Schlagwort-Archive: Gipfelprotest

40 Jahre Demobeobachtung: Bestandsaufnahme einer radikal-demokratischen Praxis

von Tina Keller und Elke Steven

Das Grundrechtekomitee hat schon kurz nach seiner Gründung das Instrument der Demonstrationsbeobachtung zum Schutz des fundamentalen Grundrechts auf Versammlungsfreiheit etabliert. Eine genaue Beobachtung der vielfältigen Ereignisse ist die Grundlage für deren Einordnung in die politische Vorgeschichte und die Bewertung, basierend auf einem prinzipiellen Grundrechts- und Demokratieverständnis. Nach über 40 Jahren stellen wir die Erfahrungen auf den Prüfstand und kommen zu dem Ergebnis, dass es als radikal-demokratisches Werkzeug zur Verteidigung der Versammlungsfreiheit weiterhin notwendig bleibt.

Öffentliche Versammlungen sind sowohl Ausdruck als auch unmittelbarstes Werkzeug gelebter Demokratie. Das Grund- und Menschenrecht, demonstrieren zu können, gehört zu den wenigen im Grundgesetz garantierten Möglichkeiten, sich unmittelbar direkt öffentlich zu äußern. Die Demonstrierenden bestimmen selbst, wie sie thematisch und formal die Öffentlichkeit erreichen wollen. Dieses Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz) zu schützen und unverkürzt zu bewahren, ist ein wesentliches Ziel der Demonstrationsbeobachtungen, die das Komitee für Grundrechte und Demokratie seit 1981 organisiert. Ihre Wirkungsweise wollen wir mit diesem Artikel reflektieren. 40 Jahre Demobeobachtung: Bestandsaufnahme einer radikal-demokratischen Praxis weiterlesen

Keine Polizeigewalt? Protest und Polizei beim Hamburger G20-Gipfel

von Heiner Busch und Matthias Monroy

Die PolizistInnen waren die Guten, die HeldInnen. Die Linksex­tre­mis­tInnen waren die Bösen. Die Schuldzuweisungen waren schnell gemacht und halten sich hartnäckig trotz aller Widersprüche. Eine (unvollständige) Nachlese der Gipfelwoche.[1]

„Sie sind verachtenswerte gewalttätige Extremisten, genauso wie Neonazis das sind und islamistische Terroristen“, verkündete Bundesinnenminister Thomas de Maizière, kaum war die Woche zu Ende.[2] „Die Krawallmacher sollten die Demonstrationsorte gar nicht erst erreichen dürfen“, legte der Minister ein paar Tage später nach. „Eine Konsequenz aus Hamburg kann sein, mehr Meldeauflagen zu erlassen. Die entsprechenden Befugnisse in den Polizeigesetzen können noch effektiver genutzt werden … Wir sollten ihnen auferlegen, sich in bestimmten zeitlichen Abständen bei der Polizei zu melden oder ihnen notfalls Fußfesseln anlegen“ – ein Instrument, das die Große Koalition gerade erst für „Gefährder“ aus dem Umfeld des Terrorismus gesetzlich absegnen ließ.[3] Keine Polizeigewalt? Protest und Polizei beim Hamburger G20-Gipfel weiterlesen

Von der Festung zum Sportstadion? Auch 2003: keine Demonstration gegen das WEF in Davos

von Viktor Györffy

Ihr Ziel, das jährliche Treffen des World Economic Forum in Davos vor Kritik von der Straße abzuschirmen, wollten die Behörden dieses Jahr nicht durch ein Demonstrationsverbot erreichen. Sie setzten statt dessen auf ein breit angelegtes Sicherheitskonzept, das u.a. ein präventives Ausfiltern von Demonstrationswilligen durch Polizei und Staatsschutz beinhaltete.[1]

Noch nie hatten in Davos bewilligte Proteste gegen das Jahrestreffen des World Economic Forum (WEF) stattfinden können. Jahrelang hatte die Gemeinde Davos Demonstrationen während des Jahrestreffens generell verboten, bis das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden 1999 entschied, dass dies nicht zulässig sei.[2] Seither gilt – theoretisch – das in der Schweiz für Demonstrationen übliche Prozedere, gemäß dem von der Gemeinde auf Gesuch hin eine Demonstrationsbewilligung erteilt wird. Praktisch mussten jedoch auch nach 1999 regelmäßig Rechtsmittel gegen die Entscheide der Gemeinde ergriffen werden: Im Jahr 2000 gaben die Demo-OrganisatorInnen ein Gesuch für einen Samstag ein, erhielten aber stattdessen eine Bewilligung für den darauf folgenden Sonntag. Im Jahr 2001 war die Gemeinde Davos der Auffassung, den OrganisatorInnen gehe es gar nicht um die Durchführung einer Demonstration, sondern nur um Ausschreitungen und Randale, und lehnte das Bewilligungsgesuch ab. (Im Jahr 2002 fand das WEF-Jahrestreffen in New York statt, wodurch sich sowohl das Demonstrationsgesuch als auch der Rechtsstreit erübrigten.) Dieses Jahr hätte alles anders sein sollen: Für den 25. Januar 2003 – einen Samstag – war eine Demonstration bewilligt worden, zwischen Organisierenden und Behörden herrschte ausnahmsweise Einigkeit über Zeit und Route der Bewilligung. Von der Festung zum Sportstadion? Auch 2003: keine Demonstration gegen das WEF in Davos weiterlesen

Vor neuen Gipfeln – Über die Schwierigkeiten internationaler Demonstrationen

von Heiner Busch

EU- oder G8-Gipfel, Tagungen der Welthandelsorganisation oder des (privaten) Davoser World Economic Forums – wo die Mächtigen der Welt zusammenkommen, wird die Wahrnehmung demokratischer Rechte zum Risiko.

Rund ein Jahr ist es her, dass ein 20-jähriger Carabiniere bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua einen 23-jährigen Demonstranten erschoss. Der Tod des Carlo Giuliani, die Blutspuren in der „durchsuchten“ Scuola Diaz und die Misshandlung von Inhaftierten, die „teilweise über 15 Stunden an der Wand stehen oder 24 Stunden ohne Wasser und Nahrung“ verbringen mussten, haben Ende Juli letzten Jahres die Öffentlichkeit erschüttert.[1] Für kurze Zeit wurde die stereotype Warnung vor dem „Schwarzen Block“ von der Kritik an der Eskalationsstrategie der Regierung Berlusconi und ihrer Polizei überlagert. Die systematische Unterdrückung der Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua waren jedoch kein singuläres Ereignis. Bereits wenige Wochen zuvor, beim Treffen des Europäischen Rates in Göteborg, hatten Polizisten gegen Demonstrierende von der Schusswaffe Gebrauch gemacht.

Nach den Ereignissen von Genua sah sich selbst das Europäische Parlament (EP) gezwungen, die EU-Regierungen auf die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den Datenschutz und die Bewegungsfreiheit hinzuweisen. Im sog. Watson-Bericht kritisiert das EP den „unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt“ und propagiert eine Deeskalationsstrategie sowie den „Dialog mit den Globalisierungsgegnern“. Mit seinen Forderungen, „gewalttätige Gruppen (den so genannten ‚Black Block‘) oder kriminelle Organisationen“ effizient zu bekämpfen sowie EU-weit zu definieren, wer bzw. was „gefährliche Personen und Verhaltensweisen“ sein sollen, rennt das EP beim Rat der Innen- und Justizminister jedoch offene Türen ein.[2] Vor neuen Gipfeln – Über die Schwierigkeiten internationaler Demonstrationen weiterlesen

Internet-Streifen – Recherchen ohne Verdacht im weltweiten Datennetz

von Martina Kant

Virtuelle „Streifenfahrten“ im Internet gehören mittlerweile zu den Standardmaßnahmen beim Bundeskriminalamt (BKA), bei der bayerischen Polizei und den Verfassungsschutzbehörden. Unausgesprochenes und auch unerreichbares Ziel dabei ist es, sämtliche Äußerungen im World Wide Web, im Chat und in Newsgroups auf ihre strafrechtliche Relevanz bzw. „Verfassungsfeindlichkeit“ zu überprüfen.

Bereits seit dem 1. Februar 1995 werten PolizeibeamtInnen des bayerischen Landeskriminalamts (LKA) und des Polizeipräsidiums München anlass­unabhängig das Internet nach strafbaren Inhalten aus. Nach einem vierjährigen Pilotprojekt wurde das Sachgebiet „Netzwerk­fahndung“ im Februar 1999 als dauerhafte Zentralstelle für Bayern mit neun BeamtInnen beim LKA angesiedelt. Wie uns die Pressestelle des Polizeipräsidiums München Ende März mitteilte, recherchieren auch neun BeamtInnen des dortigen Kommissariats 343 weiterhin ohne Anlass im Netz. Internet-Streifen – Recherchen ohne Verdacht im weltweiten Datennetz weiterlesen

Nach Göteborg und Genua – Weder Reisefreiheit noch Demonstrationsrecht in der EU?

von Olaf Griebenow und Heiner Busch

Übermittlung ungesicherter Daten über „Risikogruppen“, strenge Kontrollen im Inland und an den Grenzen, Ein- und Ausreiseverbote, vorbeugende Festnahmen – derartige Maßnahmen schienen im grenzenlosen Europa bisher nur für Fußball-Hooligans vorgesehen. Nun werden sie auch gegen internationale Demonstrationen genutzt.

Die Befürchtungen haben sich bestätigt. Bei zwei internationalen Demonstrationen – gegen den EU-Gipfel in Göteborg und gegen den G8-Gipfel in Genua – hat die Polizei gezielt auf Protestierende geschossen. In Genua wurde ein Demonstrant getötet. Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt – bei den harten Polizeieinsätzen während der Demonstrationen selbst, aber auch bei der Räumung jener Schule, in der das Genua Social Forum untergebracht war. Die Eskalationsstrategie der italienischen Regierung, der die EU-Partner im Vorfeld heftig applaudiert haben, die krampfhafte Verteidigung demonstrationsfreier Zonen gegen die Grundrechte von Hunderttausenden hat ihre Wirkung getan. Nach Göteborg und Genua – Weder Reisefreiheit noch Demonstrationsrecht in der EU? weiterlesen