz angeboten wird)? Könnte es sein, dass sich die Bürgerrechtsbewegung ein Stück weit schweigend darauf ausruht, dass Polizei und Nachrichtendienste (wie z.B. bei der „Sauerland-Gruppe“ oder den „Zugkofferbombern“) für sich in Anspruch nehmen, die Gesellschaft vor schwerwiegenden Attentaten bewahrt zu haben? Wo sind auf der anderen Seite jene Geheimdienstbereiche, die sich als inkompetent, als überflüssig und sogar gefährlich erwiesen haben?
Gefragt werden müsste auch, was die Folge wäre, wenn man zwar die Geheimdienste abschaffen würde, den Polizeibehörden und insbesondere den Staatsschutzabteilungen ihre verdeckten Ermittlungsmethoden ließe. Wären wir dann im Ergebnis nicht eventuell sehr viel näher an Phänomen einer „Geheimen Staatspolizei“, als mit einem Nebeneinander von Polizei und einem (gegebenenfalls mit ihr konkurrierenden) Nachrichtendienst. Wir meinen, dass – wer immer die Abschaffung der Geheimdienste fordert – auch eine Verständigung über die Notwendigkeit bzw. die Grenzen verdeckter Polizeipraktiken herbeiführen sollte: Ist es wirklich möglich bzw. verantwortbar, auf das gesamte verdeckte Ermittlungsinstrumentarium der Polizei zu verzichten? Wie realistisch ist die Idee des „offenen polizeilichen Visiers“ im digitalen Zeitalter?
Das bringt uns zum Trennungsgebot, das übrigens immer die Existenz eines Geheimdienstes voraussetzt! Wir meinen, dass wir – last but not least – eine neue, zeitgemäße Herleitung und Begründung benötigen, warum und in welcher Weise wir im digitalen Zeitalter die Trennung der organisatorischen Strukturen, aber auch der operativen und informationellen Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten (immer noch) für nötig und für sinnvoll halten.
Die eingangs aufgelisteten drei Dimensionen des Trennungsgebotes (Unterschiede in Organisation, Funktion und Befugnissen) sind auch heute noch wichtige Referenzpunkte einer bürgerrechtlichen Kritik. Da aber von diesen Grundprinzipien in der Realität substanziell nicht viel mehr übrig geblieben ist als der hehre Anspruch, müssen wir dieses klassische Begründungsinstrumentarium um neue Aspekte ergänzen.
Vielleicht kann hier ein Rückgriff auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts helfen. Karlsruhe nämlich leitet das „Verbot, bestimmte Behörden miteinander zu verschmelzen“ vornehmlich vom Rechtsstaatsprinzip und dem Schutz der Grundrechte ab.[18] Dies trifft sich mit dem bürgerrechtlichen Anliegen, mit dem Trennungsgebot zum einen staatlichen Allmachtsbestrebungen möglichst enge Grenzen zu setzen und zum anderen für eine Offenheit in der Beziehung staatlicher Exekutivgewalt zu Bürgerinnen und Bürgern zu sorgen. Eine solche an der Rechtsstaatlichkeit und den Grundrechten orientierte Herleitung könnte das Trennungsgebot dann z.B. auch in Verbindung bringen mit der Debatte um die Unzulässigkeit sog. kumulativer bzw. additiver Grundrechtseingriffe, die das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren u.a. im Hinblick auf die Folgen eines Zusammenwirkens von Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendiensten entwickelt hat.[19] Denn darum geht es beim Trennungsgebot ja im Kern: Die Einzelnen zu schützen z.B. angesichts der Überwachungsmöglichkeiten der Polizei- und Nachrichtendienstbehörden im Zeitalter unbegrenzter elektronischer Kommunikations-, Speicherungs- und Auswertungskapazitäten.
Ein auf die „Lehren des Faschismus“ verweisende Begründung des Trennungsgebotes greift zu kurz. Wenn wir demgegenüber vorschlagen, die Argumente für ein solches Trennungsgebot um rechtstaatliche und grundrechtliche Aspekte zu erweitern, dann tun wir dies auch, um diese scheinbar verstaubte Idee in aktuellen Sicherheitsdebatten effektiver einsetzen zu können.[20]
Ein solches Schärfen der eigenen Argumente macht Sinn – gerade in Zeiten, in denen (wie im Fall des NSU) der Totalausfall des Verfassungsschutzes nicht etwa zur Abschaffung oder zumindest zur grundlegenden Reform der Geheimdienste genutzt werden soll, sondern – ganz im Gegenteil – dazu, aus dem Trennungsgebot ein Gebot der (noch intensiveren) Zusammenarbeit zu basteln.
Mark Holzberger ist Referent für Migrations- und Integrationspolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied der Redaktion von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
Albrecht Maurer ist innenpolitischer Referent der Bundestagsfraktion Die Linke und Mitglied der Redaktion von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Humanistische Union: Weg mit dem Verfassungsschutz, München 1991
[2] Das Landesamt verweigerte der zuständigen polizeilichen BAO mehr als ein halbes Jahr lang systematisch brauchbare Informationen über Nazis im Nürnberger Raum und lenkte damit selbst unmittelbar die polizeilichen Ermittlungen in die falsche Richtung.
[3] vgl. u.a. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 57 (2/1997): Reform der Politik Innerer Sicherheit, insbesondere die Artikel von O. Diederichs: Reformen der Sicherheitsbehörden, W.-D. Narr: Thesen zur Inneren Sicherheit und N. Pütter: Umdenken in der Gesetzgebung, sowie Bürgerrechte & Polizei/CILIP 90 (2/2008) Sicherheitsarchitektur I – Das Netz im Innern.
[4] Der Polizeibrief bildete gleichzeitig eine Reaktion auf den Vorstoß der Ministerpräsidenten der amerikanischen Besatzungszone, die im Frühjahr 1948 von der US-Militärregierung die Bildung einer geheimen politischen Polizei gefordert hatten. Dies belegen historische Dokumente, die Bürgerrechte & Polizei/CILIP in Heft 27 (2/1987) dokumentierte.
[5] vgl. zu beiden Punkten u.a. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 39 (2/1991): Organisierte Kriminalität, insbesondere die Beiträge von H. Busch zur OK-Definition, O. Diederichs zu Verfassungsschutz und OK sowie E. Weßlau zum Entwurf des „Gesetzes zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels und anderer Formen der organisierten Kriminalität“ (OrgKG), das im darauf folgenden Jahr verabschiedet wurde.
[6] Der Spiegel 25/1986
[7] die polizeiliche Seite: 16 Landeskriminalämter, das BKA, die Bundespolizei sowie das Zollkriminalamt; die Geheimdienste: 16 Landesämter und das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst
[8] vgl. Wörlein, J.: Institutionalisierte Kooperation von Polizei und Geheimdiensten, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 90 (2/2008), S. 50-61
[9] BT-Drs. 12/4402 und 12/4403, beide v. 17.2.1993, übrigens unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Forderungen der Bürgerrechtsbewegung der DDR, ein Argument, das heute vollkommen verschwunden ist.
[10] „Sicherheit im Dienst der Freiheit“ (Beschluss der grünen Bundestagsfraktion v. 2. September 2011)
[11] Landtagsdrucksache 5/4161 vom 13.3.2012
[12] Vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 99-107
[13] Die Grünen hatten 2006 lediglich (oder immerhin) eine knappe Skizze dafür vorgelegt, wie sie sich die Schaffung sog. Anti-Terror-Dateien unter Beibehaltung der Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten vorstellen könnten (BT-Drs. 16/2071 v. 29.6.2006).
[14] aus der CILIP-Geschichte: Busch, H.: Europäische Innere Sicherheit, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 57 (2/1997), S. 58-67
[15] vgl. zum Beispiel: Gössner, R.; Bethune, N.: Europas Sicherheitsbehörden machen mobil, in: „EUROPOL: Die Bullen greifen nach den Sternen – Europäische Gemeinschaft der Inneren Sicherheit, Hamburg und Berlin 1990
[16] Bürgerrechte & Polizei/CILIP 91 (3/2008): Sicherheitsarchitektur II – Europäische Großbaustelle
[17] vgl. dazu die erste Auflistung der Verfassungsschutzskandale in Bürgerrechte & Polizei/CILIP 28 (3/1987), S. 12-30; eine neue Liste stellte Otto Diederichs 2009 zusammen: Geheimdienstliche Sumpfblüten. Versuch einer Chronologie, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 93 (2/2009), S. 21-29
[18] BVerfGE Bd. 97, Rz. 88 und 90
[19] BVerfGE 115, 320/354 ff. bzw. BVerfG in: NJW 2005, S. 1338/1341
[20] vgl. auch die Ausführungen des Sachverständigen RA Sönke Hilbrans (Berlin) in der Anhörung zum Anti-Terrordatei-Gesetz (Protokoll 16/24 des BT-Innenausschusses v. 6.11.2006)
Bibliographische Angaben: Holzberger, Mark & Albrecht Mauer: Blick zurück nach vorn! Für eine Neubelebung der Debatte um die Geheimdienste, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 100 (3/2011), S. 76-87