Blockupy 2013. www.montecruzfoto.org

Eine kleine Demogeschichte – Protest und Polizei in den letzten vierzig Jahren

Interview mit vier Aktivisten aus drei Generationen

Die Geschichte der BRD ist auch eine Geschichte des Protests. So wie sich seine Formen geändert haben, hat sich auch die Herangehensweise der Polizei an das Protestgeschehen gewandelt. Zusammen mit Christoph Ellinghaus, Susanne Falke, Karen Ullmann und Wolf Wetzel gehen wir auf Spurensuche. Die Fragen stellten Martin Beck, Heiner Busch und Matthias Monroy.

Bevor wir tiefer in das Thema einsteigen, wie hat Eure eigene Demonstrationsgeschichte begonnen?

Wolf Wetzel: Meine Erfahrungen beziehen sich auf militante Zusammenhänge, angefangen mit den Demonstrationen zu Zeiten des Häuserkampfes in Frankfurt am Main Anfang der 70er Jahre. Die Polizei operierte damals in großen Einheiten. Immer wieder kam es zu Verletzten und Schwerverletzten. Auch wenn wir öfter verprügelt wurden, so war dennoch die Ohnmacht, die Aussichtslosigkeit nicht dominierend. Das lag zum einen an der politischen Stimmung, zum anderen an ganz materiellen Bedingungen: Wir trugen – wenn gewollt – Helme und andere Schutzkleidung wie z.B. Armschützer, was erst später als „Passivbewaffnung“ verboten wurde.

Zum anderen lag es an dem Selbstverständnis, dass man sich eine Demonstration weder erlauben noch verbieten lässt. Immer wieder gelang es, Polizeiangriffe zurückzuschlagen oder selbst anzugreifen, wenn Polizei im Weg stand. Schon damals agierte die Polizeiführung auf diese gelegentliche Unterlegenheit mit organisierten Gewaltorgien, die alles andere als „unglückliche Einzelfälle“ waren. Es wurden zivile Greiftrupps gebildet, um Vereinzelte und Versprengte zusammenzuschlagen. Sie wollten weder Festnahmen machen, noch „Straftaten aufklären“, sondern einzig und allein Angst verbreiten.

Christoph Ellinghaus: Politisiert habe ich mich ab Ende der 80er Jahre. Schon damals war der Umgang der Polizei mit uns differenziert. Während sich bei Demonstrationen der Friedensbewegung die Polizei auf die Regelung des Verkehrs beschränkte, sah das Bild bei der Demonstration zur Freilassung von Ingrid Strobl 1988 in Essen oder für die Zusammenlegung der Gefangenen aus der RAF 1989 in Bonn ganz anders aus: einschließende Begleitung in einem dreireihigen Wanderkessel.

Bei Aktionen gegen Neonazis hing wie heute viel von der lokalen Polizeiführung ab. Mal schützte die Polizei die Neonazis, anderswo traten die Polizisten auch schon mal einen Schritt beiseite, damit ausreichend Platz war, um treffsicher mit Mehl und Eiern werfen zu können. Und in Dortmund kamen damals erstmals „Laber-Bullen“ auf uns zu, die durch eine Argumentations- und Rhetorikschulung gegangen waren.

Karen Ullmann: Da meine Eltern friedensbewegt waren, bin ich quasi mit Demonstrationen aufgewachsen. War damals meine größte Angst, meine Eltern im Gedrängel zu verlieren, habe ich Polizeigewalt zum ersten Mal im Mai 1994 in Hamburg erlebt, als Polizisten dem Journalisten Oliver Ness absichtlich den Fuß verdrehten. Ein Jahr später musste ich im Wendland mit ansehen, wie Leute von einem Trecker regelrecht heruntergeworfen wurden. Beim zweiten Castortransport im Mai 1996 bin ich dann zum ersten Mal selbst mit einem Wasserwerfer in Berührung gekommen. Es folgten weitere direkte Begegnungen mit Wasserwerfern und Knüppeln und mehrere Ingewahrsamnahmen bei Castortransporten und Anti-Nazi-Demos – alle rechtswidrig.

Susanne Falke: Meine ersten Demoerfahrungen habe ich ähnlich wie Karen in den 80er Jahren auf dem Kindertrecker der örtlichen Friedensinitiative gemacht. Zehn Jahre später habe ich dann als Teenie den ersten Angriff auf eine Demonstration erlebt. Ich glaube, es ging um eine PKK-Fahne. Ich war so schockiert, dass ich, statt vor der Polizei wegzulaufen, was mein einziger Gedanke in dem Moment war, in die falsche Richtung geflüchtet bin und stundenlang suchen musste, bis ich meine Bezugsgruppe wieder gefunden habe. Ich bin dann im Zuge von weiteren Demos und Aktionen viel besonnener und auch ein bisschen mutiger geworden. Allerdings wurden Situation, in denen man es durch Entschlossenheit mit der Staatsmacht aufnehmen konnte, immer weniger.

Wie haben sich die Formen der Demonstration und das polizeiliche Vorgehen seither verändert? Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass Bundesgrenzschutz (BGS) und Bereitschaftspolizeien in den frühen 70er Jahren hinsichtlich Bewaffnung und Einsatzkonzepten eine eigentliche Entmilitarisierung erlebten, die den BGS überhaupt erst bei Demos einsetzbar machte.

Wolf Wetzel: An den Zielen, wirksamen Protest zu verhindern, hat sich nichts verändert. Ich möchte nur an zwei Ereignisse erinnern. Als Neonazis 2001 in Frankfurt am Main aufmarschieren wollten, hatte die Polizei ganze Stadtteile mit NATO-Drahtrollen, Sperrgittern und Räumpanzern abgeriegelt, und mit Hubschraubern wurden Sondereinsatzkommandos abgesetzt, um Bahnhöfe und Bahngleise zu räumen. Dass dieser paramilitärische Aufmarsch nicht unter dem Logo BGS stattfand, sondern unter der Aufschrift „Polizei“ ändert nichts an der Bereitschaft, diese Einsätze durchzuführen. Sie wurden nur verpolizeilicht.

Wenn das Arsenal der Bundespolizei nicht ausreicht bzw. wenn sie glauben, dass man sich auch an anderes gewöhnen muss, wird die Bundeswehr eingesetzt, wie während der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007. Damals kamen sowohl Spähpanzer als auch Tornados zum Einsatz, die mithilfe ihrer hochauflösenden Kameras „Feindaufklärung“ betrieben.

An der Bereitschaft, auf politische Krisen mit paramilitärischen Mitteln zu antworten, hat sich also nichts verändern. Diese sogenannten Großgefahrenlagen ereignen sich jedoch nur sehr selten in Deutschland. Daraus hat die Polizeiführung durchaus Konsequenzen gezogen. Im Durchschnitt sind Demonstrationen nicht sonderlich groß, in aller Regel sind die Teilnehmer wehrlos. Sie können sich weder vor Polizeiangriffen schützen, noch sind sie in der Lage, sich zu wehren.

Das macht es den Polizeiführungen recht leicht, ein anderes Konzept zu favorisieren, was sie bereits Mitte der 80er Jahre in ihren Einsatzschulungen übten. Es ging darum, mit großem polizeilichem Aufgebot jede Hoffnung auf Widerstand im Keim zu ersticken. Anstatt Hundertschaften in Abstand zum Demonstrationsereignis in Bereitschaftsräumen aufzustellen, wurden nun Hundertschaften ganz in die Nähe von Demonstrationen herangeführt. Polizeitaktiker kamen zu der nicht ganz unberechtigten Einsicht, dass Angriffe auf Polizeibeamte aus großer Distanz wahrscheinlicher sind, als wenn sie quasi Körperkontakt haben. So entstand das Einsatzkonzept der „Seitenbegleitung“, das in den 80er Jahren noch nicht als selbstverständlich hingenommen wurde.

Zum anderen hat diese Polizeitaktik neben einsatztaktischen Gründen auch politische (Aus-)Wirkungen. Der einzige Kontakt solcher Demonstrationen besteht zur Polizei, Außenstehenden wird ein mobiler Gefangenentransport vorgeführt, der weder etwas Attraktives noch Verlockendes hat. Die Demonstration ist ausschließlich mit dieser Polizeipräsenz, mit dieser Polizeiprovokation beschäftigt. Der eigentliche Sinn, Außenstehende zu begeistern, zu informieren, zu gewinnen, geht damit weitgehend verloren.

Christoph Ellinghaus: Mit der veränderten Polizeitaktik veränderten sich auch die eingesetzten Einheiten und ihre Mittel. Bei der Strobl-Demo 1988 erlebten wir die Premiere des Mehrzweckeinsatzstocks MES, eingesetzt durch ein Sondereinsatzkommando (SEK). Heute haben fast alle Einheiten den MES im Einsatz und das SEK tritt bei Demos sehr selten auf. Während die Hundertschaften der Bereitschaftspolizei 1988 noch mit Schildern Demonstrationen in Reih und Glied schwerfällig begleiteten, sind heute hoch mobile Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) am Rande von Demos und Aktionen unterwegs.

Gewandelt hat sich aber auch die Zusammensetzung unserer Demos und Aktionen. Wolf könnte sagen, wann das angefangen hat, ich kann nur sagen, wann es endete. Bis Anfang der 90er kamen viele Menschen in Gruppen zu Demos und Aktionen. Sie waren Bestandteil politischer Bewegungen, hatten diskutiert, was sie auf der Demo wollten, waren vernetzt und bereiteten sich im günstigsten Fall mit anderen vor. Damit waren Demos und Aktionen in vielerlei Hinsicht handlungsfähiger.

Susanne Falke: Polizisten, gegen die man sich in einer Schlägerei hätte durchsetzen können, wie Wolf es berichtet, kenne ich nur aus Kneipenerzählungen von Leuten, die mindestens zehn Jahre älter sind als ich. Allerdings habe ich viele Situationen von dramatischer Unentschlossenheit erlebt: Mehrere Dutzend Leute in Ketten und vermummt, die vor sechs Polizisten weglaufen, die nur rumbrüllen. Das hatte auch mit dem schon von Christoph angesprochenen Rückgang von Bezugsgruppen und praktischer Vorbereitung von Demos zu tun.

Wolf Wetzel: In den 90er Jahren verlor die Linke das sichere Gefühl, dass ihr „die Straße“ gehört. An vielen Orten waren die Neonazis so stark, dass das Wort von „national befreiten Zonen“ mehr als eine rassistische Zumutung war. Parallel dazu wechselte der öffentliche Diskurs von sozialen zu nationalen/ethnifizierten Fragen. Dies alles führte zu einer deutlichen Schrumpfung von linken Gruppen. Die allermeisten Demonstrationen waren vergleichbar klein und wurden in aller Regel von einem massiven Polizeiaufgebot politisch und praktisch kaserniert. Demonstrationen wurden immer mehr zu einem demütigenden und abschreckenden Akt: Die Auflagenpolitik, die massive Seitenbegleitung, die willkürlichen Angriffe von Polizeieinheiten, die ausschließlich der Demonstration polizeilicher Macht galten und gelten, kehrten auch politisch den Sinn einer Demonstration ins Gegenteil: Nicht wir demonstrierten unser Anliegen, sondern die Polizei demonstrierte.

Bislang haben wir nur über die BRD geredet. Christoph, du lebst seit Anfang der 90er Jahre in Thüringen. Wie waren die unterschiedlichen Einsatzkonzepte und Erfahrungen von ost- und westdeutscher Polizei spürbar?

Christoph Ellinghaus: In der Zeit ab 1990 war bei der Polizei vor allem eine große Verunsicherung spürbar. Die Volkspolizei hatte natürlich auch zu DDR-Zeiten Versammlungen begleitet, wie Fußballspiele oder SED-Manifestationen, aber sie war weder politisch noch organisatorisch auf Demonstrationen mit Konfliktcharakter vorbereitet. Sie verfügte zwar auch über Helme, Schilder und Schlagstöcke, aber die Auseinandersetzungen am Dresdener Hauptbahnhof am 3. Oktober 1989 oder dem Nazi-Zentrum in der Berliner Weitlingstraße 1990 zeigten, dass sie schlicht überfordert war. Wie in allen Bereichen des öffentlichen Lebens wurde auch die Polizei nach 1990 von westdeutschen Beamten nach dem Vorbild der BRD umgebaut, und spätestens ab 1994 sind auf der Oberfläche kaum noch Unterschiede in der Praxis erkennbar. Wie im Westen dominieren jetzt Unterschiede zwischen den Bundesländern. Thüringen ähnelt eher NRW und Sachsen eher Bayern.

Wolf hat vorhin von Großgefahrenlagen gesprochen. Seit den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm scheint sich etwas im bundesdeutschen Demogeschehen geändert zu haben …

Susanne Falke: Heiligendamm war unsere Antwort auf die BFE-Taktik der Polizei. Zu Anfang der Vorbereitung der Gegenaktivitäten zum G8-Gipfel in Heiligendamm stand das in der gesamten radikalen Linken weitverbreitete Gefühl, einer hochgerüsteten Polizeiübermacht auf dem platten Land nicht gewachsen zu sein. Vor diesem Hintergrund diskutierten wir die Aneignung von Konzepten des zivilen Ungehorsams mit dem Ziel, die Handlungsspielräume für radikale Linke zu vergrößern. Wir definierten unser praktisches Ziel realistischer und genauer. Uns ging es darum, ein Tor zu blockieren, statt „mal zu schauen, was geht“ oder gar keine klare Vorstellung zu haben und sich dann an der Polizei abzuarbeiten.

Am Anfang stand für mich ein denkwürdiger Moment auf einer Demo, bei der wir uns schon eine Weile mit der Polizei an den Absperrungen schubsten: Plötzlich tanzte eine Pink-and-Silver-Combo hinter der Absperrung vor. Sie war einfach außen herumgegangen. An dieses Erlebnis hat für mich die Diskussion um Block G8 angeschlossen.

Das wichtigste Ergebnis scheint mir zu sein, dass die Trennung in Latschdemos („Passiert nix – können alle kommen“) und Kleingruppenaktionen („Passiert was – können aber nicht alle mitmachen“) aufgehoben wurde.

Wolf Wetzel: Dass sich zwischen den Formen der Selbstdemütigung und sogenannter Latschdemos in den letzten Jahren Formen des zivilen Ungehorsams geschoben haben, ist richtig. Damit trägt man der Schwäche der Linken Rechnung und versucht gleichzeitig das Aktionsniveau so zu gestalten, dass es der Polizeiführung schwer gemacht wird, allzu gewaltsam vorzugehen. Möglichst viele sollen für eine Aktion gewonnen und ein politisches Klima geschaffen werden, in dem es der Polizeiführung schwerfällt, mit massiver Gewalt vorzugehen. Das klappte wie bei den Neonaziaufmärschen in Frankfurt am Main 2002 oder in Dresden 2010/11 und bei den Sitzblockaden von X-tausendmal quer im Wendland. Erheblich anders sieht es bereits bei der Aktionsform „Schottern“ aus, die von der Polizei massiv angegriffen und weitgehend verhindert wurde.

Christoph Ellinghaus: Ab spätestens Mitte der 90er Jahre hatte ich den Eindruck, dass von einer „Demostruktur“ nur noch Anmelder und Lautsprecherwagen, besten Falls eine „erste Reihe“ übrig geblieben waren. Das hat sich seit drei, vier Jahren geändert. Seit den Blockaden in Heiligendamm und Dresden werden wieder Aktions- und Bezugsgruppentrainings durchgeführt, und das in vielen Spektren, die das nicht eh schon immer gemacht haben. Delegiertenplena, wie entscheidungsfähig sie zurzeit noch seien mögen, sind wieder selbstverständlicher geworden. Mich stimmt das optimistisch, denn es zeigt, wenn auch noch vorsichtig, wieder einen stärkeren Bezug aufs Kollektive und einen Wandel weg von der individuellen, unverbindlichen Teilnahme an Aktionen und Demos.

In den frühen 70er Jahren haben die Bereitschaftspolizeien und der Bundesgrenzschutz die schweren Waffen – Handgranaten u.ä. – eingemottet oder abgegeben. Das Schwergewicht lag seitdem bei den „nicht-tödlichen“ Waffen. Wie würdet Ihr die Weiterentwicklung in Sachen Demoeinsatz seitdem qualifizieren?

Susanne Falke: In meinen Augen ist der massive Einsatz von Pfefferspray seit 2000 die größte Veränderung des polizeilichen Arsenals in den letzten Jahren. Die Einführung des Pfeffersprays sollte den Schusswaffengebrauch ersetzen. In der heutigen Praxis wird es aber auch in Situationen eingesetzt, in denen Polizisten früher bloß geschubst hätten. Polizisten greifen inzwischen sehr schnell zum Pfefferspray, weil es nicht so martialisch aussieht und weniger anstrengend ist. Dabei zielt der Einsatz von Pfeffer bei großen Aktionen meines Erachtens eher auf Abschreckung. Alleine beim letzten Castortransport wurde an der Schiene pro Demonstrant eine Dose Pfeffer eingesetzt: 5.000 Stück.

Christoph Ellinghaus: Wie schon bei der Veränderung der Polizeieinheiten und Taktiken haben wir auch beim Einsatz der Waffen in der Regel eine Veränderung weg vom Einsatz gegen Massen hin zum Einsatz gegen Einzelne bzw. Gruppen. Zur Veranschaulichung: Bei den Demos an den AKW-Bauplätzen in den 70er und 80er Jahren nebelte die Polizei mit CS-Gas ganze Felder ein, in dem sie Gas-Kartuschen verschoss oder aus Hubschraubern abwarf. In Wackersdorf ging sie soweit, mit Gummigeschossen in die Menge zu schießen. Noch heute sehen wir dasselbe Abschussgerät für Gaskartuschen und Gummigeschosse bei einzelnen Polizeitrupps.

In der polizeilichen Diskussion geht es seit vielen Jahren um „nicht-tödliche“ Waffen, wobei der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind. Man denke nur an die Taser, also Elektroschocker, die in einer speziellen Variante auch auf Distanz eingesetzt werden können, aber bei uns im Kontext von Demos noch nicht angewendet wurden. Ob sich die in Sachsen anlässlich der Blockaden gegen den Neonaziaufmarsch in Dresden von der Polizei eingeführte „Pepperballpistole“ durchsetzen wird, ist noch unklar. Die mit hoher Geschwindigkeit verschossenen und beim Aufprall pulverisierenden kleinen Pfefferbälle hätten wenig Wirkung gezeigt, so hieß es.

Einen entscheidenden Einschnitt in die „polizeiliche Handarbeit“ dürfte die Einführung des Mehrzweckeinsatzstocks MES Anfang der 90er Jahre bedeutet haben. Der klassisch Tonfa genannte asiatische Kampfstock ermöglicht im Vergleich zum traditionellen Gummiknüppel eine größere Einsatzbreite. Da die öffentliche Legitimierung polizeilicher Gewalt eines der größten Probleme geworden ist, bietet der MES einen weiteren Vorteil. Während Knüppel schwingende Polizisten auch noch aus der Entfernung gut zu sehen waren, sind Stöße und Schläge, die in der Regel auf Hüftniveau erfolgen, schon in der dritten Reihe nicht mehr zu sehen und zu fotografieren.

Susanne Falke: Durch den zusätzlichen Griff an einem Tonfa kann ohne viel Krafteinsatz so ein harter Schlag ausgeführt werden, dass schwere Verletzungen die Folge sind. Geschuldet ist das der vielfach höheren Geschwindigkeit, die bei einem Dreh-Wirbel-Schlag entsteht, der zudem schwer zu blockieren ist. So ein Schlag fällt kaum auf, wie Christoph richtig festgestellt hat. Das senkt die Hemmschwelle bei Polizisten, die in unübersichtlichen Demosituationen mit Adrenalin vollgepumpt sind.

Karen Ullmann: Stichwort Adrenalin. Eine Rolle spielt hier auch die eigene Medienarbeit für Polizisten im Einsatz. In Heiligendamm gab es zum Beispiel ein Polizeiradio, bei einem Castortransport eine Polizeizeitung. Das Exemplar, das ich in die Hand bekam, war randvoll mit Halbwahrheiten. Die Verbreitung von Falschmeldungen führt natürlich zu einer bestimmten Stimmung unter den Polizisten.

Welche Rolle hat das Brokdorf-Urteil von 1985 für die polizeiliche Praxis gespielt, in dem das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit als grundlegend für die Demokratie, als notwendiges Korrektiv der repräsentativen Demokratie, bezeichnete?

Christoph Ellinghaus: Auch wenn die polizeiliche Praxis das Brokdorf-Urteil in Situationen, in denen die Einsatzleitung etwas anderes will und glaubt, es sich politisch leisten zu können, oft genug konterkariert, so hat es doch maßgeblichen Einfluss auf den versammlungsrechtlichen Alltag. Behörden, Gerichte, polizeiliche Ausbildung für den höheren und gehobenen Dienst ebenso wie die polizeiliche Einsatzplanung berücksichtigen in der Regel das Differenzierungs-, Kooperations- und Deeskalationsgebot des Brokdorf-Urteils.

Die andere Seite des Brokdorf-Urteils bedeutet allerdings auch den Einsatz von kampfsporttrainierten BF-Einheiten, deren Einführung ab Anfang der 90er Jahr den Anforderungen des Urteils geschuldet war, das eine Abkehr von der auf Massenprügel angelegten Polizeitaktiken der 80er Jahre verlangte. Auch wenn die Cop-Culture dieser Einheiten weit vom demokratiefreundlichen Geist des Urteils entfernt ist, im Gesamtgefüge spezialisierter Einheiten, sind sie für die Einsatzleitungen zunächst nur eines von mehreren Instrumenten, zum differenzierten Umgang mit dem „polizeilichen Gegenüber“.

Karen Ullmann: Natürlich hat das Brokdorf-Urteil örtliche Polizeiführungen nicht davon abgehalten, auf der Straße ihr eigenes Recht zu setzen. Und wird es auch in Zukunft nicht. Aber es hat Menschen darin bestärkt, dass kriminell nicht ist, wer sein Recht zu demonstrieren wahrnimmt, sondern derjenige, der dieses Recht einschränkt.

Solange sich niemand wehrt, kann ein einziges Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine Wirkung zeigen. Lange wurde von autonomen Gruppen die Inanspruchnahme von Gerichten zur Durchsetzung von Rechten bei Demos abgelehnt. Eher wurde versucht, auf der Straße gegen die Auflagen vorzugehen. Das ist auch eine Strategie. Sie mündet allerdings häufig in Strafverfahren. Und aus meiner Erfahrung als Anwältin kann ich sagen, dass viele Strafrichter eher grundrechtsfern sind. Demonstrierende sind vor einem Strafrichter in der Defensive, weil eben gegen Auflagen verstoßen oder eine Polizeikette durchbrochen wurde. Geht man dagegen vor das Verwaltungsgericht, kann dieses Aktion-Reaktion-Verhältnis umgedreht werden. Die Polizei ist vor dem Verwaltungsgericht gezwungen, ihr Verhalten zu rechtfertigen. Im Strafrecht sollte das zwar auch so sein, die Realität ist aber häufig eine andere.

Trotzdem sind wir weiterhin regelmäßig bei Demonstrationen mit Auflagen und Verboten konfrontiert …

Karen Ullmann: Grundrechte müssen immer wieder gegen staatliche Gewalt durch Inanspruchnahme verteidigt werden. Wo die Inanspruchnahme von Grundrechten durch Staatsgewalt verhindert wird, muss gerichtlich nachgeholfen werden. Beides geht nur Hand in Hand, und auch nicht in einzelnen Verfahren, sondern nur durch die Masse.

Der Polizei ist es egal, wenn nach sechs Jahren festgestellt wurde, dieser oder jener Polizeikessel war rechtswidrig. Aber wenn Gerichte mit Massenverfahren beschäftigt sind, dann interessiert nicht erst das Urteil, dann sind schon die Verfahren ein Politikum. Zudem: Interne Berichte der Polizei bestätigen, dass die gerichtliche Überprüfung ihrer Maßnahmen und die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe als extrem störend empfunden werden. Ich will nur sagen, ich halte es für notwendig, den Weg gerichtlicher Inanspruchnahme von Grundrechten auch immer wieder mitzudenken und ihn immer weiter zu gehen.

Und: Das Bundesverfassungsgericht hat nach Brokdorf immer wieder das Recht auf Versammlungsfreiheit gestärkt. Das Brokdorf-Urteil war also nicht nur ein Punkt, sondern der Beginn einer Auseinandersetzung, die gesellschaftlich, aber eben auch in Gerichtssälen geführt wurde. Insofern müssen Gerichtsverhandlungen als Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen angesehen werden.

Kommen wir noch mal zu den BFE zurück. Wie „beweissicher“ sind die „beweissicheren Festnahmen“?

Christoph Ellinghaus: Mir fehlen verlässliche Daten und ich kann mich daher nur auf einzelne Erfahrungsberichte verlassen, aber aus denen geht hervor, dass sich die Verurteilungsquote im Zusammenhang mit Demonstrationen nach Einführung der BFE erhöht hat. Hintergrund der Einführung der BFE war ja auch, dass es in Verfahren gegen Demonstranten selten zu Verurteilungen kam, weil die Beweise nicht ausreichten bzw. die Polizeizeugen keine gerichtsfesten Aussagen machen konnten. Die Ausbildungszeit der BFE sieht daher heute einen umfangreichen Block zur Dokumentation und Beweissicherung vor.

Susanne Falke: Meines Erachtens ist der Begriff „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit“ irreführend: Sie werden oft eingesetzt, wenn es weder jemanden festzunehmen, noch irgendwelche Beweise zu sichern gibt. Entgegen Christophs Wahrnehmung habe ich den Eindruck, dass viele Leute vor Gericht frei gesprochen werden. Oft gibt es nur Polizeizeugen, die sich schnell widersprechen. Vielleicht erklärt das auch ihre Brutalität am Rande von Aktionen und direkt nach Festnahmen.

Meines Erachtens ist ihre tatsächliche Funktion eine andere: Sie versuchen, die Konfrontation mit Einzelnen zu provozieren, um eine ständige Spannung zu erzeugen. Dazu laufen sie in kleinen Polizeitrupps direkt in die Demo hinein. Sie gehen gezielt in eine Versammlung herein, um zu verhindern, dass die Menschenmenge zu einer Versammlung wird. Das macht den gemeinsamen Ausdruck, um den es geht, kaputt und ist ein schwer zu fassender Angriff auf die Versammlungsfreiheit.

Mit der Strategie der „beweissicheren Festnahme“ ist auch der polizeiliche Technikeinsatz gewachsen: In Sachen Videoüberwachung haben die Gerichte in den vergangenen Jahren Grenzen gezogen. Hat das praktische Folgen gehabt?

Wolf Wetzel: Der flächendeckende Einsatz von Videoüberwachung dient sicherlich auch der Beweisführung, wobei Festnahmen vor Ort damit am wenigsten „beweissicher“ gemacht werden sollen. Zu allererst ist es eine beweisunabhängige und verdachtslose Totalüberwachung. Solcherart überwachte Demonstrationen werden wie kriminalitätsverdächtige öffentliche Plätze in einen panoptischen Raum verwandelt. Zuallererst verwandelt man mit dieser Kriminaltechnik einen öffentlichen in einen delinquenten, verdachtsbestimmten Raum. Allein dies zuzulassen, sich das gefallen zu lassen, sich nicht dagegen zur Wehr zu setzen, hat seine Wirkung. Als Subjekt auf der Straße, als Objekt auf der Speicherkarte.

Nicht minder wesentlich ist, dass die Arbeit der Polizei nach Ablauf der Demonstration erst anfängt. Die Strafverfolgung mithilfe der Videoauswertung ist in aller Regel nach einer Demonstration größer als im Laufe einer Demonstration. Mithilfe der Videoaufzeichnungen werden Hunderte und Tausende Ermittlungsverfahren eingeleitet. Diese Strafverfolgung trifft alle alleine, individualisiert sie und unterstreicht den polizeilichen Anspruch: Wir kriegen euch alle, gerade dann, wenn ihr glaubt, es sei alles vorbei.

Bei den Demos der letzten beiden Jahrzehnte fällt auf, dass es nicht nur die üblichen Festnahmen gibt, sondern mehr und mehr massenhafte präventive Gewahrsamnahmen. Stimmt dieser Eindruck?

Karen Ullmann: Der Eindruck stimmt, auch wenn das Instrument des Polizeigewahrsams in Deutschland eine lange Tradition hat. Durch den Gewahrsam soll theoretisch eine Gefahr abgewendet werden. Das heißt, eine Person kann eingesperrt werden, obwohl sie sich nichts hat zuschulden kommen lassen, allein aufgrund der Einschätzung, dass sie sich etwas zuschulden kommen lassen wird.

Weil die Polizei in Deutschland niemanden die Freiheit entziehen darf – das darf nur ein Gericht – muss sie unverzüglich eine richterliche Entscheidung über den Gewahrsam herbeiführen. Das hört sich einfach an, aber genau hierum wird seit ca. 20 Jahren ein harter juristischer Kampf geführt: Beim Castortransport beispielsweise gab es anfangs gar keinen richterlichen Eildienst. Erst durch das Bundesverfassungsgericht wurden Gerichte und Polizei gezwungen, verfassungsgemäß zu arbeiten: Bei Großlagen muss es einen Eildienst geben. Ist der Richter nicht erreichbar, ist ein Gewahrsam nicht möglich. Liegt nach nur wenigen Stunden keine richterliche Entscheidung vor, ist das Unverzüglichkeitsgebot verletzt und die Person ist zu entlassen.

Allein an diesen formalen Bestimmungen sind praktisch alle Gewahrsamnahme, die ich als Anwältin betreut habe, gescheitert. Und an einer anderen Regelung: der Polizeifestigkeit von Versammlungen. Keiner darf aus einer Versammlung heraus in Gewahrsam genommen werden. Das vergisst die Polizei gerne, denn das Instrument des Gewahrsams wird gerne so genutzt, dass alle unliebsamen Personen kollektiv weggesperrt werden – und nicht nach einer individuellen Prognose, wie es das Gesetz vorsieht. Das Versammlungsgesetz sieht aber vor, dass man die Möglichkeit haben muss, sich zu entfernen, wenn eine Versammlung aufgelöst wird. Da die Polizei das nicht wollte, hat sie häufig ganze Versammlungen gekesselt, dann die Durchsage gemacht „Die Versammlung ist aufgelöst“ und alle in Gewahrsam genommen. So geht das aber gar nicht!

Nachdem in den Jahren 2001-2003 mehrere Tausend Verfahren um rechtswidrige Freiheitsentziehung beim Amtsgericht Dannenberg geführt wurden, hat die Polizei aufgehört, dieses Instrument massenhaft einzusetzen. 2010 haben sie dann den sogenannten Feldgewahrsam erfunden: ein neues Wort für Kessel. Sie haben die Leute wieder nicht zum Richter gebracht, diesmal getarnt durch die „Absprache“, keine Personalien aufzunehmen. Das klingt auf den ersten Blick gut, auf den zweiten ist es eine unverschämte Umgehung der Verfassung und der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, nach der eindeutig unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen ist.

Du hast vorhin schon die polizeiliche Medienarbeit angesprochen. Sie wirkt ja nicht nur nach innen, sondern auch nach außen – auf die Medien und insgesamt auf die Öffentlichkeit. Wie hat sich das entwickelt?

Karen Ullmann: Das stimmt. In den 90er Jahren gab es im Wendland wenn überhaupt eine abschließende Presseerklärung der Polizei über den Verlauf des Castortransportes. Seit 2001 gibt es ein eigenes Medienzentrum in der Nähe des Verladekrans. Als beim Castor 2002 die BI Lüchow-Dannenberg ihren Pressewagen am gleichen Ort aufbauen wollte, wurde das mit Hinweis auf die Versammlungsverbotszone verboten. Als das nicht funktionierte, folgte eine Anzeige wegen Stromklau. Diese Auseinandersetzung zeigt, wie sehr der Polizei an der Macht über die Medien gelegen ist. Zu Recht, denn die meisten Medienvertreter haben sich zu dieser Zeit nicht an die Transportstrecke begeben, sondern nur die Meldungen der Polizei abgeschrieben.

Polizeiliche Pressearbeit hat klar definierte Aufgaben zu erfüllen. Polizeiarbeit ist stets hoheitliches Handeln. Hinzu kommt, dass polizeiliche Arbeit durch Steuern finanziert wird und sich daher an dem Gebot der Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit messen lassen muss. Mit anderen Worten: Behörden haben die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Auskunft über ihr eigenes Handeln. Die Herausgabe von Pressemitteilungen und das Beantworten von Presseanfragen gehören daher zur hoheitlichen Aufgabe der Polizei. Das Erstellen eigener – der Öffentlichkeit nicht zugänglicher – Presseorgane wie Radio und Zeitungen überschreitet eindeutig die Grenze polizeilicher Aufgaben.

Hat nicht die Polizei gerade beim G8-Gipfel in Heiligendamm versucht, die öffentliche Meinung massiv zu beeinflussen?

Susanne Falke: Dass die mit Nägeln gespickten Kartoffeln und die Säure verspritzenden Clowns als Lügen entlarvt wurden, war vor allem unserer offensiven Pressearbeit geschuldet. Wir hatten Journalisten auf die Blockaden mitgenommen, für sie Aktionstrainings gemacht und sind ihnen gegenüber nicht mehr als „Kameramann Arschloch“ rufende Gruppe aufgetreten, sondern als Pressesprecher mit Name, Gesicht und Handynummer. Heiligendamm markiert sicherlich eine Wende im Umgang mit der Presse unsererseits. Auch wenn Journalisten immer noch dazu neigen, einfach die Informationen der Polizei abzutippen, gibt es inzwischen etwas mehr Misstrauen gegenüber der Polizei und die Bereitschaft, uns mehr wahrzunehmen.

Wolf Wetzel: Allerdings sind all die wahnwitzigen Horrormeldungen über verletzte Polizisten und blutrünstige Demonstranten niemals offiziell zurückgenommen worden. Aber ich möchte noch einmal auf einen anderen Punkt im Zusammenhang von Polizei und Selbstmedialisierung zurückkommen, der bereits angesprochen wurde. Ich halte ihn politisch für äußerst wichtig, da er eine politische Verschiebung markiert: Die Polizei betreibt nicht nur eigene Medienarbeit, die von den allermeisten Medien unhinterfragt übernommen wird, wie am Beispiel Heiligendamm. Noch wichtiger ist, dass die Polizei sich zunehmend selbst politisch repräsentiert bzw. Politik ersetzt. Sie agiert in verschiedenen Fällen als politische Exekutive. Denn je mehr sich die Polizei ihre eigenen Medien schafft, desto weniger wird danach gefragt, wer die Polizei politisch führt. Eigentlich ist die Polizei gegenüber der politischen Vertretung rechenschaftsschuldig und umgekehrt müssten die politischen Repräsentanten öffentlich Rede und Antwort stehen, warum die Polizei so oder so agiert. Tatsächlich verschwindet die Politik bei großen Polizeilagen total. So entsteht der Eindruck, als sei das Ganze eine Sache zwischen Polizei und Demonstranten. Denn ob ein polizeilicher Einsatzplan angemessen ist, die polizeiliche Selbstmedialisierung richtig oder vorsätzlich manipuliert, ist eben erst zuletzt eine juristische Frage; zu aller erst ist es eine politische Frage.

Für den Bereich von Polizei und Diensten können wir heute getrost von einer „Datenbankgesellschaft“ sprechen. Hinzu kommt ein digitales Überwachungsarsenal, mit dem Demonstrationen beinahe in Echtzeit ausgeforscht werden können. Ist die Informationshoheit der Polizei endgültig unangreifbar?

Karen Ullmann: Die neuen Informationstechniken bieten selbstverständlich bessere Überwachungsmethoden. Die Umsetzung von rechtlichen Vorgaben ist noch schwerer zu überwachen. Die Diskussion um die Speicherung von einer Million Handydaten in Dresden 2011 hat jedoch gezeigt, dass die Polizei – jedenfalls in der öffentlichen Diskussion – noch angreifbar ist.

Wolf Wetzel: Der erste Teil der Frage ist leichter zu beantworten. Der Hamburger Kessel 1986 gilt in der Polizeigeschichte als Skandal. Hunderte von Demonstranten wurden über Stunden in einem Kessel festgehalten, weil sie nicht bereit waren, ihre Personalien abzuliefern. Zumindest die Erzwingung der Personalien ist heute – weitgehend – ohne martialischen Polizeiaufwand möglich. Um die Teilnehmer von Blockaden zu identifizieren, braucht es keinen Hamburger Kessel mehr. Heute reicht eine Funkzellenabfrage wie in Dresden. Auch kann die Erfassung von Handydaten zeitnah erfolgen, mithilfe von IMSI-Catcher, die Handydaten „in Echtzeit“ auswerten können.

Der zweite Teil der Frage ist wirklich paradox und der Zukunft weit voraus … In den 80er Jahren wurden Störsender entwickelt, um die Kommunikation und Koordination der Polizei zu stören. Die technischen Möglichkeiten und Fähigkeiten waren vorhanden, auch wenn all dies nur sehr selten umgesetzt wurde. Heute führen wir die Überwachungsmöglichkeiten – auf eigenen Kosten – mit uns herum. Sei es der Computer, der mühelos ausgespäht werden kann, oder das Handy, das (eingeschaltet ohne Gesprächsführung) als Peilsender fungieren kann. Ein Bewegungsprofil, das in handylosen Zeiten sehr aufwendig zu bekommen war, ist heute ein Kinderspiel, wenn das Handy ständig mitgeführt wird. Sich persönlich und politisch zu schützen, gemeinsame Regeln aufzustellen, sich technisch zu wappnen, wird selten als eine kollektive Herausforderung und Notwendigkeit begriffen.

Das Komitee für Grundrechte betreibt seit langem Demobeobachtungen, der RAV organisiert Legal Teams. Auch Ermittlungsausschüsse sind aus der Demogeschichte nicht wegzudenken. Wie wirksam sind diese Strukturen?

Christoph Ellinghaus: Anders als in den 80er Jahren gab es in den 90er und frühen 2000er Jahren nur in den wenigsten Städten eine organisierte Gegenöffentlichkeit, die polizeiliches Handeln kritisch beleuchtet hat. Seit ca. fünf Jahren erleben wir einen gesellschaftlichen Wandel von einer Apathie hin zu gesellschaftlicher Protest- und Bewegungsstimmung. Bisher stärkster Ausdruck sind Stuttgart, Dresden und die auf einem noch höheren Niveau wieder aufgeflammten Proteste im Wendland. Organisierter, massenhafter ziviler Ungehorsam trifft auf eine Polizei, die trotz komplexester Ausdifferenzierung bei Einheiten und Strategie bisher nicht in der Lage ist, ihre massive Vorgehensweise zu legitimieren. Im Gegenteil gelingt es den alten Bürgerrechtsstrukturen, gemeinsam mit den neuen Ansätzen von Bewegungen das Verhalten der Polizei erfolgreich zu skandalisieren. Die Empörung über den schwarzen Donnerstag in Stuttgart, die Handyüberwachung in Dresden, den massiven Einsatz von Pfefferspray im Wendland sind dafür gute Beispiele. Entscheidend für den bevorstehenden Bewegungszyklus wird es sein, einen Wissens- und Erfahrungstransfer zu organisieren und die abgeschnittenen Fäden politischer Debatten, generationsübergreifend wieder zu verknüpfen.

Die Gesprächspartner

Christoph Ellinghaus, geb. 1970, ist Gewerkschaftssekretär der IG Metall und aktiv im Aktionsnetzwerk gegen Rechtsextremismus in Jena.
Susanne Falke, geb. 1978, ist organisiert in der Interventionistischen Linken (IL), Aktionstrainerin im Netzwerk „skills for action“ und seit 2007 in einigen Kampagnen des zivilen Ungehorsams aktiv.
Karen Ullmann, geb. 1974, war lange Jahre Rechtsanwältin in Hamburg, im anwaltlichen Notdienst im Wendland und in Heiligendamm tätig sowie im Vorstand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins. Heute ist sie Richterin am Arbeitsgericht.
Wolf Wetzel, geb. 1956, war Autor der ehemaligen autonomen L.U.P.U.S.-Gruppe und ist heute journalistisch und publizistisch tätig, mit und ohne politische Folgen.

Bibliographische Angaben: Interview mit Aktivisten aus drei Generationen: Eine kleine Demogeschichte. Protest und Polizei in den letzten vierzig Jahren, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 100 (3/2011), S. 48-62

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