von Norbert Pütter
Mit dem Ende des Kalten Krieges verloren die (west-)deutschen Geheimdienste ihr zentrales Beobachtungsobjekt und damit ihre Legitimationsgrundlage. Die Krise währte nur kurz. Schnell fanden sich neue Aufgaben. Die Dienste wurden enger denn je mit anderen Sicherheitsbehörden „vernetzt“.
Jede Stufe auf dem Weg zu voller Souveränität, die der westdeutsche Teilstaat nach der Zerschlagung des Deutschen Reiches erreichte, markierte zugleich einen Schritt beim Auf- und Ausbau von Geheimdiensten: 1949 genehmigten die Alliierten „eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische … Tätigkeiten“ (= einen Inlandsnachrichtendienst, der den Namen „Verfassungsschutz“ erhielt); integriert in die Vorbereitungen zur „Wiederbewaffnung“ betrieb man seit 1951 den Aufbau eines militärischen Dienstes, der mit der Gründung der Bundeswehr 1956 zum „Militärischen Abschirmdienst“ (MAD) wurde; mit der durch den Deutschlandvertrag gestärkten Selbstständigkeit der Republik übernahm die Bundesregierung im selben Jahr von den USA die „Organisation Gehlen“, die seither als „Bundesnachrichtendienst“ (BND) die Auslandsspionage der BRD betreibt; 1968 erhielten die Dienste im Rahmen der Notstandsgesetzgebung Befugnisse zur Fernmeldeüberwachung, die die deutschen Behörden von alliierten Stellen unabhängig machen sollten; und nach 1990 ist das wiedervereinigte Deutschland bemüht, die letzten Folgen des verlorenen Krieges abzuschütteln und zu einem „normalen“ Staat zu werden, dessen geheimdienstliches Potenzial hinter dem anderer westlichen Demokratien nicht zurücksteht.
Die westdeutsche Ausgangsposition war weit von einer solchen Normalität entfernt. Wozu Geheimdienste fähig sind, hatte die Gestapo deutlich und nachhaltig abschreckend vor Augen geführt. Gleichzeitig bestand sowohl auf Seiten der Alliierten wie bei deutschen Politikern die Überzeugung, dass der entstehende demokratische Staat vor seinen Feinden geschützt werden müsse. Mit dieser zeitgenössisch populären „Lehre von Weimar“ – als sei die Republik an fehlenden staatlichen Instrumenten und nicht etwa mangelnder Demokratie und wirtschaftlich-politischen Problemen gescheitert – wurde die Vorstellung einer „wehrhaften“ Demokratie zum ideologischen Grundstein der neuen Dienste.[1]
Durch das „Trennungsgebot“, das die Alliierten Militärgouverneure zur Voraussetzung der Genehmigung des Grundgesetzes machten, sollten die politischen Gefahren eines deutschen Nachrichtendienstes entschärft werden. Eine Stelle zur Sammlung von Informationen einzurichten, wurde der Bundesregierung gestattet unter der Voraussetzung, dass diese keine polizeilichen Befugnisse besitzen dürfe. § 3 des 1950 verabschiedeten Verfassungsschutzgesetzes setzte diese Auflage in bundesdeutsches Recht um, indem er festlegte, dass dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) keine „polizeiliche(n) Befugnisse oder Kontrollbefugnisse“ zustehen und es einer polizeilichen Dienststelle nicht angegliedert werden darf.[2] Bereits in der Bezeichnung der deutschen Dienste soll dieses Trennungsgebot zum Ausdruck kommen. Die herrschende Lehre legt Wert darauf, dass Deutschland über „geheime Nachrichtendienste“ und nicht über „Geheimdienste“ verfüge, denn letztere könnten auch polizeiliche Befugnisse wahrnehmen und/oder Operationen jenseits der bloßen Informationsbeschaffung („covert action“) ausführen.[3] Dass die bundesdeutschen Dienste sich alleine mit der Sammlung und Aufbereitung von Informationen beschäftigten, muss freilich als einer ihrer langlebigen Legitimationsmythen betrachtet werden.
Drei Dienste – ein Feind
Zwar galten die Sorgen der ersten Verfassungsschützer anfangs auch den alten Nazis, die sich in der jungen BRD formierten, aber mit der Zuspitzung des Kalten Krieges gab es nur ein nennenswertes Beobachtungsobjekt: Das stand politisch links und geographisch östlich der Elbe. Unmittelbar nach Kriegsende hatte sich der Leiter der „Abteilung Fremde Heere Ost“ der Wehrmacht, Reinhard Gehlen, erfolgreich den Amerikanern angedient. Mit seinen Kenntnissen über und seinem Informantennetz in Osteuropa war Gehlens Organisation eine wichtige Quelle für die Amerikaner. Bis 1955 wurde die Organisation von der US-Army bzw. der CIA finanziert. Dass sie von ehemaligen Nazis durchsetzt war, störte nicht. Der Anti-Kommunismus beider Seiten bildete die ideologische Grundlage der Zusammenarbeit.[4]
Im Innern richteten die Ämter für Verfassungsschutz – das Bundesgesetz von 1950 hatte den Ländern die Einrichtung entsprechender Stellen zur Pflicht gemacht – ihre Aufmerksamkeit auf alle, die im Verdacht standen, Moskaus „5. Kolonne“ zu bilden: die frühe Friedensbewegung, die Kampagne gegen die Wiederbewaffnung, die KPD und nach ihrem Verbot 1956 all jene, die verdächtigt wurden, die Partei weiter zu führen.[5] Dass der „Feind links steht“, bestimmte die Blickrichtung der deutschen Verfassungsschutzämter bis zum Ende der alten BRD. Als die Ministerpräsidenten 1972 die Regelanfrage für BewerberInnen in den öffentlichen Dienst einführten, galt auch dies den Linken, die vom „Marsch durch die Institutionen“ abgehalten werden sollten. Noch in den 80ern waren die Ämter mit der Ausforschung von Wohngemeinschaften und Bürgerinitiativen, mit der Überwachung der Grünen und selbst von Teilen der SPD beschäftigt.[6] Erst der massiv und gewaltsam in Erscheinung tretende Rechtsextremismus Anfang der 90er Jahre zwang die Ämter, ihre einseitige Kalte Kriegs-Fixierung aufzugeben – ohne allerdings auf liebgewordene Beobachtungsobjekte zu verzichten: Dazu gehören nach wie vor die diversen kommunistischen Kleinstparteien und natürlich auch die „neuen“ sozialen Bewegungen. Die Infiltration des Berliner Socialforums durch V-Leute oder die jahrelange Überwachung des Bürgerrechtlers Rolf Gössner sind nur zwei Beispiele unter vielen.[7] Mit dem neuen Terrorismus hat schließlich auch der dritte Beobachtungsbereich, die seit 1972 gesetzlich legalisierte Überwachung extremistischer Ausländer(gruppen), durch die „islamistisch-terroristische Bestrebungen“ einen erheblichen Aufschwung erlebt.
Verglichen mit den beiden anderen Diensten hat der MAD bis heute ein Schattendasein geführt.[8] Abgesehen von einigen Skandalen ist dieser spezielle „Verfassungsschutz“ im Zuständigkeitsbereich des Bundesverteidigungsministeriums öffentlich nur selten in Erscheinung getreten. Als geheimdienstlicher Teil der Bundeswehr genießt er quasi doppelte Geheimhaltung. Angesichts der politischen Situation in der Bundesrepublik kann man aber vermuten, dass seine wichtigste Tätigkeit darin bestand, die Bundeswehr vor der Infiltration von links zu schützen.
Notwendigkeit und Erfolge
Kaum eine Überzeugung findet im sicherheitspolitischen Diskurs der neuen Bundesrepublik so viel Zustimmung wie die, dass jeder Staat, mithin auch Deutschland, geheimer Nachrichtendienste bedürfe. Angesichts der über 50-jährigen Geschichte „unserer“ Dienste ist dieser Konsens mehr als überraschend. Dass er sich auf nachgewiesene Leistungen der drei Apparate stützt, ist unwahrscheinlich. Selbst wenn man die vielen Skandale für einen Moment nicht in Rechnung stellt, bleibt die Erfolgsgeschichte der Dienste dürftig:
Bis zum Fall der Mauer waren die DDR und Osteuropa das zentrale Überwachungsobjekt des BND. Der Dienst sollte die Bundesregierung frühzeitig über Entwicklungen im Osten unterrichten, um ihr überlegtes Handeln zu ermöglichen. Nach dem Ende der DDR wäre eine gute Gelegenheit gewesen, die eigenen Erfolge offenzulegen. Aber bis heute sucht man vergeblich nach Belegen, dass der BND den Bau der Mauer (1961) oder deren Fall (1989) vorausgesagt hätte. Der Dienst war über die sowjetische Invasion in Afghanistan (1979) ebenso überrascht wie über Verhängung des Kriegsrechts in Polen (1981) oder den Putschversuch gegen Gorbatschow (1991).[9] Auch dass eine Reihe von RAF-Mitgliedern in der DDR untergetaucht war, blieb dem BND verborgen.
In der internationalen Geheimdienstgeschichte mag es Beispiele dafür geben, dass das Wissen der Dienste ihre Regierungen zu besonneneren Entscheidungen befähigte.[10] Für die Bundesrepublik jedoch steht dieser Beweis aus. Ob Deutschland an Souveränität oder internationaler Handlungsfähigkeit verloren hätte, wenn es keinen Auslandsgeheimdienst gehabt hätte, muss daher eher bezweifelt werden.
Die geheime Natur ihres Wirkens erlaubt auch den Ämtern für Verfassungsschutz keine öffentliche Erfolgsbilanz. Legt man für einen Moment den immanenten Maßstab der „wehrhaften Demokratie“ an, so verblassen die Erfolge bei zentralen Entscheidungen schnell. 1956 wurde die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) maßgeblich aufgrund der Verfassungsschutz-Erkenntnisse verboten. Die KPD war zu diesem Zeitpunkt eine politische wirkungslose Kleinpartei geworden (bei der Bundestagswahl 1953 hatte sie noch 2,2 Prozent der Stimmen erhalten), deren Existenz die Bundesrepublik in keiner Weise mehr gefährden konnte.[11] Das Verbot führte zu weiterer nachrichtendienstlicher Überwachung, zum Ausbau des polizeilichen Staatsschutzes und entsprechender Strafverfahren.[12] Zwölf Jahre später wurde eine Nachfolgeorganisation als „Deutsche Kommunistische Partei“ von Staats wegen toleriert, um sich der Folgeprobleme des KPD-Verbots zu entledigen.[13]
Dank der deutschen Verfassungsschutzämter ist dieses Schicksal der NPD erspart geblieben. Der Verbotsantrag von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat scheiterte 2003, nachdem sich die Innenministerien geweigert hatten, dem Bundesverfassungsgericht Auskunft über das Ausmaß der Infiltration der Partei mit V-Leuten der Ämter zu geben.[14] Weil die Dienstherren die Funktionsfähigkeit ihrer Ämter in Gefahr sahen, scheiterte das Verfahren, da das Gericht sich nicht in der Lage sah zu unterscheiden, welche der vorgelegten Beweismittel sich auf „originäre“ NPD-Funktionäre und welche sich auf staatlich bezahlte Spitzel bezogen. Derart hat das Instrumentarium der „wehrhaften Demokratie“ selbst zu deren Wehrlosigkeit geführt. (Was aus demokratischer Sicht durchaus verschmerzt werden kann. Denn rechtsextreme Einstellungen, Handlungen und Zusammenschlüsse wären durch das Verbot der Partei nicht unterbunden worden – ganz zu schweigen von den gesellschaftlichen Ursachen des Rechtsextremismus.)
Die Inlandsdienste sollen der offiziellen Lesart zufolge ein „Frühwarnsystem“ sein, durch das verfassungsgefährdende Bestrebungen frühzeitig aufgedeckt werden. Die Ämter sollen das Dunkelfeld erhellen, damit die Instrumente der „wehrhaften Demokratie“ (Parteienverbot, Entzug von Grundrechten etc.) eingesetzt und/oder die Akteure strafrechtlich verfolgt werden können. Die einschlägigen Staatsschutzstatistiken, die Delikte von der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats über Spionage bis zur terroristischen Vereinigung umfassen, zeigen jedoch, dass die Bedeutung der Nachrichtendienste für die Einleitung von Strafverfahren äußerst gering ist. Zwischen 1974 und 1985 wurden – mit absteigender Tendenz – zwischen 2,6 und 0,2% aller Staatsschutz-Ermittlungsverfahren aufgrund nachrichtendienstlicher Hinweise eingeleitet.[15]
Bloße „Informationsbeschaffung“?
Zentrales Element des Selbstbildes deutscher Nachrichtendienste ist die Behauptung, sie seien keine Geheimdienste, sondern betrieben allein die Sammlung, Aufbereitung und Verbreitung von Informationen. Diese Stilisierung ist aus einem doppelten Grunde falsch: Erstens, das zeigt sich am Beispiel der NPD-Infiltration, werden Methoden der Informationsgewinnung praktiziert, die nicht in bloßem Abschöpfen bestehen (wie etwa das heimliche Abhören eines Gesprächs zweier Personen durch eine dritte), sondern bei denen die Dienste die Information selbst (mit-) produzieren. Am Agent provocateur, dem staatlich bezahlten und beauftragten Anstifter, wird dieses Problem besonders deutlich. Allein die bekannt gewordenen Fälle in allen Beobachtungsmilieus des Verfassungsschutzes sind Legion.[16] Die Ämter sind nicht nur Beobachter, sondern mittels Informanten, Spitzeln, V-Personen selbst Akteure. In einem für das Publikum unbestimmten Umfang produzieren sie das mit, was sie bloß zu beobachten vorgeben. Auch die passive Überwachung ist mehr als nur ein Aufnehmen von Informationen. Denn sie kann Verhalten der Gegenseite erst erzeugen, weil sie sich überwacht wähnt.
Zweitens haben die deutschen Dienste immer wieder mehr getan als nur mit Informationen zu handeln. Über Jahrzehnte hielt das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) eine Mordwaffe unter Verschluss. Das niedersächsische LfV ließ ein Loch in eine Gefängnismauer sprengen. Der BND versuchte, als landwirtschaftliche Güter deklarierte Waffen nach Israel zu liefern. Er vermittelte Waffengeschäfte nach Afrika, unterstützte die Geheimdienste von Syrien bis Südafrika, half bei dem von der CIA betriebenen Putsch gegen den kongolesischen Ministerpräsidenten Partrice Lumumba (1961) etc.[17]
Nimmt man das bekanntgewordene Handlungsprofil der Dienste insgesamt, so entsteht der Eindruck, dass sie sich vor allem mit sich selbst und den von ihnen geschaffenen Problemen beschäftigen: Das Feld der Spionage stellt sich als ein undurchsichtiger Abenteuerspielplatz dar, auf dem Operationen und Gegenoperationen, Doppelagenten und Überläufer, Information und Desinformation zu mitunter tödlichen Folgen für die Beteiligten führen. Im Geschäft der Staaten untereinander sind die Dienste ein Instrument verdeckter Außenpolitik im Graubereich zwischen regierungsamtlichem Auftrag und Verselbstständigung, dessen Ressourcen zum Großteil dafür verwendet werden, fremde Dienste abzuwehren oder zu unterwandern. Die Beziehungen zwischen den Staaten verschlechtern sie, statt sie zu verbessern. Für die Überwachung im Innern hängt die Existenzberechtigung der Ämter am „Verfassungsfeind“ – kein Wunder, dass ihm in allen Bereichen nachgespürt wird und seine Infiltration wichtiger ist als seine Neutralisierung (siehe NPD). Innenpolitisch befördern sie eine staatliche betriebene Kultur der Verdächtigung, Unterwanderung und Verrufserklärung, die den Grundprinzipien liberaler Demokratien widerspricht.
Neue Aufgaben
Die traditionelle Aufgabe der Dienste besteht im Schutz des Staates, in der deutschen Version: im Schutz der Verfassung. Der BND soll mittels Informationssammlung und -auswertung „Erkenntnisse über das Ausland“ gewinnen, „die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind.“[18] Nach der ursprünglichen gesetzlichen Formulierung sollte das BfV Informationen über „Bestrebungen“ sammeln, „die eine Aufhebung, Änderung oder Störung der verfassungsmäßigen Ordnung … oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitglieder verfassungsmäßiger Organe … zum Ziel haben.“[19] Diese Aufgabenbestimmung wurde 1972 in einer Änderung des Grundgesetzes (Art. 73 Nr. 10) und einer parallelen Novelle des Verfassungsschutzgesetzes reformuliert und erweitert. Im primären Staatsschutz wurde die bis heute gültige Formel vom Schutz der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ sowie „des Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes“ eingeführt. Die Erweiterung der Aufgaben war eine Form der nachholenden Verrechtlichung: Das BfV betrieb seit jeher Spionageabwehr und überwachte seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre die „sicherheitsgefährdenden Bestrebungen von Ausländern“.
Neben diesen drei primären Aufgaben wurden die Verfassungsschutzämter zur Mitwirkung bei Sicherheitsüberprüfungen von Personen verpflichtet, die Zugang zu geheimhaltungsbedürftigen Informationen haben oder die in „lebens- und verteidigungswichtigen Einrichtungen“ beschäftigt sind. Auch sollten die Ämter beim technischen Schutz von sensiblen Informationen mitwirken.
Erst in der Anti-Terrorgesetzgebung nach dem 11. September 2001 wurde der Aufgabenkatalog um die Beobachtung von Bestrebungen, die sich gegen „den Gedanken der Völkerverständigung …, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker, richten“ erweitert. Die eigentliche Vergrößerung ihres Tätigkeitsfeldes ergab sich daraus, dass die Dienste nun ermächtigt wurden, Informationen von Kredit- und Finanzinstituten, Post- und Telekommunikationsdienstleistern sowie von Luftfahrtunternehmen anzufordern.[20]
Bereits in den 90er Jahren hatte sich eine weitere Aufgabenentgrenzung in den LfV angekündigt. In diesem Jahrzehnt trat die (vermeintliche) Bedrohung durch „Organisierte Kriminalität“ (OK) in den Vordergrund öffentlicher Debatten. Da die Dienste ihr äußeres (Ostblock) und inneres (linke Revolutionäre) Betätigungsfeld verloren hatten, lag nichts näher, als ihnen Aufgaben in der Früherkennung von OK zuzuweisen. Zunächst in Bayern, dann in weiteren vier CDU-regierten Bundesländern wurden die Landesämter mit der OK-Beobachtung beauftragt. Begründet wurde das damit, dass die Dienste schon immer verdeckt Informationen erhoben hätten und daher über das nötige Know how verfügten, auch die klandestinen Strukturen der OK aufzudecken. So weit ersichtlich hat die Arbeit der Landesämter zu keiner nennenswerten Erhellung des OK-Umfeldes beigetragen. Neben den demokratisch-rechtsstaatlichen Problemen (s.u.), hat die neue Aufgabe in Sachsen zu einem veritablen Skandal geführt, der ein bezeichnendes Licht auf die Arbeitskultur des Landesamtes warf.[21]
Ob die verfassungsschützerische OK-Beobachtung durch die LfV irgendeine strafrechtliche oder polizeiliche Bedeutung hatte, ist unbekannt. Ein Beispiel: 2003/2004 „bearbeitete“ der thüringische Verfassungsschutz 38 „Fallkomplexe“. Anfang 2005 beschäftigte sich das LfV noch immer mit 19 dieser Fälle. Fünf Komplexe hatte es ans Landeskriminalamt abgegeben. Bei weiteren fünf handelte es sich nach LfV-Einschätzung nicht um OK, sondern um „gewöhnliche“ Kriminalität. Und in neun Verfahren waren die Ermittlungen eingestellt worden, weil sich der Verdacht auf strafbare Handlungen nicht hatte erhärten lassen.[22] Bedenkt man, dass 17 der 38 Fälle der Betäubungsmittelkriminalität galten, dann lassen diese Zahlen nur den Schluss zu, dass der thüringische Verfassungsschutz im weiten Feld allgemeiner Kriminalität „ermittelt“ und dabei offenkundig auch vagen Hinweisen nachgeht.
1994 wurde auch der BND mit der OK-Bekämpfung betraut. Ausgeweitet wurde dafür die „strategische Fernmeldeüberwachung“, die der Dienst seit 1968 betrieb. Dabei handelt es sich um die Überwachung des kompletten internationalen Fernmeldeverkehrs aus, nach oder über Deutschland. Diese Methode der vollständigen Überwachung war der behaupteten Bedrohungslage im Kalten Krieg geschuldet: Man hoffte so Hinweise auf einen möglicherweise bevorstehenden Angriff auf Deutschland zu erhalten. Es hätte nahegelegen, diese Totalüberwachung einzustellen, nachdem die Kriegsgefahr verschwunden war. Statt dessen dehnte der Gesetzgeber den Überwachungsbereich auf den illegalen Handel mit Waffen und kriegstauglichen Gütern (Proliferation), den internationalen Betäubungsmittelhandel sowie auf Geldfälschungen und Geldwäsche im Ausland aus. Das Ziel der Ausweitung war das gleiche wie im Falle der Verfassungsschutzämter: Hinweise auf verdeckte OK-Strukturen zu gewinnen, um polizeiliche Vorermittlungen oder strafrechtliche Ermittlungen anzustoßen. Auch für den BND ist jedoch nicht erkennbar, dass seine aus der strategischen Überwachung gewonnenen „Erkenntnisse“ positive Folgen für die Sicherheit in Deutschland gehabt hätten: Im Jahre 2007 sind in den Überwachungscomputern des BND 2.913.812 „Kommunikationen“ hängen geblieben, die sich für den Bereich „internationaler Terrorismus“ „qualifiziert“ haben, so die Wortwahl im Bericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste. Für den Bereich Proliferation waren es über 2.3 Mio. Selbst wenn man, wie der Bericht betont, annimmt, dass es sich bei 90 Prozent dieser Meldungen um Spam handelte, bleiben über eine halbe Million Nachrichten, die der BND zu prüfen hatte. Als „nachrichtendienstlich relevant“ wurden im Terrorismus vier, in der Proliferation 370 Meldungen bewertet. Nicht eine einzige wurde an die Strafverfolgungsorgane weitergeleitet.[23] Der gewaltige Überwachungsaufwand blieb in diesem Jahr strafrechtlich völlig folgenlos. Inwieweit die „nachrichtendienstlich relevanten“ Informationen keine Hinweise auf strafbare Handlungen enthielten, ob sie Einfluss auf Lagebilder und sonstige BND-Aktivitäten hatten oder ob sie an die Polizei im Rahmen vorbeugender Verbrechensbekämpfung weitergeben wurden, bleibt unbekannt.
Trennungsgebot – Zusammenarbeitsgebot
Die geheimen Nachrichtendienste von der Polizei zu trennen, galt den Alliierten als Mittel, eine neue „geheime Staatspolizei“ zu verhindern. In keinem Geheimdienstgesetz des Bundes oder der Länder seit 1950 fehlt die Bestimmung, dass der jeweilige Dienst keiner Polizeidienststelle angeschlossen werden darf. Und keines überträgt den Diensten polizeiliche Zwangsbefugnisse. Allerdings hat die Entwicklung der Sicherheitsapparate den ursprünglichen Sinn des Trennungsgebots in sein Gegenteil verkehrt. Gerade weil Dienste und Polizei getrennte Behörden seien, so die Argumentation, müssten sie umso enger zusammenarbeiten.[24]
Bereits in den Verhältnissen der alten Bundesrepublik wurde das Trennungsgebot nicht als ein Zusammenarbeitsverbot aufgefasst. Im Bereich des Staatsschutzes gab es seit den 50er Jahren Austausch- und Amtshilfebeziehungen zwischen Polizei und Nachrichtendiensten. Polizei und „Verfassungsschützer“ arbeiteten nicht nur beim Abhörfall Traube und beim „Celler Loch“ Hand in Hand; bei der Fahndung nach den Entführern von Hanns-Martin Schleyer half der MAD, bei einer großflächigen Observation in Baden leistete der BND dem Bundeskriminalamt technische Hilfe.[25] Neben den fallbezogenen Amtshilfen wurde schon früh dauerhaft kooperiert. Seit 1952 unterstützt der Bundesgrenzschutz (BGS) – die heutige Bundespolizei – das Bundesamt für Verfassungsschutz auf dem Gebiet der „Funktechnik“. Dabei wird nicht der inländische, durch Art. 10 GG geschützte Telefon- bzw. Funkverkehr überwacht und ausgewertet, sondern der internationale Kommunikationsverkehr, der von fremden Nachrichtendiensten oder „Beobachtungsobjekten“ des Bundesamtes betrieben wird. Dass diese Aufgabe nicht vom Verfassungsschutz, sondern von einer Polizeieinheit wahrgenommen wird, begründete die Bundesregierung mit praktischen Erwägungen: Da der BGS dieselbe Leistung auch für das Zollkriminalamt und das Bundeskriminalamt erbringe, sei der „flexible, bedarfsgerechte und effektive Einsatz von Personal und Geräten“ nicht zu gewährleisten, wenn die Überwachung auf einzelne Behörden aufgeteilt werde.[26]
1976 wurde durch die „Sonderanweisung über die Erfassung bestimmter Erkenntnisse bei der grenzpolizeilichen Kontrolle“ der BGS beauftragt, Informationen über Reisende an das BfV und den BND weiterzuleiten. Orientieren konnten sich die Polizisten an einer Liste mit 239 Organisationen und 287 Druckwerken, die als „linksextremistisch oder linksextremistisch beeinflusst“ galten. Nach ihrem Bekanntwerden wurde die Sonderanweisung suspendiert und ab 1981 durch entsprechende Dienstanweisungen ersetzt.[27] Alle drei Dienste können „Amtshilfeersuchen Grenze“ an die Bundespolizei richten; die zu erhebenden Informationen reichen von den Personalien der Reisenden über ihr Reiseziel bis hin zu Äußerungen oder Angaben über Mitreisende.[28]
Seit 1954 in den „Unkelner Richtlinien“, ab 1970 in „Zusammenarbeitsrichtlinien“ und ab 1990 in den Geheimdienstgesetzen wurde die Weitergabe von Informationen der Dienste an die Polizei normiert (§ 19 Abs. 1 VfS-G, § 9 Abs. 1 BND-G). Diese informationelle Zusammenarbeit war für Einzelfälle konzipiert, und sie war in das Ermessen der Dienste gestellt („darf“ Informationen weiterleiten).
Durch das „Gemeinsame-Dateien-Gesetz“ von 2006 wurde schließlich ein dauerhafter Informationsverbund Polizei-Nachrichtendienste für den Bereich der Terrorismusbekämpfung hergestellt. Das Gesetz schaffte sowohl die Grundlage für die von Polizeien, Diensten und Zoll gemeinsam zu nutzende Anti-Terror-Datei als auch für gemeinsame Projektdateien, in denen die Erkenntnisse aller Seiten projekt-, d.h. themen-, personen- oder objektbezogen zusammengeführt werden sollen.[29] Indirekt erhielt dadurch ebenfalls das 2004 eingerichtete „Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum“ eine nachträgliche Rechtsgrundlage. Es bildet den jüngsten Schritt der „Vernetzung“ der Sicherheitsapparate, in der die Strategie und die Praktiken der „Vorfeldermittlungen“ zu einem undurchschaubaren und unkontrollierbaren Geflecht zusammengeführt werden.[30]
Denn während sich die Nachrichtendienste zunehmend der Überwachung und Aufdeckung allgemeiner Kriminalität zuwandten, näherte sich das polizeiliche Handlungsprofil seit den 70er Jahren dem der Geheimdienste an: Der unaufhaltsame Anstieg der Telekommunikationsüberwachung, der systematische Einsatz von Verdeckten Ermittlern und V-Personen, die Professionalisierung im Bereich von Observationen und sonstiger geheimer technischer Überwachung haben die Polizeien mit einem erheblichen Repertoire ursprünglich nachrichtendienstlicher Instrumente ausgestattet. Dass Dienste und Polizeien systematisch zusammenarbeiten, ergab sich deshalb fast zwangsläufig aus den vorgängigen Entwicklungen, weil sie sich hinsichtlich „Beobachtungsobjekt“ (Kriminalität), strategischem Ansatz (Entdeckung im Vorfeld strafbarer Handlungen) und Instrumenten (verdeckte Methoden) immer weiter angleichen.
Rechtsstaatsfiktion
Die deutschen Dienste sind in die Rechtsordnung der Bundesrepublik integriert; das soll nach herrschender Lesart ihre demokratische Qualität garantieren. Allerdings war und ist die rechtliche Basis der drei Nachrichtendienste bis heute auf einem spärlichen Niveau geblieben. Während der Verfassungsschutz in Art. 73 Nr. 10 und Art. 87 Abs. 1 GG erwähnt wird, wurden und werden BND und MAD aus den Zuständigkeiten des Bundes für die Außen- und Verteidigungspolitik (Art. 73 Nr. 1 GG) hergeleitet. Bis 1990 arbeiteten beide ohne (einfach)gesetzliche Grundlage;[31] sie waren durch einen zunächst geheimen Beschluss des Bundeskabinetts (BND) bzw. einem Organisationserlass des Verteidigungsministers (MAD) eingerichtet worden. Erst 1990, sieben Jahre nach dem Volkszählungsurteil und 35 Jahre nach ihrer Gründung, wurde beiden Diensten endlich ein Gesetz unterlegt.
Das BfV besaß seit 1950 eine bescheidene gesetzliche Grundlage bestehend aus sechs Paragrafen. Diese beschränkten sich auf die Bestimmung der Aufgabe und die Wiederholung dessen, was im alliierten Polizeibrief formuliert worden war. Das Gesetz war ein Freibrief für exekutives Handeln und keineswegs deren Begrenzung. Das zeigte sich exemplarisch im Umgang mit dem Fernmeldegeheimnis. Obwohl Art. 10 GG bis 1968 unmissverständlich erklärte, dass das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis „unverletzlich“ sei, und ein Gesetz zu dessen Beschränkung nicht bestand, nutzte der Verfassungsschutz eine Klausel im Truppenvertrag, den die Bundesrepublik 1955 mit den Westalliierten geschlossen hatte, um über deren Amtshilfe Telefonanschlüsse im Inland überwachen zu können. Ein Gutachten im Auftrag des Bundesinnenministeriums ermittelte für die Jahre von 1956 bis 1963 mindestens 82 Abhörfälle.[32]
1972 wurde das Bundesverfassungsschutzgesetz novelliert. Erstmals wurde nun erwähnt, dass der Dienst „nachrichtendienstliche Mittel“ zur Wahrnehmung seiner Aufgaben einsetzen darf (§ 3 Abs. 3 i.d. Fassung von 1972). Bewusst verzichtete der Gesetzgeber darauf, genauer zu bestimmen, was unter diesen Mitteln zu verstehen sei. Diese Unbestimmtheit war kein Versehen, sondern bewusst gewollt, um die Flexibilität der Dienste zu gewährleisten. Sie ermöglichte, dass der niedersächsische Innenminister den inszenierten Bombenanschlag in Celle gerichtlich unwidersprochen als „nachrichtendienstliches Mittel“ rechtfertigen konnte.[33] Auch mit der großen Novellierung 1990 ist diese gewollte Unschärfe beibehalten worden; der Ausdruck „nachrichtendienstliche Mittel“ wurde durch „Methoden … der heimlichen Informationsbeschaffung“ ersetzt, die beispielhaft, aber nicht abschließend aufgezählt wurden (§ 8 Abs. 2 BVerfschG).[34] In der Verfügung über die Methoden liegt nach wie vor ein wichtiger Unterschied zu den Polizeien. Im Vergleich der beiden Rechtsmaterien zeichnet sich das Geheimdienstrecht durch ein erheblich größeres Maß an Unbestimmtheit aus, das den Diensten entsprechende Freiräume der Überwachung, Infiltration und Aktion erlaubt.
Einige Landesgesetzgeber nahmen in den vergangenen Jahren das aus Art. 20 GG hergeleitete Gebot der Normenklarheit ernster und legten abschließend fest, was unter „nachrichtendienstlichen Mitteln“ für ihr Landesamt zu verstehen sei. Nur dieser Umstand ermöglichte die Klage gegen die Online-Durchsuchung, die 2006 in das nordrhein-westfälische Verfassungsschutzgesetz aufgenommen worden war. Als Folge des Urteils[35] mussten die anderen Ämter diese Art der Überwachung – bis zur Novellierung ihrer jeweiligen Gesetze – einstellen.
Überhaupt waren die größten rechtsstaatlichen Fortschritte im Geheimdienstrecht das Verdienst der Verfassungsgerichte. Das gilt nicht erst seit dem Karlsruher Urteil zur Online-Durchsuchung. Mit dem Volkszählungsurteil[36] von 1983 sorgte das Bundesverfassungsgericht dafür, dass BND und MAD überhaupt eine gesetzliche Basis erhielten. 1998 beschränkte es die „strategische Fernmeldeüberwachung“ durch den BND. Und 2005 limitierte das sächsische Verfassungsgericht die OK-Überwachung des Landesamtes auf Fälle, die die Verfassung gefährden.[37] Freilich hat keines dieser Urteile dazu geführt, dass ein Dienst, eine Methode, eine Strategie nicht weiter betrieben wurde. Vielmehr haben die Gesetzgeber die Hinweise der Gerichte als Vorlage für die nächste Novellierung genutzt – immer bestrebt, bis an die Grenze des verfassungsgerichtlich Zulässigen zu gehen.
Neben den aufgeweichten rechtsstaatlichen Standards ist für die Wirkungen der Dienste von Bedeutung, dass sie im Unterschied zur Polizei nicht dem Legalitätsprinzip unterworfen sind. Die Polizeien können die „Pflicht zur Strafverfolgung“ zwar in einigen polizeilichen Bereichen zurückstellen, den Nachrichtendiensten bleibt es dagegen generell überlassen, ob, wann und in welcher Form sie Informationen über strafbare Handlungen an die Polizei weiterleiten. Da sie daran interessiert sind, ihre Zugänge in die Beobachtungsmilieus zu erhalten (insbesondere V-Personen nicht zu verlieren), erfolgt die Weitergabe von Erkenntnissen nach ihren jeweiligen Interessen – entweder gar nicht oder in gefilterter Form. Dass die Polizei gegen nachrichtendienstliche V-Personen ermittelt,[38] ist eine Folge der einseitigen Informationspolitik. Führen jedoch gefilterte Informationen über die Polizei zu Strafverfahren, so wird die Position der Verteidigung durch die verschleierte nachrichtendienstliche Ausgangsquelle verschlechtert.[39]
Kontrollillusion
Zur rechtsstaatlich-demokratischen Legitimation der deutschen Nachrichtendienste gehört die Behauptung, sie würden vorbildlich kontrolliert. In ihren Selbstdarstellungen zeichnen sie ein enges Kontrollnetz, das auf mehren Ebenen funktioniere: vom Parlament über Datenschutzbeauftragte und Gerichte bis hin zu den Medien und der Öffentlichkeit.[40]
Besondere Bedeutung kommt dabei der parlamentarischen Kontrolle zu, die auf der Ebene des Bundes für die drei Dienste, in den Ländern für die Verfassungsschutzämter existiert. Die parlamentarische Kontrolle soll einen Ausgleich dafür bieten, dass die Tätigkeit der Dienste wegen ihrer geheimen Natur nur schwer gerichtlicher und öffentlicher Kontrolle zugänglich ist. In mehreren Schritten ist das System der parlamentarischen Kontrolle im Bund ausgebaut worden. Aus dem 1956 ins Leben gerufenen rechtlosen „Parlamentarischen Vertrauensmännergremium“ wurde 1978 die „Parlamentarische Kontrollkommission“, die sich 1999 zum „Parlamentarischen Kontrollgremium“ mauserte. Auf der am Ende der letzten Legislaturperiode beschlossenen jüngsten Entwicklungsstufe wurde das Gremium nicht nur im Grundgesetz verankert (Art. 45d GG), sondern auch mit weiteren Befugnissen ausgestattet: Es kann nun die Herausgabe von Originalakten verlangen; seine Mitglieder dürfen sich durch Fraktionsmitarbeiter unterstützen lassen; mit Zwei-Drittel-Mehrheit kann es beschließen, dass von ihm in Auftrag gegebene Sachverständigenberichte dem Bundestag vorgelegt werden. Sofern das Gremium – ebenfalls mit Zwei-Drittel-Mehrheit – beschließt, einen Vorgang öffentlich zu bewerten, kann jedes Mitglied ein Sondervotum abgeben.[41] Die strikte Geheimhaltungspflicht bleibt bestehen, womit über die Zwei-Drittel-Mehrheit garantiert ist, dass staats- bzw. regierungsabträgliche Vorgänge auch weiterhin über diesen Weg nicht bekannt werden.
Als „schärfstes Schwert“ parlamentarischer Kontrolle gilt gemeinhin das Recht, parlamentarische Untersuchungsausschüsse einzurichten. Häufig ist davon in der Geschichte der Bundesrepublik Gebrauch gemacht worden.[42] In der abgelaufenen Legislaturperiode hat der BND-Untersuchungsausschuss diese Tradition fortgesetzt. Er sollte die Überwachung von Journalisten durch den BND, dessen Beteiligung an verschiedenen CIA-Operationen und seine Verwicklungen in den Irak-Krieg untersuchen. Jenseits der – begrenzten – Aufklärung in den Untersuchungskomplexen[43] sind zwei unmittelbare Folgen des Ausschusses von Bedeutung: Erstens haben die BND-Vorgänge zur gerade genannten Novellierung des Kontrollgremiums geführt. Denn zum Untersuchungsausschuss war es nur deshalb gekommen, weil die Informationspolitik der Regierung gegenüber dem Kontrollgremium selbst in den Augen regierungstreuer Parlamentarier unzureichend war. Da das Gremium aber gerade öffentlichkeitswirksame und unbequeme Untersuchungsausschüsse des Parlaments verhindern sollte, war die Ausweitung seiner Befugnisse naheliegend.
Zweitens veranlasste die restriktive Informationspolitik der Bundesregierung die Minderheit des Untersuchungsausschusses dazu, vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. Das Karlsruher Urteil stellte fest, die Regierung habe ihr Recht zu Aussageverweigerungen und zur Sperrung von Akten erheblich überzogen. Die Verweise auf den „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“, auf die Interessen anderer Staaten oder das Staatswohl seien zu „pauschal“, zu wenig „substantiiert“ und nicht „detailliert“ genug erfolgt.[44] Dass das Gericht im 60. Jahr des Grundgesetzes die Regierung darauf hinweisen musste, nicht sie allein, sondern auch das Parlament sei dem „Gemeinwohl“ verpflichtet, wirft ein bezeichnendes Licht auf das demokratische Selbstverständnis der Regierenden. Das Urteil hat die Kontrollmöglichkeiten des Parlaments gestärkt; einen Hinweis auf seine praktische Relevanz gab allerdings der Umstand, dass der Bundestagspräsident eine Sondersitzung des Untersuchungsausschusses ablehnte und ein neuer Ausschuss nicht zustande kam.[45] In jedem Fall werden zukünftige Auskunftsverweigerungen den Regierungen einen höheren sprachlichen Aufwand abverlangen.
Herrschaftsressource mit Potential
Aus der Geschichte der Dienste ließe sich leicht der Schluss ziehen, dass diese zur Verselbstständigung neigen, ihren politischen Auftrag eigenmächtig in bürokratisch-geheimdienstlicher Manier umdefinieren, eigenmächtig handeln, Feindbilder aufbauschen etc. Diese Feststellung ist nur der halbe Teil der Wahrheit. Denn die Dienste zeichnen sich gerade dadurch aus, dass an sie ein sehr großzügiger rechtsstaatlich-demokratischer Maßstab angelegt wird. Obgleich normativ auf den Schutz der Verfassung bzw. der Interessen der Bundesrepublik ausgerichtet, sind sie faktisch Instrumente der jeweiligen Regierungen. In einer Melange aus regierungsamtlichem Auftrag und eigenem Interesse betreiben sie eine Nebenaußenpolitik auf Gegenseitigkeit – mit den Mitteln klandestiner Informationsarbeit und illegalen Methoden. Im Inland hebeln sie den Schutz gegenüber anlassloser Ausforschung aus, entwerten jene Bestimmungen, die die BürgerInnen vor staatlichen Eingriffen schützen sollen, und schaffen ein Klima der Überwachung und Einschüchterung.
Systematisch hilft gegen den Geburtsfehler der Dienste nicht deren bessere Kontrolle, sondern nur deren Abschaffung. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre, ihre Vergangenheit – beginnend mit der Zeit vor 1989 – offenzulegen und den freien Zugang zu Akten und Daten sowohl für die Betroffenen als auch für Forschung und Medien zu eröffnen. Dann hätte das Land eine Chance, nicht nur mit dem Erbe der DDR-Staatssicherheit, sondern auch mit dem der drei westdeutschen Geheimdienste umgehen zu lernen.
Norbert Pütter ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Buschfort, W.: Geheime Hüter der Verfassung. Von der Düsseldorfer Informationsstelle zum Ersten Verfassungsschutz der Bundesrepublik (1947-1961), Paderborn 2004, S. 38 ff.
[2] s. Roewer, H.: Nachrichtendienstrecht der Bundesrepublik Deutschland, Köln u.a. 1987, S. 135 f. (Polizeibrief 135 f.) u. S. 7 f. (Gesetz von 1950)
[3] Ritter, F.: Die geheimen Nachrichtendienste, Heidelberg 1989, S. 14
[4] s. insgesamt: Reese, M.E.: Organisation Gehlen, Berlin 1992
[5] Brüneck, A.v.: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1968, Frankfurt/M. 1978, S. 217-221
[6] s. Beobachtungsobjekt Verfassungsfeind, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 28 (3/1987), S. 97-104
[7] socialforum berlin: Dokumentation der Überwachung des Berliner Sozialforums durch den Verfassungsschutz, Berlin 2007; Frankfurter Rundschau v. 19.11.2008
[8] s. Ritter a.a.O. (Fn. 3); S. 100-103; Gusy, Chr.: Der Militärische Abschirmdienst, in: Die Öffentliche Verwaltung 1983, H. 2, S. 60-66; zur jüngeren Entwicklung: Gose, S.: MAD: uniformierte Schnüffler ziehen ins Ausland, in: antimilitarismus-information 2002, H. 5, S. 5-11
[9] Schmidt-Eenboom, E.: Der BND. Schnüffler ohne Nase, Düsseldorf u.a. 1993, insbes. S. 74 ff. u. S. 290 ff.
[10] Krieger, W.; Weber. J.: Nutzen und Probleme der zeitgeschichtlichen Forschung über Nachrichtendienste, in: Dies. (Hg.): Spionage für den Frieden, München, Landesberg am Lech 1997, S. 9-22 (17 ff.)
[11] Bundesverfassungsgericht: KPD-Verbot. Urteil v. 17.8.1956, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 5, S. 89 ff.
[12] s. Wagner, P.: Ehemalige SS-Männer am „Schilderhäuschen der Demokratie“? Die Affäre um das Bundesamt für Verfassungsschutz 1963/64, in: Fürmetz, G.; Reinke, H.; Weinhauer, K. (Hg.): Nachkriegspolizei: Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945-1969, Hamburg 2001, S. 169-198 (170 f.)
[13] Mensing, W.: Wie wollen unsere Kommunisten wiederhaben …: demokratische Starthilfen für die Gründung der DKP, Zürich, Osnabrück 1989
[14] Bundesverfassungsgericht: Beschluss v. 18.3.2003 (www.bverg.de/entscheidungen/bs20 03318_2bvb000101.html). Die Innenministerien teilten dem Gericht lediglich mit, dass an drei Stichtagen zwischen April 1997 und April 2002, der Anteil der V-Personen an den Vorstandmitgliedern in NPD-Gremien unter 15 Prozent lag. Wegen der Personalfluktuation waren in dieser Zeit rund 500 NPD-Funktionäre in den Vorständen tätig, d.h. es waren etwas weniger als 75 V-Personen in den NPD-Vorständen aktiv, ebd., Rdnr. 32.
[15] Werkentin, F.: ‚Staatsschutz’ statistisch gesehen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 42 (2/1992), S. 47-51 (51)
[16] s. für den Bereich Rechtsextremismus nur beispielhaft die Fallschilderungen bei Gössner, R.: Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates, München 2003
[17] s. den Beitrag von O. Diederichs in diesem Heft; zum BND s. Schmidt-Eenboom a.a.O. (Fn. 9), S. 179-203 und: Ders.: Der Bundesnachrichtendienst. Stichworte zur geheimen Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, in: Archiv für Sicherheits- und Entwicklungspolitik 1994, August , S. 7-18
[18] so die Formulierung im BND-Gesetz (§ 1 Abs. 2) seit 1990, BGBl. I, S. 2979
[19] § 3 Abs. 1 des Verfassungsschutzgesetzes von 1950, s. Roewer a.a.O. (Fn. 2), S. 7
[20] Terrorismusbekämpfungsgesetz v. 9.1.2002, BGBl. I, S. 361 ff. Allerdings wurden diese Befugnisse bislang nur sprärlich genutzt: in sechs Jahren lediglich 56 Anfragen bei Banken und 137 an Telekommunikationsunternehmen durch die Dienste des Bundes, nur zwei an Luftfahrtunternehmen und keine an Postdienstleister, s. BT-Drs. 16/2550 v. 7.9.2006, 16/5982 v. 5.7.2007 und 11560 v. 5.1.2009
[21] Landtag Sachsen Drs. 4/15777 v. 19.6.2009. Die Vorgänge konnten u.a. wegen der Blockadehaltung der Staatsregierung nicht aufgeklärt werden. Für die Tätigkeit des Amtes bleibt jedoch die Bewertung der Ausschussmehrheit bedeutsam, dass sich dessen Arbeit mit Gerüchten und vagen Verdachtsmomenten zwingend aus dem Vorfeld-Auftrag des Amtes ergab, ebd., Bd. 1, S. 46.
[22] Seel, L.: Der Verfassungsschutz als neues Instrument im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität, in: der kriminalist 2005, H. 4, S. 172-174 (173)
[23] BT-Drs. 16/11559 v. 5.1.2009; in den zehn Jahren 1998-2007 erhielten die Strafverfolgungsbehörden insgesamt 71 Meldungen vom BND. Nur eine dieser Meldungen hat zur Einleitung eines Strafverfahrens geführt.
[24] z.B. Werthebach, E.: Die Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten bei der Terrorismusbekämpfung, in: der kriminalist 2003, H. 9, S. 326-329; Rupprecht, R.: Die Kunst, Aufgaben sinnvoll zu teilen. Zur Aufklärung von Strukturen Organisierter Kriminalität durch Nachrichtendienste, in: Kriminalistik 1993, H. 2, S. 131-136
[25] s. Gössner, R.: Polizei und Geheimdienste: Sicherheitspolitische „Wiedervereinigung“?, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 27 (2/1987), S. 38-62 (44 f.)
[26] Busch, H.: Horchposten Bundesgrenzschutz, in: Bürgerrechte & Polizei/CILP 47 (1/1994), S. 25-27; zur rechtlichen Rechtfertigung: Droste, B.: Handbuch des Verfassungsschutzrechts, Stuttgart u.a. 2007, S. 572-575
[27] Gössner a.a.O. (Fn. 25), S. 50 f.; Droste a.a.O. (Fn. 26), S. 480
[28] ebd., S. 482
[29] s. Busch, H.: Es wächst zusammen … Zum Gemeinsame-Dateien-Gesetz, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 85 (3/2006), S. 52-59
[30] s. Wörlein, J.: Unkontrollierbare Anziehungskraft, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 90 (2/2008), S. 50-61 (55-58)
[31] sieht man von den Befugnissen ab, die das G10-Gesetz 1968 auch für BND und MAD schuf
[32] Wagner a.a.O. (Fn. 12), S. 174 f. Auch der polizeiliche Staatsschutz praktizierte diesen offen die Verfassung brechenden Umweg, s. Foschepoth, J.: Postzensur und Telefonüberwachung in der Bundesrepublik Deutschland (1949-1968), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2009, H. 5, S. 413-426
[33] so CDU-Innenminister Wilfried Hasselmann nach Bekanntwerden der Inszenierung 1986, s. Frankfurter Rundschau v. 6.9.1986
[34] Droste a.a.O. (Fn. 26), S. 264 f.
[35] Bundesverfassungsgericht, Urteil v. 27.2.2008, www.bundesverfassungsgericht.de/ entscheidungen/rs20080227_1bvr037007.html
[36] Bundesverfassungsgericht, Urteil v. 15.12.1983, www.servat.unibe.ch/law/dfr/bv065 001.html
[37] Verfassungsgerichtshof des Freistaats Sachsen: Urteil v. 21.7.2005, www.justiz.sach sen.de/esaver/internet/2004_067_II/2004_067_II.pdf
[38] Vom Celler Loch, denn auch die niedersächsische Polizei war von der Inszenierung nicht informiert, bis zum Fall eines brandenburgischen Neonazis, s. Pütter, N.: Strafvereitelung im Amt, in: Müller-Heidelberg, Till u.a. (Hg.): Grundrechte-Report 2006, Frankfurt am Main 2006, S. 158-162
[39] s. das Interview mit Rechtsanwalt Elfferding und Rechtsanwältin Weyers in diesem Heft; s.a. exemplarisch: Beck, M.: Das Dickicht der Dienste. Der Einfluss des Verfassungsschutzes in § 129a-Verfahren, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 2008, H. 1 (89), S. 58-63
[40] z.B. Bundesminister des Innern: Bundesamt für Verfassungsschutz. Aufgaben. Befugnisse. Grenzen, Bonn 1990, S. 83 ff.
[41] Gesetz v. 29.7.2009, BGBl. I, S. 2346
[42] s. Diederichs. O.: Die ‚Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse‘ zu Polizei und Geheimdiensten in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 1995, H. 3 (52), S. 48-58
[43] BT-Drs. 16/13400 v. 18.6.2009
[44] Bundesverfassungsgericht, Urteil v. 17.6.2009 (s. www.bverfg.de)
[45] Berliner Zeitung v. 30.7.2009; Frankfurter Rundschau v. 21.8.2009
Bibliographische Angaben: Pütter, Norbert: Die Dienste der Bundesrepublik. Vom Kalten Krieg zur „neuen Sicherheitsarchitektur“, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 93 (2/2009), S. 3-20