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„Deradikalisierung“ – ein neues Zauberwort bereichert die sicherheitspolitische Debatte der letzten Jahre. Blickt man in die einschlägige Publikationslandschaft, werden schnell bekannte Muster deutlich; Muster, die für den Verlauf, die AkteurInnen und Interessengruppen und die „Logik“ der Konjunkturen innerer Sicherheitspolitiken kennzeichnend sind: Man nehme einen im Alltagsverständnis positiv besetzten Begriff und entfalte in dem so überschriebenen Feld eine Vielzahl von beliebigen Aktivitäten, an denen sich alle beteiligen, die diese „beliebigen Aktivitäten“ schon immer für sinnvoll hielten. Sogleich bildet sich eine „Scientific Community“, deutlich dominiert von „Praktikern“ und deren Interessen, die im Gleichklang zwei Dinge fordern: endlich eine Evaluation (um wissensbasierte Praxis beteiben zu können) und eine auf Dauer gestellte Förderung (um die Standards umsetzen, die „Vernetzung“ vertiefen zu können). Im Ergebnis entsteht ein buntes Potpourri sozialer Interventionen, die von unterstützend-helfenden bis zu repressiv-strafenden reichen – alle legitimiert durch die Idee, über „Deradikalisierung“ Innere Sicherheit zu gewährleisten. Im Folgenden Hinweise auf die deutschsprachige Szene: 

Trautmann, Catrin; Zick, Andreas: Systematisierung von in Deutschland angebotenen und durchgeführten (Präventions-)Programmen gegen islamistisch motivierte Radikalisierung außerhalb des Strafvollzugs, Bielefeld 2016, www.forum-kriminalpraevention.de/files/1Forum-kriminalpraevention-webseite/pdf/2015-03/2015-03_praev_gegen_islamistisch_motivierte_radikalisierung.pdf

Trautmann, Catrin; Kahl, Wolfgang; Zick, Andreas: Prävention von islamistischer Radikalisierung und Gewalt, in: forum kriminalprävention 2017, H. 1, S. 3-9, www.forum-kriminalpraevention.de/systematisierung-von-praeventionsansaetzen.html

Initiiert vom „Deutschen Forum für Kriminalprävention“ hat das Bielefelder „Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung“ einen Systematisierungsversuch der deutschen Deradikalisierungs-Land­schaft unternommen. Die Untersuchung erfasst 36 Initiativen, die im Herbst 2015 bestanden. Identifiziert werden vier „Prototypen“ (Medienschutz, Bildungsarbeit, Netzwerkbildung und Beratungsarbeit), die – mit Ausnahme des Medienschutzes – in jeweils zwei „Formaten“ umgesetzt werden. Deutlich wird die präventive Vorverlagerung in Richtung allgemeiner prosozialer, demokratisch intendierter Interventionen. Bei den wenigen Ansätzen, die direkt an die Betroffenen adressiert sind, wird festgestellt, dass sie auf „Ressourcenorientierung“ und den Ausbau „protektiver Faktoren“ setzen.

Gruber, Florian; Lützinger, Saskia; Kemmesies, Uwe E.: Extremismus­prävention in Deutschland – Erhebung und Darstellung der Präventionslandschaft. Schwerpunktdarstellung Präventionsprojekte in staatlicher Trägerschaft (2014/ 2015), Wiesbaden (BKA) 2016, www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/Forschungsergebnisse/2016ExtremismuspraeventionInDeutschland.html

Gruber, Florian; Lützinger, Saskia: Extremismusprävention in Deutschland – Erhebung und Darstellung der Präventionslandschaft. Modulabschlussbericht, Wiesbaden (BKA) 2017, www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/Forschungsergebnisse/2017PueG_ExtremismuspraeventionInDeutschland_Erhebung.pdf

Lützinger, Saskia; Gruber, Florian: Extremismusprävention in Deutschland – Herausforderungen und Optimierungspotenzial. Wiesbaden (BKA) 2017, www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/Forschungsergebnisse/2017PueG_ExtremismuspraeventionInDeutschland_Herausforderung.html

Diese Untersuchungen entstanden im Rahmen des BKA-For­schungsprojektes „Entwicklungsmöglichkeiten einer phänomenübergreifend ausgerichteten Prävention politisch motivierter Gewaltkriminalität (PüG)“. Für die Jahre 2014/15 wurden dem Radikalisierungs-Paradigma folgend 721 Projekte in der „Präventionslandschaft“ in den Bereichen Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus erfasst. Nachdem in dem Bericht von 2016 zunächst die Projekte in staatlicher Trägerschaft vorgestellt worden waren, weist (auch) der Modulabschlussbericht von 2017 darauf hin, dass die psychosozialen Hintergründe von Radikalisierungsprozessen zu wenig beachtet würden, dem Linksextremismus zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet werde, und es insgesamt an aussagekräftigen Evaluationen mangele. Zur Erhebung des „Optimierungspotenzials“ wurden die Angaben von neun ExpertInnen aus der Deradikalisierungsarbeit ausgewertet. Im Ergebnis findet sich der Common Sense aller PräventionistInnen: von der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, die übernommen werden müsse, bis zur dauerhaft gesicherten Finanzierung.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung, Berlin 2016, www.protokoll-inland.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2016/strategie-extremismuspraevention-und-demokratiefoerderung.html

Bereits im Titel dieser „Strategie“ wird die prinzipielle Grenzenlosigkeit des Ansatzes deutlich. Als ihr „übergeordnetes Ziel“ verkündet die Bundesregierung, „durch Prävention von Radikalisierung und Gewalt zu einer demokratischen und sicheren Gesellschaft beizutragen“, und das geschieht über die Förderung von Beratungsangeboten bis zum Ansatz, über die „Förderung von Engagement, Mut, Zivilcourage und Konfliktfähigkeit die gelebte Demokratie und ihre Werte zu stärken“. Im Hinblick auf Deradikalisierung wird auf verschiedene Forschungsprojekte, insbesondere des BKA, und die Förderung kritischer Evaluierung hingewiesen.

Steffen, Wiebke: Prävention der salafistischen Radikalisierung (Teil 1 und 2), in: forum kriminalprävention 2015, H. 4, S. 10-17 u. 52-56, www.forum-kriminalpraevention.de/files/1Forum-kriminalpraevention-webseite/pdf/2015-04/radikalisierung.pdf

Im zweiten Teil dieses auf dem Vortrag auf der Herbsttagung 2015 des BKA fußenden Artikels werden verschiedene Präventionsansätze vorgestellt. Als langjährige Kennerin sieht Steffen die Islamismusprävention in der Tradition allgemeiner Kriminalprävention, deren bekannte Risiken („Versicherheitlichung“, mangelnde Professionalität, Vernetzung und Evaluierung) sie in Rechnung stellt und um die Kritik an der ausgrenzenden „Logik des Verdachts“ und die kontraproduktiven Wirkungen aus muslimische Gemeinschaften erweitert. Ohne daraus Konsequenzen zu ziehen, werden dann die Initiativen in den Bereichen Polizei, Jugendhilfe und Schulen vorgestellt, um dann in Übereinstimmung mit der Innenministerkonferenz eine „nationale Präventionsstrategie“ zu fordern – mit den zustimmend zitierten Worten des BKA-Präsidenten: einen „tragfähigen Masterplan“, der die „Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten … Justiz, Sozial-, Bildungs- und Jugendbehörden“ regelt.

Köhler, Daniel (Verf.): Strukturelle Qualitätsstandards in der Präventionsarbeit gegen gewaltbereiten Extremismus, Stuttgart 2016, www.kpebw.de/wp-content/uploads/Handbuch-KPEBW.pdf

Das beim Innenministerium des Landes angesiedelte „Kompetenzzentrum zur Koordinierung des Präventionsnetzwerks gegen den (islamistischen) Extremismus in Baden-Württemberg“ (KPEBW) hat dieses Handbuch für PraktikerInnen im Bereich der Extremismusprävention in Auftrag gegeben. Bevor der Autor ab S. 23 zu den Qualitätsstandards kommt, werden Systematisierungen von Präventionen/Interventionen vorgestellt. Auch wird die internationale Debatte über Ziele und Wirkungen von Deradikalisierungsprogrammen referiert. Die Standards selbst beziehen sich auf die Dimensionen „Programmleitung/-entwick­lung“, „Personal und Organisation“, „Klienteneinstufung“, „Beratung und Betreuung“, „Qualitätssicherung“ und „Transparenz“. Das ist zumindest auf der immanenten Ebene ein Versuch, Professionalität zu gewährleisten. Fraglich bleibt allerdings, inwiefern PraktikerInnen (auch materiell) in der Lage sind, diesen Standards gerecht zu werden.

Kober, Marcus: Zur Evaluation von Maßnahmen der Prävention von religiöser Radikalisierung in Deutschland, in: Journal for Deradicalization, No.11 (Summer 2017), pp. 219-256, http://journals.sfu.ca/jd/index.php/jd/article/download/105/88

Der Autor hat den Versuch einer Bilanz vorliegender Evaluationen unternommen. Seine aufwändige Recherche hat zu lediglich sieben Projekten geführt, zu denen Evaluationen vorliegen. Im zweiten Teil des Artikels entwickelt Kober Vorschläge, wie der „eklatante Mangel an Evaluationen“ beseitigt werden könnte.

El-Mafaalani, Aladin; Fathi, Alma; Mansour, Ahmad; Müller, Jochen; Nordbruch, Götz; Waleciak, Julian: Ansätze und Erfahrungen der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit, HSFK-Report 6/2016, Frankfurt am Main, www.hsfk.de/publikationen/publikationssuche/publikation/ansaetze-und-erfahrungen-der-praeventions-und-deradikalisierungsarbeit/

Die Studie will die Erfahrungen in anderen Präventions- und Deradikalisierungsbereichen für die Auseinandersetzung mit dem Salafismus nutzbar machen. Für die Distanzierung (= Abwendung von Gewalt) und Deradikalisierung (= zusätzlich Abwendung von der Ideologie) wird auf Erfahrungen mit RechtsextremistInnen und Sektenmitgliedern verwiesen. In ihren Handlungsempfehlungen betonen die AutorInnen die Notwendigkeit weiterer Forschung. Für die „politische und pädagogische Praxis“ reicht ihr Katalog von der „schulischen Unterrichtsentwicklung“ über die „Projektebene“ mit „zivilgesellschaftlichen Akteuren“, bis zu „Zeugenschutzprogrammen“, „der interkulturellen Öffnung der Institutionen“ oder der „Ausweitung des islamischen Religionsunterrichts“.

Molthagen, Dietmar (Hrsg.): Handlungsempfehlungen zur Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit, Berlin (Friedrich-Ebert-Stiftung) 2015, http://library.fes.de/pdf-files/dialog/12034-20151201.pdf

Dieser Band versammelt Beiträge des ExpertInnengremiums der Friedrich-Ebert-Stiftung. Für Aspekte der Deradikalisierung sind die Beiträge von Werner Schiffauer zum „Wert“ verfassungsschützerischen Wissens über Islamismus und von Thomas Mücke, der die Arbeit des „Violence Prevention Network“ (VPN) schildert, von besonderem Interesse.

Neumann, Peter: Radikalisierung, Deradikalisierung, Extremismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2013, H. 29-31, S. 3-10, www.bpb.de/apuz/164918/radikalisierung-deradikalisierung-und-extremismus?p=all

Dieser Beitrag ist auch nach vier Jahren noch lesenswert, weil er versucht, ein wenig begriffliche Klarheit zu schaffen. Und weil in der begrifflichen Unterscheidung (etwa zwischen verschiedenen Extremismen, Varianten der Deradikalisierung und Demobilisierung) immer neue Unklarheiten auftauchen, die mehr Fragen aufwerfen als beantworten.

Reicher, Fabian: Deradikalisierung und Extremismusprävention im Jugendalter, in: soziales_kapital Nr. 14 (2015), www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/398

Der Aufsatz fasst die wenigen kritischen Positionen zur (islamistischen) Deradikalisierung zusammen: Die Aufmerksamkeit gegenüber muslimischen Jugendmilieus aus der Sicherheitsperspektive können als Diskriminierung wahrgenommen werden und die Anziehungskraft bestimmter Szenen verstärken. Die AdressatInnen der Deradikalisierung würden häufig als defizitäre Individuen mit einem problematischen sozialen oder familiären Umfeld wahrgenommen; dies sei eine „Projektion“, mit der von „menschenfeindlichen Strukturen in der gesellschaftlichen Mitte“ abgelenkt würde. Da einerseits nicht bestimmt sei, wo „Radikalität“ beginnt, andererseits „Radikalisierung“ einen Prozess beschreibt, gehe von präventiven Interventionen die Gefahr aus, eine ganze Generation unter Verdacht zu stellen. Schließlich fuße der Versuch, über zeitlich begrenzte Projekte etwas bewirken zu wollen, auf einer „Simplifizierung“ der Zusammenhänge von „problematischen Strukturen innerhalb der einzelnen Sozialisationsinstanzen und der gesamten Gesellschaft“.

Kulturbüro Sachsen (Hrsg.): Vom Kopf auf die Füße. Zum anwaltschaftlichen Arbeiten mit menschenrechtsorientierten Jugendlichen im ländlichen Raum, Dresden 2014, www.kulturbuero-sachsen.de/images/PDF/WJD-Abschlussdoku.pdf

Diese Veröffentlichung entstand im Zusammenhang mit Projekten in zwei sächsischen Kleinstädten, die lokale „rechte Hegemonien“ durch die Arbeit mit „menschenrechtsorientierten Jugendlichen“ durchbrechen sollten. Für den Schwerpunkt unseres Heftes ist der abschließende Beitrag von Susanne Feustel („Von der ‚Glatzenpflege auf Staatskosten‘ zur Deradikalisierung als Konzept“) besonders lesenswert. Nach dem kritischen Rückblick auf die Praxis „akzeptierender Sozialarbeit“ in den 1990er Jahren, wendet sich die Autorin der Deradikalisierung zu, die sie als „Begriffscontainer“ bezeichnet. Der Begriff sei „schwammig“ und stehe für die „allumfassende Idee ‚etwas gegen rechts zu tun‘“. Selbst in den engen Bereichen, in denen der Ansatz plausibel sei, etwa im Umgang mit AussteigerInnen oder in Haftanstalten, fehle es häufig an den Voraussetzungen für qualifizierte Arbeit. Gingen die Aktivitäten darüber hinaus, dann würden die knappen Ressourcen faktisch dazu führen, auf Kosten „der anderen“ für „ideologisch durchdrungene rechtsorientierte Jugendliche … ein besseres Setting zu schaffen“.

Burschel, Friedrich (Hrsg.): Durchmarsch von rechts. Völkischer Aufbruch: Rassismus, Rechtspopulismus, rechter Terror, Berlin (Rosa-Luxemburg-Stiftung) 2016, www.rosalux.de/publikation/id/8811/durchmarsch-von-rechts

Der Beitrag von Esther Lehnert und Enrico Glaser („Verstellter Blick“) kündigt im Untertitel „eine Absage an ‚Deradikalisierung‘“ für die Jugendarbeit „gegen rechts“ an. Das Konzept wird als „kontraproduktiv“ bewertet. Kritisiert wird die Defizitorientierung des Ansatzes, der Blick auf (männliche) „Radikalisierte“, die Verortung des Problems am Rande der Gesellschaft und die Vernachlässigung demokratisch orientierter Jugendlicher. Damit werde die „dringend notwendige Auseinandersetzung mit gesellschaftlich weit geteilten Einstellungen … erschwert.“

Aus dem Netz

http://journal-exit.de

Seit 2013 erscheint das „Journal EXIT-Deutschland. Journal für Deradikalisierung und demokratische Kultur“. Entstanden aus der Arbeit, der seit 2000 bestehenden Organisation „EXIT-Deutschland“, die Angehörige der rechten Szene beim Ausstieg unterstützt, beschäftigt sich das Journal nicht allein mit rechtsextremistischer, sondern mit allen Formen der „Deradikalisierung“. Die Zeitschrift dient eher der Information und der Selbstverständigung der AkteurInnen als der kritischen Würdigung der Aktionen. Gleichwohl als Informationsquelle über nationale und ausländische Entwicklungen unverzichtbar.

http://journals.sfu.ca/jd/index.php/jd/index

Seit dem Winter 2014/15 erscheint das „Journal for Deradicalization“ mit jährlich vier Ausgaben. Es wird herausgegeben vom „German Institute on Radicalization and De-radicalization Studies“, das von Daniel Köhler (s.o. „Qualitätsstandards“) geleitet wird. Veröffentlicht werden Beiträge in deutscher oder englischer Sprache. Inhaltlich sind die Gegenstände weit gestreut: Sie beziehen sich auf rechtsextremistische oder islamistische (De-)Radikalisierungen, auf Entwicklungen von der Schule bis zum Internet, auf die Lage in verschiedenen europäischen Ländern, in Asien oder in der arabischen Welt. Und sie beleuchten die Entwicklungen in verschiedenen Ländern. Das JD beweist mit jeder Ausgabe: (De-)Radikalisierung ist ein globales Phänomen.

www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention

Die Seite der Bundeszentrale für politische Bildung ist auf den Salafismus fokussiert. Der „Infodienst Radikalisierungsprävention“ stellt Materialien zur Verfügung. Über links wird auf verschiedene Initiativen und deren Arbeit verwiesen. Die Informationen beziehen sich zum Teil auch auf Aktivitäten gegenüber anderen Radikalisierungen. Ein Newsletter, der aktuelle Informationen verspricht, kann abonniert werden.

(alle: Norbert Pütter)

Sonstige Neuerscheinungen

Großmann, Werner (mit Böhm, Peter): Der Überzeugungstäter, Berlin (Verlag edition ost) 2017, 252 S., 16,99 EUR

Dieses Buch ist eigentlich gar kein Buch. Vielmehr ist es ein rund 250 Seiten langes Interview, bei dem Frager und Befragter sich gegenseitig die Bälle zuwerfen. Bei dem freundschaftlichen Pingpong-Spiel ist Werner Großmann, der letzte Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A), des Auslandsgeheimdienstes der DDR, zweifellos der prominentere „Autor“. Über seinen „Co-Autor“ Peter Böhm heißt es dagegen lediglich, er sei Journalist und recherchiere „seit Jahren zum Thema Geheimdienste“. Bei näherer Betrachtung handeln zumindest seine letzten drei Bücher von ehemaligen DDR-Spionen. Einen Begriff, den Großmann strikt von sich weist und lieber von „Aufklärern“ spricht. Damit sind die Unstimmigkeiten zwischen beiden dann auch schon ausgeräumt. Kein Wunder also, dass Böhm bei der kameradschaftlichen Plauderei auch schon mal ein „uns“ oder „wir“ in die Fragen gerät. Und so haben die DDR-BürgerInnen den Mauerbau 1963 denn auch mehrheitlich „begrüßt“; der „Wahrheitsgehalt“ der Publikationen der „Aufarbeiter“ in der Bundesbehörde zur Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen (BStU) ist zumindest zweifelhaft, und von den Vorgängen in anderen Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) hat Großmann ohnehin nichts gewusst usw. – usw. Wer die Guten und wer die Bösen waren, ist somit klargestellt. Also lassen wir es dabei und legen das Buch in eine möglichst staubige Ecke. (Otto Diederichs)

Hirschmann, Nathalie: Sicherheit als professionelle Dienstleistung und Mythos. Eine soziologische Analyse der gewerblichen Sicherheit, Wiesbaden (Springer VS) 2016, 307 S., 39,99 EUR

Die vorliegende Studie ist 2015 als Dissertation an der Universität Potsdam angenommen worden und stammt aus dem Dunstkreis des zwischen 2010 und 2012 durchgeführten Forschungsprojekts KoSiPol (Kooperative Sicherheitspolitik in der Stadt), das für diese Arbeit als „thematischer Impulsgeber“ gedient habe (S. 33). Die Untersuchung fragt mit einem Methodenmix, der auch leitfadengestützte Interviews umfasst, „wie sich Sicherheitsdienstleister gegenüber anderen, konkurrierenden Berufsgruppen wie der Polizei zu etablieren suchen und welche Rolle dabei deren Kunden bzw. Auftraggeber spielen“ (S. 24). Mit dem Soziologen Andrew Abbot wird die Sicherheitswirtschaft einer professionssoziologischen Analyse unterzogen, obwohl sie „keine klassische Profession darstellt“ (S. 31), sowie „mittels zentraler Konzepte des Neo-Institutionalismus“ als Organisation in den Blick genommen, „ohne sie mit dem Konzept der Organisation gleichsetzen zu wollen“ (S. 60). Schließlich teilt die Autorin einleitend mit, sie wisse schon irgendwie, es gehe im Sicherheitsgewerbe um Gewinnerzielung, aber „da das Adjektiv ‚kommerziell’ eine normative Komponente bzw. Bewertung enthält“, gilt es ihr als „wenig zielführend“ (S. 46); außerdem heiße die juristische Regulierung der Branche ja auch Gewerbeordnung. Nach einer solchen Logik verkauft Edeka Gefühle und Erotika („Wir lieben Lebensmittel!“) und ein Wach- und Sicherheitsunternehmen gründet sich mit dem Ziel, Rechtsfrieden (und nicht etwa Profit) zu generieren. Was sonst „wenig zielführend“ ist, bleibt im Dunkeln. Jedenfalls, nach rund 200 Seiten altbekannter Phänomenbeschreibungen (S. 255): „Es kann sich die Sicherheitswirtschaft nur so weit etablieren, legitimieren und professionalisieren“, wie dies die „Anspruchsgruppe“ (die Kunden) und das „organisationale Feld“ (Gesetzgeber, BürgerInnen, Institutionen etc.) zulassen: „Und das ist unter den aufgezeigten Bedingungen wohl auch zu befürworten“. Mag sein, nur hat es dafür nicht wieder so ein Produkt aus dem Hause KoSiPol gebraucht. (Volker Eick)

Redaktionskollektiv (Hrsg.): Wege durch den Knast. Alltag. Krankheit. Rechtsstreit, Berlin (Assoziation A) 2017 (2. Aufl.), 680 S., 19.90 EUR, vollständig unter: www.wegedurchdenknast.de, für Gefangene kostenlos über den Verlag bestellbar

In der zweiten Auflage ist der umstrittene Ratgeber für Gefangene „Wege durch den Knast“ erschienen – und mittlerweile in 24 Justizvollzugsan­stalten verboten. Das OLG Nürnberg hat nun das Verbot erneut bekräftigt. In seinem Beschluss vom 9. März 2017 heißt es: Textstellen des Ratgebers „weisen eine nach Inhalt und Zielsetzung negative, gegen den Behandlungsauftrag gerichtete, die Sicherheit und Ordnung gefährdende Tendenz aus, da sie geeignet sind, bei den Gefangenen eine massive Oppositionshaltung gegenüber dem Vollzug und den Bediensteten der Anstalt hervorzurufen oder zu verstärken.“

Das Buch ist unter Mitwirkung von Gefangenen, Ex-Gefangenen, PflegerInnen, AnwältInnen und ÄrztInnen entstanden. Es will den Gefangenen den Knastalltag erleichtern und ihnen ein Stück weit Handlungsfähigkeit zurückgeben. In unkomplizierter und gut lesbarer Sprache werden die drei großen Themen Alltag, Gesundheit und Recht behandelt, wobei keine Themen ausgespart werden. Dabei geht es dem Redaktionskollektiv vor allem um die „Wissensweitergabe an Neuzugänge“, wie es in der Einleitung formuliert wird, wobei ein Großteil des Buches – vor allem die ersten Kapitel – aus Erfahrungsberichten von Gefangenen selbst besteht.

Besonders hervorgehoben wird die Situation von Frauen im Strafvollzug, ein in der öffentlichen Diskussion unterbelichtetes Thema. Frauen machen nur etwa fünf Prozent an der gesamten Gefängnispopulation aus, was mit besonderen Nachteilen verbunden ist, da auf ihre Bedürfnisse noch weniger eingegangen wird. Auch die besonderen rechtlichen Probleme von Gefangenen ohne deutschen Pass werden aufgegriffen, wobei es für diese allerdings auf Grund sprachlicher Barrieren schwierig sein könnte, von dem Buch direkt zu profitieren.

Schwer getan hat sich die Redaktion mit dem Kapitel über „Sexualität“ im Gefängnis, sich aber letztlich für die Aufnahme entschieden. Oft wird neben der Freiheitsbeschränkung, dem Mangel an „geistiger Fortbildung“ und physischer Betätigung, die sexuelle Deprivation von Gefangenen vernachlässigt.

Die abolitionistische Haltung der AutorInnen tritt deutlich zu Tage, insbesondere ist ein Unterkapitel dem Hungerstreik gewidmet. Nach eigener Aussage des Redaktionskollektivs im Vorwort gehe es ihnen um „Kämpfe gegen den Knast und den gefängnisindustriellen Komplex“. Im Vordergrund des gesamten Werkes steht aber die rechtliche und gesundheitliche Beratung sowie das Teilen und die Weitergabe von spezifischem Wissen und Erfahrungen.

„Wege durch den Knast“ ist mehr als nur ein Ratgeber für Gefangene, sondern darüber hinaus für alle interessant, die sich für Gefängnisstrukturen und Knastalltag interessieren. Dabei kann er – trotz seines Umfangs – als Ganzes gelesen oder einfach nur als „Nachschlagewerk“ im Regal stehen, denn obwohl er keine juristische Fachliteratur ist, ist er gründlich recherchiert und mit Sachkunde geschrieben. Vor allem aber gibt er Raum für die Perspektive der Gefangenen, die sonst nur selten gehört wird! (Louisa Zech)

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