von Dinu Gautier
Drei Spioninnen infiltrierten über Monaten hinweg linke und autonome Gruppen in der Westschweiz. „Nestlégate“ wird der Spitzelskandal in der Presse genannt, da der Nahrungsmittelmulti Nestlé den Auftrag erteilt hatte. Ausgeführt hat ihn die Sicherheitsfirma Securitas. Erstmals liegen dem Autor nun auch Gerichtsakten zu einem der drei Fälle vor.[1]
Auftraggeberin von mindestens zwei der drei Spionagemissionen war Nestlé. Der Konzern mit Sitz in Vevey am Genfer See lässt seine Gebäude in der Schweiz traditionellerweise von der Securitas bewachen. Die Securitas ist ein Schweizer Familienunternehmen mit knapp 6.000 Angestellten und zahlreichen Tochtergesellschaften, das eine breite Palette an „Sicherheitsdienstleistungen“ anbietet. Bekannt ist sie einer breiteren Öffentlichkeit durch ihre NachtwächterInnen, zumeist ältere Männer in blauen Uniformen, die nachts mit Taschenlampen durch die Städte ziehen und in manchen Gemeinden auch Parkbußen verteilen dürfen. Securitas Schweiz ist nicht zu verwechseln mit der global tätigen Securitas AB, die in der Schweiz unter dem Namen Protectas auftritt.
Innerhalb der Securitas existiert seit dem Jahr 2000 eine Art Geheimdienstabteilung namens „Investigation Services IS“, deren Zweck laut Handelsregistereintrag „Überwachungen und Nachforschungen jeglicher Art“ sind. Sitz der IS ist Kloten, operativ ist sie aber in Zürich und in Lausanne beheimatet.
Opfer der Infiltrationen war zunächst eine Arbeitsgruppe des globalisierungskritischen Netzwerks Attac in Lausanne. Die „Arbeitsgruppe Multis“ arbeitete ab Herbst 2003 an einem Buch zu den Machenschaften von Nestlé.[2] Nach Erscheinen des Buches 2004 blieb Nestlé weiterhin im Zentrum der Aktivitäten von Attac Waadtland. Zwei der drei aufgeflogenen Spioninnen waren auf diese Arbeitsgruppe angesetzt.
Die dritte Spionin unterwanderte die autonome „Groupe Anti-Répression“ (GAR). Die Gruppe war nach den Demonstrationen zum G8-Gipfel von Evian 2003 damit beschäftigt, die Repression auf der Lausanner Seeseite zu dokumentieren und Opfern von Polizeiübergriffen zu helfen. Die Leute vom GAR gelten als sehr gut vernetzt in der Szene rund um das autonome Zentrum „Espace Autogéré“ in Lausanne.
Die Enthüllung
Im Juni 2008 brachte das Westschweizer Fernsehen die Affäre ins Rollen.[3] Es berichtete, dass eine Spionin unter dem Decknamen „Sara Meylan“ die Attac-Buchgruppe im Auftrag von Nestlé unterwandert hatte.
Meylans Mission begann im Herbst 2003. Janick Schaufelbuehl, eine Mitautorin des Buches erklärt: „Sara Meylan hat sich bei uns vorgestellt und gesagt, sie sei kaufmännische Angestellte bei einer Versicherung und das Thema ‚Nestlé‘ interessiere sie.“ Die Gruppe habe sie nie verdächtigt, eine Spitzelin zu sein, so Schaufelbuehl. „Sie war zurückhaltend, hat schüchtern gewirkt und wenig gesagt. Sie wollte ein Kapitel zum Thema ‚Nestlé und Kaffee‘ schreiben.“ Der Text, den Attac von ihr erhalten habe, sei aber derart katastrophal gewesen, dass die Arbeitsgruppe das Kapitel vollständig habe neu schreiben müssen, erinnert sich Schaufelbühl. Die Spionin benützte nicht nur einen falschen Namen, sie verfügte auch ein auf ihren Decknamen lautendes Bahnabonnement. Wie der „Beobachter“[4] berichtete, hatte Pascal Delessert, der damalige Regionalchef der Bahnpolizei, das Abo besorgt. Die Bahnpolizei (Securitrans) gehört je zur Hälfte den Bundesbahnen und der Securitas. Ihre Büros in Lausanne sind im selben Gebäude untergebracht wie jene der IS. Delessert behauptete später gegenüber einem Untersuchungsrichter, nicht gewusst zu haben, dass die Abokarte zur Schaffung einer Tarnidentität dienen sollte.
Im Rahmen eines inzwischen eingestellten Strafprozesses gegen Nestlé und Securitas händigte die Sicherheitsfirma auch einen Teil der von Sara Meylan über Attac verfassten „Rapporte“ aus. Pro Attac-Sitzung hat Meylan jeweils eine Zusammenfassung von bis zu sieben Seiten geschrieben, inklusive einer detaillierten TeilnehmerInnenliste. Ausführlich dokumentiert hat Meylan den Inhalt der Diskussionen und die Daten kommender Veranstaltungen, wobei auch solche darunter waren, die nur indirekt etwas mit Nestlé zu tun hatten. Beispielsweise Vorbereitungsworkshops für Blockaden gegen das Weltwirtschaftsforum von Davos im Januar 2004.
Was die politischen Inhalte angeht, scheint sich Meylan besonders für Aktivitäten der kolumbianischen Gewerkschaft Sinaltrainal interessiert zu haben (in Kolumbien haben paramilitärische Gruppen mehrmals Nestlé-Gewerkschafter ermordet). Genauso spannend fand Meylan offenbar die Reisen des brasilianischen Wasserpolitikaktivisten und bekannten Nestlékritikers Franklin Frederick in die Schweiz.
Die Spionin registrierte sich in ihren Berichten jeweils auch gleich selber. Im „Zwischenrapport“ vom 9. September 2003 beschreibt sie sich beispielsweise als „Sara, etwa 22 Jahre“ „halblange Haare, etwa 1.70 m.“ Offenbar war das eine Sicherheitsmaßnahme, um zu verhindern, dass sie auffliegt, falls ihre Berichte in falsche Hände geraten. Die Rapporte wirken professionell und dürften kaum ohne Tonbandaufnahmen zu bewerkstelligen gewesen sein.
Im Juni 2004 verschwand die Spionin schließlich spurlos, ihre E-Mail-Adresse und ihre Handynummer funktionierten plötzlich nicht mehr. Heute ist bekannt: Meylan hatte genug von ihrem Job und wandte sich im Juni 2004 schriftlich an ihre Chefin Fanny Decreuze. „Ich will die Attac-Missionen beenden. Dies aus ethischen und lebensphilosophischen Gründen.“
Finanziell, so die Untersuchungsakten, war Meylans Arbeit jedenfalls nicht allzu lukrativ gewesen. Sie erhielt 28 Franken (etwa 18 Euro) pro Stunde plus Spesen. Nestlé bezahlte laut einer Preisliste 100 Franken pro Arbeitsstunde an die IS. Auf der Preisliste stehen auch Auslandeinsätze: Diese kosten 1.500 Franken pro Tag und AgentIn.
Ob Meylan die Sitzungen, die oft in Privatwohnungen der BuchautorInnen stattfanden, per Tonband aufgezeichnet hat, ist strafrechtlich von großer Bedeutung. Vor dem Untersuchungsrichter dementierten dies Nestlé und Securitas. Den Firmen wurde es aber auch leicht gemacht. Praktisch alle Beweismittelanträge von Attac wurden abgelehnt, so kam es etwa zu keinerlei Hausdurchsuchungen bei Nestlé. Für Attac-Anwalt Jean-Michel Dolivo ist denn auch klar, dass der Untersuchungsrichter „eine Entlastungsuntersuchung geführt hat.“ Untersuchungsrichter Jaques Antenen wurde zwar von einem Appellationsgericht zurückgepfiffen, nachdem er das Verfahren eingestellt hatte, dies hinderte ihn aber nicht daran, es kurz darauf ein zweites Mal einzustellen. In der Westschweiz haben Untersuchungsrichter traditionell einen großen Ermessensspielraum, was die Einstellung von Verfahren angeht. Möglicherweise wollte Antenen die Waadtländer Polizei schützen, die laut dem Westschweizer Fernsehen von der Infiltrierung gewusst hatte. Seit kurzem ist Antenen nämlich nicht mehr Untersuchungsrichter, sondern Kommandant der Waadtländer Kantonspolizei.
Die Geheimdienstabteilung
Die Untersuchungsakten geben immerhin Einblick in die Abläufe bei IS und Nestlé: Zentrale Figur bei der Entstehung von IS Lausanne war ein gewisser Francis Meyer. Als „Key Account Manager“ in der Securitas-Filiale von Lausanne stand Meyer in regem Kontakt mit Nestlé. Im Dezember 2002 begann er die Abteilung „Investigation Services“ für die Westschweiz aufzubauen. 2002 setzte Francis Meyer den ehemaligen Freiburger Kantonspolizisten Gilbert M. als IS-Verantwortlichen ein. Gilbert M. war wegen sexueller Übergriffe auf einen Minderjährigen zu einer Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren ohne Bewährung verurteilt worden, weswegen er den Polizeidienst hatte quittieren müssen.
Gilbert M. rekrutierte die Spionin Sara Meylan. Der Fall von Sébastien S. zeigt, wie diese Rekrutierung abgelaufen sein könnte. Der junge Mann bewarb sich im Sommer 2003 auf eine Nachtwächterstelle bei Securitas. Der WOZ schilderte er, wie ihn Gilbert M. daraufhin in einem Café mehrmals regelrecht verhört habe. Beim vierten „Bewerbungsgespräch“ mit Gilbert M. wurde Sébastien S. im Laderaum eines Kleinbusses aufs Land herausgefahren, wo ihm eröffnet wurde, er solle Attac infiltrieren. Dies für einen Stundenlohn von etwa dreißig Franken (rund zwanzig Euro). Sébastien S. lehnte ab.
Für den Kontakt zwischen Nestlé und Securitas war zunächst Francis Meyer zuständig. Bei Nestlé wussten sowohl die Sicherheitsverantwortlichen, der Kommunikationschef wie auch der damalige Generalsekretär Bernard Daniel von der Inflitrationsmission. Sie alle erhielten Kopien der von Sara Meylan verfassten Rapporte. Securitas-Mann Francis Meyer wechselte Ende 2004 zu Nestlé, seither ist er deren Sicherheitschef für Europa, wobei er offiziell von der Tochterfirma Nestec angestellt ist.
Nestlés Motiv
Spionin Sara Meylan besprach sich mindestens einmal mit den Topkaderleuten von Nestlé im Hauptsitz in Vevey. Dazu der damalige Nestlé-Kommunikationsverantwortliche Marcel Rubin vor dem Untersuchungsrichter: „Dank den Rapporten (von Sara Meylan) habe ich Korrekturen am Inhalt des Buches vorschlagen können.“ Getroffen hat Meylan auch den damaligen Nestlé-Sicherheitschef John Hedley, offenbar ein ehemaliger Agent des britischen Geheimdienstes MI6.[5] Hedley liefert das eigentliche Motiv für die Inflitrierung. Auf einer auf Unternehmenssicherheit spezialisierten Homepage schreibt er: „Sicherheitsarbeit wird beurteilt anhand ihres Beitrages zur Rendite der Gruppe.“ Er greift zur Veranschaulichung zum Thema Prävention: „Die Fähigkeit, die Anzahl unvorhergesehener Ereignisse zu verringern, ist ein wertvoller Faktor.“ Wenn er dazu in der Lage sei, dann sei ihm die Aufmerksamkeit der Geschäftsleitung sicher. „Wenn man denen erzählen kann, dass man ein zukünftiges Problem vorbeugend hat lösen können, und dass das Problem, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, so und so viel gekostet hätte, dann ist das eine sehr gute Geschichte.“ Und er weist gleich selber daraufhin, welche Art von Problemen ins Geld gehen können: „Es ist ein sehr überzeugendes Argument, dass Marke und Image mehr wert sind als physische Vermögenswerte“, so John Hedley. Im Klartext: Nestlé hatte schlicht und einfach Angst davor, die Attac-Recherchen würden dem Ansehen des Konzerns schadende Fakten ans Tageslicht bringen.
Vor dem Untersuchungsrichter tönte es ähnlich: „Es ging darum, Pressekampagnen und Aktionen zu antizipieren … Wir lernten so auch, mit welchen anderen Gruppen Attac kooperierte … Es ging darum, materielle wie auch immaterielle Schäden zu verhindern“, sagte der ehemalige Nestlé-Kommunikationschef François-Xavier Perroud.
Die Chefspionin
Als Gilbert M. im Februar 2004 seine Gefängnisstrafe antreten musste, wurde er von der damals 29-jährigen Fanny Decreuze ersetzt, die bereits zuvor für die IS gearbeitet hatte. Decreuze ist eine bemerkenswerte Person: Einerseits interessiert sie sich für Entwicklungshilfe, Hippie-Symbolik und indische Traditionen, andererseits ist sie waffenvernarrt, hält sich Kampfhunde und ist Mitglied der rechtspopulistischen SVP. In den neunziger Jahren hat sie als Freiwillige in Indien Leprakranke gepflegt.
Fanny Decreuze wurde nicht nur zur Chefin von Sara Meylan, sie spionierte auch selber. So schleuste sie sich im Herbst 2003 unter dem Decknamen Shanti Muller bei der Groupe Anti-Répression in Lausanne ein. Ein GAR-Mitglied erinnert sich: „Shanti war sehr neugierig und offen. Da sie sagte, sie sei ganz alleine, haben wir uns etwas mehr um sie gekümmert.“ Muller habe bewusst Nähe aufgebaut und sei mit der Zeit tatsächlich zu einer guten Freundin geworden. „Es ist wirklich zum Kotzen! Gerade weil wir auch über sehr persönliche Sachen geredet haben“, meint das GAR-Mitglied. Angesichts ihres Auftauchens aus dem Nichts und ihrer doch eher ungewöhnlichen Biografie habe es schon Leute gegeben, die Shanti gegenüber misstrauisch gewesen seien. Sie selber habe Muller darauf angesprochen, worauf die Spionin verständnisvoll reagiert habe. „Und mit der Zeit ist das Misstrauen geringer geworden“, so das GAR-Mitglied.
Berufsrisiken
Fanny Decreuze alias Shanti Muller besuchte in jener Zeit AktivistInnen zu Hause, feierte in besetzten Häusern und dem autonomen Zentrum „Espace Autogéré“ von Lausanne, beteiligte sich an unzähligen Sitzungen, Aktionen und Demonstrationen, nicht nur in Lausanne, sondern auch in Genf und Bern. Als Mitglied der GAR hatte sie Zugang zu vertraulichen Dossiers, etwa zu Gedächtnisprotokollen von ZeugInnen polizeilicher Übergriffe oder Akten zu laufenden Gerichtsverhandlungen.
Als im Januar 2004 über tausend von einer bewilligten Demo in Chur heimreisende GegnerInnen des World Economic Forums in Landquart aus einem Zug getrieben und kontrolliert wurden, machte die Spionin Bekanntschaft mit den Knüppeln der Polizei. Sie wurde mit einer Fraktur im Gesicht in einem Krankenwagen abtransportiert. Im Sommer 2004 verschwand Shanti Muller für über einen Monat, um dann bis im Sommer 2005 wieder regelmäßig an Sitzungen teilzunehmen. Noch bis im Jahr 2008 fand sich ihre E-Mail-Adresse auf zahlreichen Mailinglisten, unter anderem auch auf solchen aus der radikalen Tierrechtsbewegung.[6]
Während bezüglich der Attac-Infiltrationen klar ist, wer den Auftrag erteilt hat, ist dies im Falle der GAR noch ungeklärt. Die Gruppe selber vermutete, der schweizerische Inlandsgeheimdienst („Dienst für Analyse und Prävention“) könnte Missionen an Securitas ausgelagert haben, da Private mehr rechtlichen Spielraum haben. Ein Dokument aus den Untersuchungsunterlagen spricht aber auch hier für Nestlé als Auftraggeberin. In einem Schreiben von IS an Nestlé ist von der „Aufrechterhaltung des Kontakts mit dem Kollektiv E.A. und der Gruppe A.-Vaud“ die Rede. „A.-Vaud“ dürfte für Attac Waadtland, „E.A.“ für Espace Autogéré und somit für die GAR stehen.
Im Sommer 2004 musste Fanny Decreuze einen Ersatz für Sara Meylan suchen. Sie fand ihn in der Person von Sakura (Name geändert), die sich nach Meylans Abschied besagter Attac-Gruppe anschloss und bis Sommer 2008 an deren Sitzungen teilnahm – allerdings unter ihrem echten Namen. Sakura behauptet, nur bis Ende 2005 für Securitas gearbeitet zu haben, später sei sie aus rein persönlichem Interesse und wegen entstandener Freundschaften dabei geblieben.
Überhaupt will Securitas Ende 2005 die „physischen Infiltrationen“ eingestellt haben. Der Chef des Schweizer Inlandgeheimdienstes höchstpersönlich soll den Securitas-CEO nämlich im Herbst 2005 ermahnt haben, die Infiltrationen zu beenden, da „solche Missionen nicht von Privaten durchgeführt werden sollten.“ Der Inlandgeheimdienst wusste laut eigenen Angaben seit Sommer 2003 von der Securitas-Spitzelin Sara Meylan.
Nachdem Attac darauf verzichtet hat, die Einstellung ein zweites Mal anzufechten, ist das Strafverfahren nun definitiv beendet. Die zivilrechtliche Klage der Organisation hat dagegen Chancen auf Erfolg. Der Richter hat bereits festgestellt, dass die Firmen Securitas und Nestlé „Persönlichkeitsrechte verletzt“ hätten.
Dino Gautier ist Redakteur der Wochenzeitung (WOZ) in Bern.
[1] Die nachfolgende Zusammenfassung der Ereignisse beruht auf einer in der WOZ erschienenen Artikelserie, www.woz.ch/dossier/nestlegate.html
[2] Deutsch: Attac Schweiz: Nestlé. Anatomie eines Weltkonzerns, Zürich 2005
[3] Télévision Suisse Romande: Temps présent v. 15.6.2008
[4] Beobachter v. 11.7.2008
[5] Sonntagsblick v. 22.6.2008
[6] 24 heures v. 24.9.2008
Bibliographische Angaben: Gautier, Dino: Nestlégate. Private Spioninnen im Dienste von Nestlé, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 93 (2/2009), S. 76-82