Rassistische Razzien – Wie Neuköllner Null-Toleranz Verdrängung fördert

von Melly Amira und Jorinde Schulz

Der aus rechter Ecke lancierte politische Kampfbegriff der „Clankriminalität“ befeuert eine rassistische Debatte, die rabiate und schikanöse Kontrolleinsätze von Polizei und anderen Behörden legitimiert. Für die Betroffenen hat das weitreichende Konsequenzen – ein Bericht aus Neukölln.

1: Ich war an einem Freitagabend in einer „Club-Shishabar”. Hier gibt es am Wochenende DJs, es wird getrunken und auch getanzt. Das Hauptgeschäft findet, wie in einem regulären Club, am Wochenende statt. Die Stimmung war gut, bis auf einmal 70 bewaffnete Polizist*innen reinkamen – mit Maschinenpistolen und Hunden. Ich kannte den Chef gut, hatte selbst für ihn gearbeitet, deshalb war ich irritiert. Damals kannte ich das Konzept der „Verbundeinsätze” noch nicht. Für mich sah der Einsatz wie eine Durchsuchung bei Kriminellen aus. Hätte ich den Chef nicht gekannt, hätte ich dieses Bild von ihm und der Bar gehabt. Wir Gäste wurden drei Stunden lang im Laden festgehalten. Selbst aufzustehen, um auf die Toilette zu gehen, war verboten. Handynutzungen waren ebenfalls untersagt. So wurden nicht nur der Inhaber und die Mitarbeiter*innen, sondern auch die Gäste behelligt. Es war ebenfalls Presse vor Ort, und die Shishabar wurde am nächsten Tag in den Lokalmedien gezeigt. Wir waren nach diesem Erlebnis verängstigt und fühlten uns kriminalisiert. Sowohl ich als auch meine Freunde sind nach diesem Abend einige Wochen lang in keine Shishabar mehr gegangen, aus Angst, erneut so behandelt zu werden. Von Bekannten habe ich erfahren, dass es im Nachhinein viel Gerede gab, was die Gründe für die Razzia sein könnten. Den Wenigsten ist bekannt, was Verbundeinsätze sind. Bei 70 schwer bewaffneten Polizisten wird natürlich direkt von schlimmen Straftaten ausgegangen. Dabei wurden an diesem Abend hauptsächlich der Tabak und die Lüftung kontrolliert. Mein ehemaliger Chef berichtete mir später, dass danach viele Stammgäste wegblieben.

2: Einige Mannschaftswagen fahren vor eine Shishabar. Die Beamt*innen stürmen den Laden. Dessen Betreiber fragt sie nach dem Grund des Einsatzes. Der Einsatzleiter antwortet, die Bar befinde sich in einem kriminellen Gebiet. Die Polizei habe daher das Recht, in dieser Weise vorzugehen und jede*n im Laden zu kontrollieren. Dann fordert er den Betreiber auf, sich hinzusetzen und nicht zu bewegen. Hinter ihm stehen 20 Polizist*innen mit der Hand an der Waffe. Aufgebracht verlässt der Betreiber den Laden: Sie sollen doch machen, was sie wollen.

Draußen trifft er auf einige Bekannte, denen die Polizei den Eintritt in den Laden verwehrt hat. Er geht wieder rein, um das zu beanstanden. „Das wird heute nichts mehr“, bekommt er vom Einsatzleiter zu hören, der ihm außerdem mitteilt, er würde den Laden dichtmachen: „wegen der Kohlenmonoxidwerte“. Eine darauffolgende Messung ergibt jedoch, dass die Werte in Ordnung sind. Auch zunächst triumphierend präsentierter Shishatabak erweist sich für die Polizei als Niete: Der Tabak ist versteuert. Schließlich geht die Polizei wieder. Die Beamt*innen nehmen allerdings den Kohlegrill mit. Dieser sei „nicht geeignet“, da er „Kohle aus Palmblättern“ verwende.

Das Ordnungsamt hat bereits in den vorherigen Jahren diesen Laden besucht. 2015 waren bloß zwei Polizist*innen dabei, der Mann vom Ordnungsamt trat ruhig und höflich auf und beanstandete nur Kleinigkeiten. 2017 kam das Ordnungsamt in Begleitung von zwei Mannschaftswagen, die Polizei mischte sich aber nicht in die Kontrolle ein. Der Betrieb des Ladens wurde bei der Kontrolle nicht unterbrochen.

Zwei Monate später, an einem Freitag, kommt die Polizei ohne das Ordnungsamt vorbei. Es sind dieselben Beamt*innen wie beim vorherigen Einsatz. Sie rennen mit Waffen in den Laden. Ihr Eindringen ist so bedrohlich, dass sich einige der Gäste mit den Armen über dem Kopf auf den Boden legen. Ein Gast, der einen Witz macht, wird im drohenden Tonfall zurechtgewiesen: „Spielen Sie hier nicht den Clown“. Ein Polizist geht mit einem Kohlenmonoxid-Messgerät durch alle Räume der Shishabar. Aber selbst im hinteren Raum, wo die Kohle vorbereitet wird, sind die Messwerte in Ordnung. Daraufhin nimmt der Beamte das Messgerät, hält es direkt in die glühende Kohle und ruft: „Vergiftungsgefahr! Alle sofort raus hier!“ Danach schließt und versiegelt die Polizei den Laden. Für das Wochenende ist das Geschäft vorbei.

Nachfolgend erkundigt sich der Betreiber beim Ordnungsamt. Niemand kann ihm beantworten, warum sein Laden versiegelt wurde. Angeblich liegt die betreffende Akte bei der Polizei. Ein Anruf dort bleibt ebenfalls ergebnislos. Erst am Montag darauf erhält er einen Anruf der Polizei: „Wir kommen jetzt ihr Café entsiegeln“. Zu dem Zeitpunkt ist der Laden neun Tage ohne Angabe von Gründen behördlich geschlossen. Der Betreiber entscheidet sich, nichts weiter zu unternehmen. Er fürchtet weitere Schikane.

„1.000 Nadelstiche“. „Schwerpunktkontrollen.“ „Verbundeinsätze“. Seit einigen Jahren gelten diese rabiaten und öffentlichkeitswirksamen Kontrollen von Verwaltungsvorschriften als innovative Waffe im Kampf gegen die „Clankriminalität“. Die zwei geschilderten, razzienartigen Ein­sätze stehen beispielhaft für die Berliner Version dieser bundesweiten Law-and-Order-Strategie. Die eine Darstellung ist eine eigene Erfahrung, die andere beruht auf einem Gespräch mit einem Ladenbetreiber, das wir protokolliert haben. Wir haben viele ähnliche Berichte gehört. Die Betroffenen berichteten uns vom aggressiven Vorgehen der Behörden, von einschüchternden Methoden wie gezogenen Waffen oder in Läden hineinstürmenden Polizeibeamt*innen, von widersprüchlichen Anweisungen, von Schließungen unter Vorwand, von umfassenden Personenkontrollen.

Die Innenperspektive der Razzien, die seit einigen Jahren in Neukölln und anderen migrantisch geprägten Stadtteilen stattfinden, taucht in der medialen Berichterstattung selten auf. Hier dominieren die von der Polizei als Erfolgsbeweise vorgelegten Listen der festgestellten Vergehen. Überwiegend sind es Bagatelldelikte. Das Spektrum reicht von Verstößen gegen das Jugendschutzgesetz oder die Pfandverordnung, über fehlende Meisterbriefe, unversteuerten Shishatabak, bis hin zu kleineren Drogen- oder Waffenfunden, vollstreckten Haftbefehlen oder auch arbeitsrechtlichen Beanstandungen.[1] Trotz der mauen Ergebnisse werden die Einsätze pompös als „Razzien gegen Clankriminalität“ bezeichnet. Sie gelten offiziell als Teil des Kampfs gegen das organisierte Verbrechen. Tatsächlich handelt es sich bei vielen der Razzien um anlasslose Gewerbekontrollen, bei denen die Polizei lediglich das Ordnungsamt unterstützt. Die Krux dabei: Während die Polizei im rechtsstaatlichen Normalfall für die Durchsuchung von Gewerberäumen einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss braucht, kann sie dies als assistierende Behörde auch ohne – und damit auch ohne Anfangsverdacht auf Straftaten. Das Konstrukt der Verbundeinsätze dient der Polizei als Türöffner in unliebsame Milieus, wie es ein Berliner Polizist auch ganz offen formuliert hat: Die Polizei habe ja sonst keine Möglichkeit, anlasslos einschlägig bekannte Lokale zu kontrollieren.[2] Es ist eine Methode, um gezielt rechtsstaatliche Prinzipien und Schutzrechte vor staatlichen Eingriffen zu umgehen.

Stigma, Show, Schikane

Die Bezeichnung „Strategie der 1.000 Nadelstiche“ hat Nordrhein-Westfalens CDU-Innenminister Herbert Reul in Umlauf gebracht. Er war einer der ersten Politiker, der begann, sich mit der Clan-Debatte als starker Mann zu inszenieren. Den Charakter der Einsätze als Schikane-Instrument und staatliche Machtdemonstration gab er unverhohlen preis.[3] In Berlin ist es wohl Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD), der die meiste Prominenz als Clan-Bekämpfer für sich beansprucht – zum ständigen Ärger seines Bezirksamtskollegen Falko Liecke (CDU), der sich ebenfalls gerne als Bezirks-Sheriff inszeniert. Die Initiatorin der Razzien war jedoch Hikels SPD-Vorgängerin Franziska Giffey, die mittlerweile zur Berliner Bürgermeisterin aufgestiegen ist. 2017 rief sie eine „Null-Toleranz-Politik“ ins Leben, mit der die Praxis der Verbundeinsätze begann.[4]

1.000 Nadelstiche oder Null-Toleranz – die Bezeichnungen betonen zwei Aspekte des gleichen Prinzips. Erstens geht es nämlich um eine hohe Frequenz von Kontrollen, die auch und gerade auf kleinere Vergehen und Ordnungswidrigkeiten abzielen. In den anvisierten Stadtteilen bedeutet das einen zunehmenden Repressionsdruck auf der Straße, in Läden, Cafés und im Verkehr sowie ein aggressives behördliches Auftreten auch bei Kleinigkeiten. Das gilt nicht nur im Rahmen der vielbesprochenen Razzien, sondern auch bei begleitenden häufigen Verkehrskontrollen, die ebenfalls Teil des Ansatzes sind und gerne auch mal mit Maschinenpistole stattfinden.[5] Dabei wird zweitens in der ruppigen Art des Vorgehens bewusst nicht zwischen Bagatelldelikten und schweren Straftaten unterschieden („Null-Toleranz“: Alles soll geahndet werden), während eine hohe Zahl an Anzeigen Erfolg signalisieren soll.

Das vordergründige Versprechen der Null-Toleranz-Politik, kriminelle Strukturen, gar gefährliche Organisierte Kriminalität (OK) zu bekämpfen, erweist sich bei näherer Betrachtung als wenig plausibel. In Bezug auf die Kontrolleinsätze steht in Antworten auf parlamentarische Anfragen entweder deutlich, dass keine Anhaltspunkte auf OK vorliegen, oder die Polizei windet sich aus „ermittlungstaktischen Gründen“ um die Frage herum. In den Berliner Lageberichten zu Clankriminalität dominieren bei den der „Clankriminalität“ zugeordneten Straftaten insgesamt Verkehrsstraftaten, die 2020 und 2021 jeweils knapp 14 beziehungsweise 15 Prozent aller Delikte ausmachen, gefolgt von Betäubungsmittel- und Rohheitsdelikten sowie Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz.[6] Bei den gesondert aufgeführten Statistiken der Kontrolleinsätze machen Verkehrsordnungswidrigkeiten den Löwenanteil aus.

Trotzdem wird der Zusammenhang von Kontrolleinsätzen und organisierter Kriminalität von den verantwortlichen Politiker*innen immer wieder aufs Neue hergestellt: „Wir gehen in die einschlägigen Bars, ob es Shisha-Bars, ob es Cafés sind, ob es Restaurants, ob es Wettbüros sind und bei denen wir davon ausgehen, dass dort kriminelle Aktivitäten stattfinden.“ Wir wissen, „dass sich viele Teile der Organisierten Kriminalität, insbesondere der Clankriminalität, dort treffen, um die nächsten – nennen wir es mal – Einsätze oder Straftaten, zu planen“, so formulierte es Martin Hikel 2018.[7] Seitdem sind unzählige Einsatzstunden in Kontrolleinsätze „gegen die Clankriminalität“ geflossen. 2019, das intensivste Jahr, sah 382 Einsätze, davon 104 Verbundeinsätze. 2020, während der Pandemie, ging die Zahl auf 240 zurück, 2021 waren es noch 178 mit 71 Verbundeinsätzen in beiden Jahren.[8] Dabei hat Hikels Parteikollege, der SPD-Hardliner Tom Schreiber, bereits anderthalb Jahre zuvor auf seine parlamentarische Anfrage mit dem suggestiven Titel „Organisierte Kriminalität in Berlin – Shisha-Bars nur zum Schein?“[9] nach den Verbindungen von Shishabars und OK eine eindeutige Antwort erhalten: „In Ermittlungsverfahren bzw. -komplexen des Landeskriminalamtes wegen des Verdachts der Geldwäsche spielten Shisha-Bars bisher keine Rolle.“ Und: „Es liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass konkrete Bezüge zwischen Shisha-Bars und der Organisierten Kriminalität (OK) bestehen.“

Kriegszug gegen städtische Unordnung

Die Rede von der Null-Toleranz bezieht sich auf das zero tolerance policing, einer massiven Aufrüstung städtischer Polizeiarbeit und Ordnungspolitik Mitte der 1990er Jahre unter New Yorks republikanischen Bürgermeister Rudy Giuliani. Ausgehend von der bis heute unbewiesenen „broken windows theory“ der konservativen Sozialwissenschaftler Wilson und Kelling aus dem Jahr 1982 ist die zentrale These der zero tolerance, dass schon ein minimal „unordentliches“ urbanes Erscheinungsbild zwangsläufig zu allgemeiner Verwahrlosung und Kriminalität führt. Zu bekämpfende Unordnung und Delinquenz werden dabei mit armutsbetroffenen und rassifizierten Gruppen assoziiert, während das Kontrastbild von Anstand, Höflichkeit und Ordnung den Idealen einer weißen Mittelschicht angeglichen wird.[10] Auch Giffey knüpfte mit ihrer null-toleranten Kriminalitätsbekämpfung an ein punitives staatliches Vorgehen gegen die Vermüllung des öffentlichen Raums und gegen durch Obdachlosigkeit verursachte „Unordnung“ an.[11]

Die New Yorker Null-Toleranz-Politik erweiterte die Befugnisse der Polizei zur Durchsuchung, Verhaftung und zum Verhören von Personen aufgrund von Bagatelldelikten stark. Öffentliches Trinken und Urinieren, das Hören lauter Musik, Autorennen, Schnorren und Betteln standen nun im Fokus drastischer polizeilicher Maßnahmen.[12] Die Parallele zum Vorgehen bei den „Clan-Razzien“ ist offensichtlich. Auch hier reagieren Polizei und Behörden bei kleinen Vergehen mit unverhältnismäßiger Einschüchterung und Repression, wodurch die von den Kontrollen betroffenen Gruppen in der öffentlichen Wahrnehmung zu Schwerverbrecher*innen gemacht werden. Auch hier ist es ein zentrales Element, Recht jenseits des Strafrechts zu nutzen und verwaltungsrechtliche Kontrollen aufzumotzen.[13] Und auch hier gehörte zur Null-Toleranz die Inszenierung der „starken Männer“, die sich autoritär als städtische Aufräumer gerieren. Während die New Yorker Null-Toleranz vordergründig als Schutz vor dem Verfall der öffentlichen Ordnung legitimiert wurde, drückte einer ihrer ideologischen Architekten, der damalige stellvertretende Polizeichef Jack Maple, die Zielrichtung deutlicher aus: Natürlich gehe es nicht um Null-Toleranz gegenüber allen – sondern gegenüber bereits im Vorhinein als delinquent markierten Personen, um, in seinen Worten „die Kriminellen zu schnappen, wenn sie nicht im Dienst sind“.[14] Zu dieser Strategie gehörte der Aufbau von riesigen polizeilichen Datenbanken. Auch dieser Aspekt der sozialen Kontrolle findet sich bei den Verbundeinsätzen wieder, die in vielen Fällen mit der umfassenden Erfassung und Speicherung von Personendaten einhergehen. Während die Verwendung des Begriffs der Null-Toleranz also Gleichheit suggeriert, zielt sie vielmehr auf das Gegenteil ab: die gezielte Repression von Gruppen, die zuvor diskursiv kriminalisiert werden, und Verdrängung selbiger aus dem öffentlichen Raum. Giulianis Null-Toleranz-Strategie war auch der Startschuss einer massiven Inhaftierungswelle, welche die USA bis heute zum carceral state machen, der armutsbetroffene und rassifizierte Gruppen einfach wegsperrt.

Neukölln wehrt sich

Zur deutschen Neuauflage der Null-Toleranz-Politik gehört die in Hass und Absurditäten wohl schwer zu überbietende rassistische Kampagne dazu, welche die Zielschreibe des harten staatlichen Vorgehens definiert: die Debatte um die „Clankriminalität“. Das Schreckgespenst der „kriminellen arabischen Clans“ dient in diesem Zusammenhang dazu, soziale Räume, kulturelle Praktiken und Stadtteile migrantischer Communities – insbesondere arabisch-deutscher Prägung – in der weißen Dominanzgesellschaft so zu dämonisieren, dass ihre massive Repression normal, ja gar geboten scheint. Menschen, die sich in Shishabars oder arabischen Cafés aufhalten, die sich ihren Bart bei einem Neuköllner Barbier pflegen lassen, die eine Baklava-Bäckerei oder einen Späti betreiben, werden in der rassistischen Fantasie zu Vertreter*innen gefährlicher krimineller Organisationen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohen.

Gegen dieses Stigma regte sich Widerstand. Die Neuköllner Initiative „Kein Generalverdacht“ stellt sich seit 2019 gegründet der rassistischen Kriminalisierung von Neuköllner*innen entgegen. Als Protest gegen die öffentliche Vorführung der Doku „Mein Haus, mein Kiez, mein Clan: Wem gehört Neukölln?” des ZDF-Investigativformats „Frontal 21“ lud die Initiative zum Shishaflashmob ein. In der Doku inszeniert sich Martin Hikel als „Retter der Sonnenallee”, posiert in kugelsicherer Weste vor Shishabars und schürt damit die Fantasie des Großfamilien-Takeovers im Bezirk, während der damalige Jugendstadtrat Falko Liecke in seinem Auftritt populistisch fordert, „Clans” die Kinder zu entziehen. Trotz Eiseskälte und der damaligen relativen Unbekanntheit der neuen Initiative kamen ca. 150 Anwohner*innen, Shishabarbesitzer und –gäste zum Flashmob. Es herrschte Einigkeit, dass die Stigmatisierung und Kriminalisierung ein Problem für Neuköllner*innen sind. Seitens der für die Razzien verantwortlichen Politiker*innen und Medien wurde die Initiative allerdings immer wieder angegriffen: Man schütze Kriminelle und verweigere sich der Realität. Gleichzeitig gerieten neue Gewerbe in den Fokus der Stigmatisierung: nach den Shishabars sollten nun Barbershops Geldwäsche-Zentren sein. Auch Neuköllner Spätis, die bisher trotz Sonntagsöffnungsverbot weitgehend in Ruhe gelassen worden waren, standen zunehmend im Fokus rabiater Kontrollen.

Der Februar 2020 war ein Wendepunkt in der Auseinandersetzung um die rassistischen Razzien. Am 19. Februar 2020 kam es in Hanau zu einem furchtbaren rechten Anschlag. Der neonazistische Mörder tötete neun Menschen, unter anderem in zwei Shishabars und einem Kiosk. Obwohl das rassistische Motiv sich durch ein Bekennerstatement bestätigte, kursierten in rechten Medien rasch Berichte, welche die Morde „arabischen Clans“[15] oder einem „Bandenkrieg“ zuschrieben und in einer vom NSU-Komplex und anderen rassistischen Attentaten nur allzu bekannten Wendung die Opfer kriminalisierten. Doch es wurden auch andere Stimmen laut: Könnte die monatelange politische und mediale Hetze ein Grund dafür sein, dass sich der Täter die Shishabars ausgesucht hatte? Hatte die öffentliche Stigmatisierung von Gästen und Mitarbeiter*innen den Hass mitgeschürt, der sich nun in rassistischen Morden entlud? Durch den Druck und Aufschrei einer erstarkenden antirassistischen Bewegung begannen auch Medien zunehmend, mit Betroffenen der Razzien und Aktivist*innen zu sprechen, ihre Berichterstattung vorsichtiger zu gestalten, Shishabars nicht mehr als „Clan-Wohn­zimmer“, sondern auch als „Safespaces“ zu entdecken. Diejenigen politischen Verantwortlichen aber, die durch ihre Worte und Taten aktiv die Markierung von Shishabars und anderen migrantischen Räumen vorangetrieben hatten, weisen bis heute jede Schuld von sich und sind empört darüber, dass man sie mit den Hanau-Morden in Verbindung bringt.

Die Stigmatisierung Neuköllns im Rahmen der „Clan-Debatte“ wurde von Neuköllner stadtpolitischen Initiativen von Beginn an auch als Verdrängungsstrategie wahrgenommen. Bereits Giffeys Vorgänger Busch­kowsky hatte muslimische und migrantische Neuköllner*innen diffamiert, die Gentrifizierung des Stadtteils explizit befürwortet, rasante Mietsteigerungen durch kommunale Aufwertungsprogramme mit verursacht und die Verdrängung unerwünschter Bevölkerungsgruppen mit dem Label der „sozialen Durchmischung“ schöngeredet. Seit Beginn der „Clan-Razzien“ haben etliche Shishabars dauerhaft dichtgemacht. In diesem Zusammenhang ist es auffällig, wie viele der Kontrolleinsätze damit enden, dass Läden behördlich temporär geschlossen werden – mit herben Umsatzverlusten und Rufschädigungen als Folge. 2019 und 2020 traf dies jeweils 86 und 85 Läden, 2021 noch 47.[16] Die rassistischen Razzien erscheinen so als ein nächster Schritt einer innerstädtischen Säuberungsstrategie, welche diejenigen Bewohner*innen und Gewerbe vertreibt, deren Auszug die Voraussetzung eines beschleunigten Inwertsetzungsprozesses ist. Der Widerstand dagegen verbündete sich daher mit stadtpolitischen Initiativen, die ein Ende der Verdrängung fordern.

Nach wie vor steht der „Kampf gegen Clankriminalität“ auf der Agenda der Berliner Koalition. Doch die Rhetorik der Bezirkssheriffs scheint langsam zu ermüden. Währenddessen erstarkt der Widerstand, wie es ein gemeinsamer Brief von 25 betroffenen und solidarischen Neuköllner Läden an Bürgermeister und Innensenatorin zeigt, der fordert: „Wir wünschen uns ein anderes Vorgehen. Wir haben Verständnis dafür, dass Gewerbe kontrolliert und Regeln überprüft werden. Aber wir möchten nicht vorverurteilt und ohne Beweise als Kriminelle dargestellt werden. Wir erwarten, dass unsere Gäste von Polizei und Ordnungsbehörden wie alle anderen Menschen behandelt werden – mit Fairness und Respekt. […] Wir sind sicher, dass es möglich ist, Gewerbekontrollen verhältnismäßig, ohne Diskriminierung und ohne gezogene Waffen durchzuführen.“[17]

[1]   Abgeordnetenhaus Berlin Drs. 18/18996 v. 21.5.2019, 18/20912 v. 6.9.2019, 18/23809 v. 22.6.2020, 19/10124 v. 16.11.2021, 19/11121 v. 25.2.2022
[2]   „Lieber nicht in die Shisha-Bar“, in: Der Tagesspiegel online v. 13.10.2018
[3]   Reul (CDU) zu Clankriminalität: „Das ist ein frontaler Angriff auf das System“, Deutschlandfunk online v. 03.02.2019
[4]   „Was steckt hinter der neuen Härte gegen Clankriminalität in Neukölln?“, in: Welt online v. 16.10.2017
[5]   Abgeordnetenhaus Berlin Drs. 19/11121 v. 25.2.2022
[6]   Landeskriminalamt Berlin: Lagebilder Clankriminalität Berlin 2019, 2020, 2021
[7]   Abgeordnetenhaus Berlin, Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung: Wortprotokoll der Sitzung v. 24.9.2018
[8]   Landeskriminalamt Berlin, a.a.O. (Fn. 6)
[9]   Abgeordnetenhaus Berlin Drs. 18/10947 v. 30.3.2017
[10] Smith, N.: Global Social Cleansing: Postliberal Revanchism And the Export of Zero Tolerance, in: Social Justice 2001, H. 3, S. 68-74.
[11] vgl. Welt online a.a.O. (Fn 4)
[12] vgl. Smith a.a.O. (Fn. 10) und Giuliani R.W.: Police Strategy No. 5.: Reclaiming The Public Spaces of New York v. 6.4.1994
[13] vgl. Künkel, J.: Die Verschiebung lokaler Kräfteverhältnisse durch Politiktransferdiskurse, in: ACME 2018, H. 1, S. 17-48 und Feltes, T.; Rauls, F.: „Clankriminalität“ und die „German Angst“, in: Sozial Extra 2022, H. 2, S. 372–377.
[14] Belina, B.: Fighting Crime als Lebensaufgabe, Culture War und Kontrolle der Überflüssigen, in: Kritische Justiz 2003, H. 3, S. 342-354
[15] Hanau-Hammer: Türkische Zeugen entlasten Tobias R., sprechen von mehreren Tätern, Bandenkrieg!, compact v. 22.2.2020 und Hanau: Einige Migranten misstrauen der allgemeinen Berichterstattung, News 23 v. 23.2.2020
[16] Landeskriminalamt Berlin, a.a.O. (Fn. 6)
[17] „Stoppt die rassistischen Razzien in Neukölln!“, Nachrichten aus Nord-Neukölln v. 14.3.2022

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert