Schengen-Gruppe: Keine Öffnung der Grenzen, dafür aber „Ausgleichsmaßnahmen“

Auf einem Treffen in Paris haben die zuständigen Innenminister der Schengen-Staaten – BRD, Frankreich und die Benelux-Staaten – am 30. Juni d.J. beschlossen, den für den 1.1.1990 geplanten Abbau der Binnengrenzen zwischen diesen Ländern zu verschieben, bis entsprechende „Ausgleichsmaßnahmen“ für den durch den Wegfall der Grenzkontrollen angeblich entstehenden „Sicherheitsverlust“ in Kraft getreten sind. Diese Maßnahmen – insbesondere der Aufbau eines Schengen-Informationssystems (SIS) – sind Gegenstand von weiteren Verträgen, die bereits in Entwurfsform vorliegen und bis Ende des Jahres unterzeichnet werden sollen.

I. Im Vorfeld: eine „Sicherheits“kampagne

Im 1. Schengen-Abkommen von Juni 1985 war der 1. Januar 1990 als Stichtag für die Aufhebung der Grenzkontrollen zwischen den Vertragsparteien genannt worden. In diesem Abkommen hatten sich die Staaten darauf geeinigt, gleichzei-tig Maßnahmen zum Ausgleich des Sicherheitsverlustes zu vereinbaren, der durch die Aufhebung der Grenzen entstehen würde. Vorgesehen war dabei insbesondere ein Ausbau der gegenseitigen Information der beteiligten Polizeibehörden, eine stärkere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Drogenbekämpfung und eine Vereinheitlichung von asyl-und ausländerrechtlichen Bestimmungen. Aus den Verhandlungen sollten weitere Abkommen hervorgehen, die von mehreren Arbeitsgruppen der beteiligten Staaten ausgearbeitet werden sollten.

Mit dem Herannahen des Stichtages 1.1.1990 haben führende Polizeibeamte, Verantwortliche in den Ministerialbürokratien und Politiker eine Kampagne inszeniert, die die Gefahren eines angeblichen Sicherheitsverlustes beschwört und deren zentrales Anliegen es ist, „Ausgleichsmaßnahmen“ zu beschließen und einzuführen, bevor irgendein Schlagbaum abgebaut wird. Entsprechende Erklärungen von Poli-zeiseite finden sich in der BRD in den führenden Polizeifachzeitschriften, insbesondere in der „Kriminalistik“. Darüber hinaus haben sich Politiker der drei etablierten Parteien und nahezu aller Bundesländer in den Zeitungen und in parlamentarischen Äußerungen gegen diesen „Sicherheitsverlust“ und den „vorschnellen Abbau der Grenzen“ gewandt, in NRW z.B. durch Anträge von CDU, FDP und SPD im Landtag (Landtag NRW: Antrag der CDU, 17.5.89, Drs.10/4376; der FDP, 30.5.89, 10/4422; der SPD, 31.5.89, 10/4425).

Dabei scheint zumindest dem neuen Innenminister durchaus klar zu sein, daß die vorgetragene Argumentation falsch ist. So erklärte Schäuble am 26.6. 1989:
„Die Erfahrung zeigt, daß das Instrument der Grenzkontrolle gegenüber organisierter Kriminalität nur eingeschränkt wirksam ist. Gezielte Ermittlungen und Fahndung sind erfolgreicher als die routinemäßige, auf Stichproben reduzierte Ausweiskontrolle und
Fahndungsabfrage. Der Schlagbaum ist kein besonders intelligentes Fahndungsinstrument. Im Drogenhandel, dem klassischen Betätigungsfeld der organisierten Kriminalität, haben die Kartelle sich schon längst auf die Grenzkontrollen eingestellt. Schon lange ist uns dort kein Financier, kein Hintermann mehr ins Netz gegangen“ (Pressedienst des BMI, Der Bundesminister des Inneren teilt mit, 26.6.1989, S. 5)

Sinn erhalten die Warnungen vor Europa als dem „Mekka der organisierten Kriminalität“ (Boge) erst, wenn sie als Legitimation begriffen werden für das Bestreben, die Zusammenarbeit der europäischen Polizeien zu verbreitern. Tatsächlich sind die in Schengen diskutierten Maßnahmen keine grundsätzlich neuen Ideen. Das Gerangel um die „Ausgleichsmaßnahmen“ bietet vielmehr die Chance, vor dem Hintergrund eines scheinbaren sachlichen und zeitlichen Drucks lang gehegte Wünsche durchzusetzen.

II. Die neuen Schengen-Vertragsentwürfe

Trotz der Bekundungen, die „Fortschritte in den Verhandlungen“ seien „bescheiden“, liegen wesentliche Teile der neuen Schengen-Abkommen bereits im Entwurf vor. Vom September letzten Jahres datiert ein Entwurf für ein Abkommen zu Fragen der Grenzkontrollen, der Visabestimmungen, des Ausländer- und des Asylrechts. Sowohl dieser als auch ein zweiter Vertragsentwurf in der Fassung vom November 1988 betreffs polizeilicher Zusammenarbeit werden typischerweise zumindest in der BRD als Verschlußsache behandelt und sind der bundesdeutschen Öffentlichkeit nicht im Text, sondern allenfalls über vage Andeutungen eingeweihter Politiker und Polizeibeamter zugänglich. Während Kriminaldirektor Leo Schuster von der Polizeiführungsakademie bereits am 10.Juni des Jahres auf einer Tagung des „Arbeitskreises Junger Kriminologen“ aus dem ihm vorliegenden Vertragsentwurf zitieren konnte, mußten wir – nachdem wir in der Bundesrepublik darauf hingewiesen wurden, daß es sich um ein streng vertraulichees Dokument handele – uns an Kollegen in den Niederlanden wenden, wo scheinbar anders als hierzulande parlamentarische Kontrolle zumindest ein bißchen mehr bedeutet als staatsseliges Vertrauen.

Im Unterschied zum ersten Schengen-Vertrag von 1985, der nur ein Verwaltungs-Regierungsabkommen war, werden die vorliegenden Verträge durch die Parlamente gehen müssen, weil Fragen betroffen sind, die Veränderungen innerstaatlicher Gesetze beinhalten.

1. Abkommen zum Ausländer- und Asylrecht

Der Vertragsentwurf der Schengen-Arbeitsgruppe II vom September letzten Jahres sieht im wesentlichen folgende Punkte vor:
* Ein ständiges Kommitee soll über die Ausgestaltung der Kontrollen an den Außengrenzen, Visabestimmungen u.a. Maßnahmen entscheiden.
* Die Binnengrenzen der Vertragsstaaten werden aufgehoben. Damit wird sowohl den Bewohnern der fünf Staaten als auch „Drittausländern“, die sich im Gebiet dieser Staaten legal aufhalten, Reisefreiheit über die Binnengrenzen hinweg gewährt.
* Gleichzeitig soll ein einheitliches Visum der fünf Staaten geschaffen werden. Die Ausgestaltung der Visumsvergabe sowie die Entscheidung über die Reisedokumente, in die Visa eingestempelt werden können, und damit auch über die Staaten, deren Bürger keiner Visumspflicht unterliegen, sollen den zuständigen Ministern und Staatssekretären auf Vorschlag des ständigen Kommitees obliegen.
* Die Behörden der Vertragsstaaten sollen alle Informationen austauschen, „die für eine zielgerichtete, im Interesse aller Vertragsstaaten ausgeübte Kontrolle und Bewachung der Außengrenzen nützlich sind“ (Art 5, Nr. 2.5.). Auf Vorlage des ständigen Kommitees werden die Staatssekretäre und Minister auch „Grundsätze einer gemeinsamen Liste von Personen, denen die Einreise verweigert wird“, ausarbeiten.
* Im Bereich des Asylrechts wollen die Vertragsparteien in erster Linie sicherstellen, daß es nur noch einen einzigen Asylantrag einer Person im Rahmen der Schengen-Staaten gibt. Parallel- und Folgeanträge in mehreren Schengen-Staaten sollen nicht mehr möglich sein. Das hieße, daß ein in den Niederlanden abgelehnter Flüchtling auch in der BRD keinen Asylantrag mehr stellen kann und ausgewiesen wird.
* Um das sicherzustellen, wird es einen Austausch von personenbezogenen Daten der Asylbewerber geben.

2. Vertragsentwurf der AG I: Polizei

Dieser Vertragsentwurf vom November 1988 ist der für die polizeiliche Zusammenarbeit relevantere. Der Vertrag enthält noch eine ganze Reihe nicht abgestimmter Punkte. Trotzdem lassen sich die groben Linien bereits her-auslesen:

a. Rechtliche Angleichung
Die rechtlichen Angleichungen, die der Entwurf vorsieht, halten sich in engen Grenzen. Geeinigt hat man sich:
* auf eine generelle Einführung einer Hotelmeldepflicht für alle Ausländer (Art. 1.4.);
* auf eine begrenzte Angleichung im Waffenrecht, das in Belgien und Frankreich aufgrund der breiten Jagdbegeisterung freizügiger ist. Für bestimmte Waffen werden Erlaubnis- und Meldepflichten eingeführt (Abschn.7);
* auf einen Kompromiß in Bezug auf die Unterschiede im Betäubungsmittelrecht: In den Niederlanden wird der Verkauf und Besitz von leichten Drogen nur als Ordnungswidrigkeit eingestuft und muß deshalb nicht verfolgt werden. Daran wird sich auch weiterhin nur so viel ändern, als der Verkauf an und der Besitz von Drogen durch Ausländer in den Niederlanden verfolgt werden soll – eine Regelung, die sich in der Realität nur schwer durchsetzen dürfte (Art. 6.2.). Ferner verpflichten sich alle Vertragsparteien auf rechtliche Regelungen hinzuwirken, die „Sicherstellung und Verfall von Vermögensgewinnen“ aus illegalen Drogengeschäften ermöglichen sollen (Art. 6.3.).

b. Rechtshilfe und Auslieferung
Rechtshilfe und Auslieferung sollen nach den bisherigen Ergebnissen vor allem um neue Kanäle erweitert und damit beschleunigt werden:
* Rechtshilfeersuchen sollen direkt von Justizbehörde zu Justizbehörde möglich werden (Art. 3.6.) und nicht nur über die Ministerien und die nationalen Interpol-Zentralbüros (in der BRD das BKA). Dort, wo die Rechts-und Amtshilfe nicht gebunden ist an die Entscheidungen der Justiz, also insbesondere dort, wo keine direkten Zwangsmaßnahmen (Festnahme, Beschlagnahme, Durchsuchung) gefordert werden, soll auch ein direktes Ersuchen von Polizeibehörde zu Poli-zeibehörde möglich werden. Wo aus Zeitgründen der Weg über die Interpol-Zentralbüros zu langsam ist, sollen auch untere Dienststellen direkt miteinander verkehren können und diesen Verkehr danach den Zentralbüros zu Kenntnis geben (Art. 1.1.).
* Auslieferungsersuchen sollen nicht nur über den diplomatischen Weg gehen können, sondern auch direkt von Ministerium zu Ministerium übermittelt werden können (Art. 4.6.). Desweiteren soll ein vereinfachtes Auslieferungsverfahren möglich sein, wenn die auszuliefernde Person freiwillig auf ihr Recht der Einzelfallprüfung verzichtet (Art. 4.7.).

Weiterhin strittig sind u.a.:
* Rechtshilfe und Auslieferung in Fiskalsachen (Art. 3.3. und 4.4.),
* die Voraussetzungen für die Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen im Rahmen der Rechtshilfe (Art. 3.4.) sowie
* die Frage der auslieferungsfähigen Delikte: Die Auslieferungsentscheidung soll sich bemessen an der Höchsstrafe, die für ein Delikt verhängt werden kann. Festgesetzt werden muß eine „Mindesthöchststrafe“ (Art. 4.3.).

An den zentralen Grundsätzen des Auslieferungsrechts, wie sie in der europäischen Auslieferungskonvention von 1957 festgelegt wurden, wird sich weiterhin nichts ändern. Es wird keine „polizeiliche Auslieferung“ ohne die Entscheidung der Justiz geben. Auch am Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit hat sich nichts geändert.

c. Tätigkeit auf fremdem Hoheitsgebiet: Nacheile, Observation, kontrollierte Lieferung

Einer der zentralen Streitpunkte bei den Verhandlungen war die Frage der Zulässigkeit der polizeilichen Nacheile und der Observation über Grenzen hinweg. Der Vertragsentwurf zeigt bereits wesentliche Punkte der Einigung:
Die Nacheile bis zu 10 Km hinter der Landesgrenze (Art. 1.5.) soll möglich sein
* wenn eine Person nach frischer Tat verfolgt wird. Die Straftaten, bei denen das möglich ist, werden abschließend aufgezählt: Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Brandstiftung, Falschgeldherstellung, Raub, Entführung Minderjähriger, Geiselnahme, Rauschgift- und Waffenhandel.
* wenn eine Person sich der Untersuchungshaft oder „dem Vollzug einer Freiheitsstrafe“ wegen einer auslieferungsfähigen Straftat entzieht.
Vorausetzung ist, daß die Verfolgung nicht durch die Polizei des anderen Staates fortsetzbar ist, d.h. diese nicht vorher zu verständigen war. Die verfolgenden Beamten dürfen dabei auch die Person selbst festnehmen, haben sie aber der Polizei des Landes, in dem sie einschreiten, vorzuführen. Wohnungen und öffentliche Gebäude dürfen nicht betreten werden. Waffen dürfen nur zur Notwehr eingesetzt werden. Nach der Festnahme muß ein Ersuchen um Auslieferung vorgelegt werden, sonst wird die verfolgte Person innerhalb von sechs Stunden (wobei die Nachtstunden nicht mitgerechnet werden) freigelassen.

Die grenzüberschreitende Observation (Art. 1.6) ist möglich bei auslieferungsfähigen Delikten. Im Regelfall soll zuvor einem Rechts-hilfeersuchen stattgegeben worden sein, bei Gefahr im Verzuge kann dieses aber „unverzüglich“ nachgereicht werden. Die observierenden Beamten müssen auf der Rechtsgrundlage des Staates handeln, auf dessen Boden sie tätig sind. Sie dürfen weder Wohnungen betreten, noch haben sie das Recht, die betreffende Person festzunehmen. Waffen dürfen sie auch in diesem Fall nur zur Notwehr einsetzen. Wenn die Polizei des betreffenden Landes dies fordert, müssen sie die Observation an diese abtreten.

Für beide Fälle soll die Kommunikation dadurch verbessert werden, daß im Grenzgebiet direkte Verbindungen über Telefon, Funk, Telex u.a. eingerichtet werden (Art. 1.9.). Die Zulässigkeit der grenzüberschreitenden Observation und Nacheile ist offensichtlich nicht mehr strittig. Zur Komplettierung fehlt allerdings die Festlegung dessen, was „auslieferungsfähige Delikte“ sind.

Die kontrollierte Lieferung von Drogen ist die dritte Form des Tätigwerdens auf fremdem Boden (Art. 6.4.). Eine solche Maßnahme muß vorweg von dem Staat, wo sie stattfindet, gebilligt werden. In der Vergangenheit hat es hier immer wieder Auseinanderstezungen zwischen der BRD und den Niederlanden gegeben, weil Drogenfahnder der deutschen Polizei ohne Zustimmung der holländischen Be-hörden Scheingeschäfte in den Niederlanden getätigt haben und Personen in die BRD hinüberlockten, um sie hier festzunehmen.

d. Verbesserung der Kooperation, Erfahrungsaustausch, konventioneller Informationsaustausch
Der allgemeinen Verbesserung der Zusammenarbeit soll u.a. der befristet und unbefristet mögliche Austausch von Verbindungsbeamten dienen (Art.1.3.). Die Verbindungsbeamten sollen keine exekutiven Befugnisse im anderen Staat haben. Gleichzeitig sollen Verbindungsbeamte in Drittländern gemeinsam genutzt werden – eine Regelung, die bereits Thema der TREVI-Gruppe gewesen ist und vor allem die sog. Rauschgiftverbindungsbeamten betrifft, von denen z.B. das BKA 22 in 17 verschiedenen Ländern stationiert hat.
Im Sektor der Drogenbekämpfung soll neben allgemeinem Informationsaustausch auch eine „ständige Arbeitsgruppe“ gebildet werden, deren Aufgabe darin bestehen soll, „gemeinschaftliche Probleme bei der Bekämpfung der Betäubungs-mittelkriminmalität zu untersuchen und ggf. Vorschläge zur notwendigen Verbesserung der praktischen und technischen Aspekte der Zusammenarbeit zu machen“ (Art. 6.1.). Diese Arbeitsgruppe soll sich vor allem aus Vertretern des Zolls und der Polizei zusammensetzen. Die BRD verfügt bereits über eine zentrale „Ständige AG Rauschgift“ beim BKA und weitere regionale Untergruppen, in denen sie sich mit Nachbarstaaten koordiniert.
Über den allgemeinen Informations- und Erfahrungsaustausch hinaus soll es auch eine konkrete Übermittlung von Informationen auf konventionellem Wege geben (Art. 1.2). Die Regelungen hierzu sind zwar noch nicht ausformuliert; es gibt aber bereits eine allgemeine inhaltliche Einigung dahingehend, daß nicht nur Fragen der Strafverfolgung und Abwehr von konkreten Gefahren in den In-formationsaustausch einbezogen werden sollen, sondern auch Daten, die „zur Verfolgung einer zukünftigen Straftat von Bedeutung sein können“. Dabei soll es vor allem um Informationen über Straftaten, die in einem der jeweils anderen Schengen-Staaten begangen werden, und deren mögliche Täter gehen, sowie ferner um Fälle „international organisierter Kriminalität“.

e. Das Schengener Informationssystem (SIS)
Dieser Abschnitt 2 des Vertragsentwurfs ist der zentrale Punkt des Abkommens, denn er betrifft nicht nur einzelne Maßnahmen, die vorgenommen werden dürfen oder sollen, sondern die Vorausetzungen der technischen Grundlage der polizeilichen Zusammenarbeit in einem zukünftigen Europa des einheitlichen Binnemarktes und der offenen Grenzen.
Eine Konzeption für das SIS sollte nach einem Bericht des BMI an den Bundestagsinnenausschuß bereits für das erste Quartal dieses Jahres vorgelegt sein. Für den Aufbau des Systems werden etwa zwei Jahre veranschlagt.
Technisch soll das SITeilnehmer am SystemS aufgeteilt werden in einen zentralen Bestand und jeweilige nationale Systeme, in denen der zentrale Bestand parallel gespeichert werden soll. Für die BRD könnte die Fahndungsdatei von INPOL das nationale System des SIS abgeben. Über den Sitz des zentralen Bestandes ist noch keine Einigung erzielt worden. In Frage kommen das BKA und die Zentrale der französischen Polizei, die sich beide hierfür angeboten haben.

Teilnehmer am System

Teilnehmer am System und damit direkt abrufberechtigt sollen alle Stellen sein, die zuständig sind
* für Grenzkontrollen und Kontrollen im Inland, also in der BRD Polizei, BGS und Zoll, sowie
* für die Erteilung von Visa, also die Ausländerbehörden, die konsularischen Vertretungen und Botschaften der Staaten und in der BRD evtl. auch das Ausländerzentralregister.
Eingabe, Berichtigung und Löschung sollen über die jeweiligen nationalen Zentralstellen erfolgen, die auch gleichzeitig für die Wartung der jeweils von ihnen eingegebenen Datenbestände zuständig sind und die Verantwortung für die Richtigkeit der Daten und die Rechtmäßigkeit der Speicherung tragen.

Zum Inhalt des SIS

Das SIS soll ein Fahndungssystem für Personen und Sachen sein, wobei – wahrscheinlich wegen der geringeren rechtlichen Probleme – mit den Sachfahnungsdateien begonnen werden soll. (Die Sachdaten werden wir im folgenden außer acht lassen.)
Personendatensätze sollen neben den allgemeinen Personalien auch gegebenenfalls die personengebundenen Hinweise „gewalttätig“ und „bewaffnet“, den Ausschreibungsgrund und die zu treffenden Maßnahmen beinhalten.

Der Vertragsentwurf unterscheidet nach Ausschreibungsgrund und ersuchten Maßnahmen folgende Datenkategorien:
* Personen, die mit dem Ziel der Festnahme zur anschließenden Auslieferung ausgeschrieben werden (Art. 2.4);
* Daten von „Drittausländern“, denen die Einreise verweigert oder die ausgewiesen werden sollen (Art. 2.5); der Begriff des „Drittausländers“ wird in den Schengen-Abkommen eingeführt, um die Ausländer aus den Vertragsstaaten von denen zu unterscheiden, die aus Drittländern kommen;
* Vermißte oder Personen, die „im Interesse ihres eigenen Schutzes oder zur Gefahrenabwehr durch Anordnung der zuständigen Behörden oder des zuständigen Gerichts in Gewahrsam genommen werden müssen“; Ziel: Aufenthaltsermittlung oder Gewahrsam (Art 2.6.)
* ebenfalls zum Zwecke der Aufenthaltsermittlung Personen, die im Zusammenhang mit Strafverfahren oder zur Strafvollstreckung gesucht werden; Frankreich for-dert, die Speicherung von der ausdrücklichen Zustimmung der ersuchten Vertragsparteien abhängig zu machen (Art. 2.7.);
* Daten von Personen und Fahrzeugen zur beobachtenden Fahndung (Befa), bzw., wie es im Entwurf sehr genau heißt, zur „verdeckten Registrierung“ (Art.2.8.), wobei an Kontrollstellen bzw. an Grenzen die Daten sowohl der ausgeschriebenen Person als auch ihrer Mitreisenden, des Fahrzeugs und die Angabe von Reiseziel und Umständen der Kontrolle protokolliert werden dürfen. Rechtlich zulässig soll dies einerseits zur Strafverfolgung und zur Gefahrenabwehr sein. Dies suggeriert, daß eine Beobachtung zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ nicht möglich sein solle. Die nähere Ausführung in Art. 2.8. Abs. 3 zeigt aber, daß es sehr wohl um mehr als um die Abwehr konkreter Gefahren und die Verfolgung von Straftaten gehen darf. Eine Ausschreibung zur BeFa soll möglich sein bei einer Person,
– bei der es konkrete Anhaltspunkte“ dafür gibt, daß sie „in erheblichem Umfang Straftaten von außergewöhnlicher Bedeutung … begeht oder begehen wird“. Als solche Straftaten werden u.a. Formen der organisierten Kriminalität und „terroristische Gewalttäter oder Unterstützer“ genannt;
– die als möglicher Wiederholungstäter eingestuft wird.
Frankreich fordert hier, daß beide Voraussetzungen gleichzeitig gegeben sein sollen.
Die Entscheidung zur Ausschreibung beruht in jedem Falle auf einer Prognose über das zukünftige Verhalten einer Person („Wiederholungstäter“) und führt damit über die Verfolgung von konkreten Straftaten und die Abwehr von konkreten Gefahren hinaus zu dem, was in der neueren polizeirechtlichen Diskussion in der BRD als „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ bezeichnet wird.
Das Terrain von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung verläßt der Vertragsentwurf vollkommen, indem er eine Befa-Ausschreibung darüber hinaus auch zur „Abwehr von Nachteilen für die Staatssicherheit“ zuläßt. Worin diese Nachteile bestehen sollen, wird nicht näher ausgeführt.

Zweckbindung

Der Art. 2.11. unterscheidet zwei verschiedene Arten von Zweckbindung:
* Nach Abs. 1 sollen die Daten nur zu den jeweiligen Zwecken genutzt werden können, die der Kategorie entsprechen, zu der sie gespeichert wurden. Das hieße, daß sie sowohl für andere allgemeine Verwaltungszwecke als dem der Visaerteilung, als auch für andere polizeiliche Zwecke unzugänglich sein müßten. Eine Person, die zur Befa ausgeschrieben wurde, dürfte also nicht zum Zwecke der Auslieferung festgenommen werden. Abs. 3 schafft aber eine Ausnahme, die so weitgehend ist, daß sie zur Regel werden kann: Eine Zweckentfremdung soll demnach
– bei unmittelbar bevorstehenden schwerwiegenden Gefahren,Zweckbindung
– zur Bekämpfung schwerer Straftaten und
– zu Zwecken der Staatssicherheit
möglich sein.

Unter der letztgenannten Formulierung wäre auch eine Verwendung der Daten zu geheimdienstlichen Zwecken möglich. Frankreich plädiert für die Streichung dieser Ausnahmen.

* Laut Abs.2 soll eine Speicherung in Dateien, die anderen als Zwecken der Kontrolle an Grenzen oder im Binnenland sowie der Visaerteilung (bzw. -verweigerung) dienen, untersagt sein. Gegen dieses Verbot haben alle beteiligten Staaten außer Frankreich einen Prüfungsvorbehalt angemeldet. Für die BRD würde dieses Verbot bedeuten, daß Daten, die von anderen Staaten ins SIS eingegeben werden, nur in der Fahndungsdatei, nicht aber für andere polizeiliche Anwendungen gespeichert und genutzt werden dürften.

Andere Datenschutzregelungen

Art. 2.16 legt die Fristen, nach deren Ablauf die weitere Speicherung der Daten geprüft werden soll, auf fünf Jahre, bei Personen, die zur Befa ausgeschrieben wurden, auf ein Jahr fest.

Art 2.15.bis gibt ein allgemeines Recht auf Berichtigung falscher Daten bzw. auf die Löschung unrechtmäßig gespeicherter. Die Voraussetzung, daß dieses Recht von den Betroffenen selbst wahrgenommen werden kann, nämlich das Recht auf Auskunft über die zur eigenen Person gespeicherten Daten, wird in Art. 2.15. ausgeschlossen für Daten der Befa und für Fälle, wo die Auskunft die Zwecke der Ausschreibung gefährden würde. Darüber hinaus soll eine Auskunft nach dem jeweiligen Recht des angefragten Staates möglich sein. Der ausschreibende Staat muß vor der Auskunft um Stellungnahme gebeten werden. (Frankreich fordert eine vorherige Zustimmung.)

Art. 2.17. fordert die Einrichtung von Kontrollinstitutionen sowohl für die nationalen Systeme als auch für den zentralen Bestand des SIS. Belgien und die Niederlande, die bisher noch keine Datenschutzbeauftragte haben, müßten danach zumindest für die Bereiche der Fahndung eine solche Instanz schaffen. Dadurch wäre ein zentraler Kritikpunkt der bundesdeutschen, luxemburgischen und französischen Datenschutzbeauftragten entfallen, die im März 1989 gefordert hatten, daß ein supranationales Datensystem nur mit solchen Ländern eingegangen werden könne, die über vergleichbare Datenschutzstandards verfügen (vgl. Tagesspiegel, 29.3.89)

III. Zusammenfassung

Mit diesem Vertragsentwurf sind bereits wesentliche Schritte in Richtung einer grundsätzlichen Ausdehnung der polizeilichen Zusammenarbeit der fünf Staaten vorbereitet:
* Das Agieren von fremden Polizeibeamten im Inland der jeweiligen Staaten ist im Prinzip akzeptiert, wenn auch die Regelungen zunächst sehr restriktiv erscheinen.
* Noch wichtiger ist das Design des SIS, des ersten supranationalen Datensystems in Europa. Es ist der erste Punkt, bei dem die Polizeien sich nicht nur Gremien der Konsultation, Fortbildung und Kooperation schaffen, sondern bei dem sie eine gemeinsame Institution betreiben. In der TAZ (30.6.89) wertet Thomas Scheuer das SIS als den möglichen Grundstein für ein späteres Europäisches Kriminalamt, das von Teilen der Polizei seit Jahren gefordert wird. Ein solches Amt mag noch lange auf sich warten lassen; auch das SIS wird bis zu seiner Umsetzung in die Praxis noch eine Weile brauchen. Trotzdem ist ein stärkeres Zusammenwachsen der Polizeien nicht zu verkennen.

Die Entscheidungen, die in diesen Vertragsentwürfen vorbereitet werden, haben nicht nur Bedeutung für die fünf Schengen-Staaten. Von Ihnen geht ein Sog auf die anderen Länder der EG aus, für die eine „Öffnung der Grenzen“ für 1993 ins Auge gefaßt war.
* Italien, Spanien und Portugal haben bereits jetzt ihr Interesse an einem Beitritt zur Schengen-Gruppe vor 1993 angekündigt. Als Voraussetzung dafür wird genannt, daß die Länder den in den Arbeitsgruppen erreichten Verhand-lungsstand akzeptieren. Der Beitritt Italiens wird in der zweiten Jahreshälfte dieses Jahres erfolgen, der Spaniens und Portugals voraussichtlich in der ersten Hälfte von 1990.
* Im Hinblick auf den einheitlichen Binnemarkt der Gesamt-EG bewegt sich die Diskussion der TREVI-Gruppe, an der alle EG-Staaten beteiligt sind, in dieselbe Richtung. Bereits auf ihrer Sitzung in Athen im Dezember haben die EG-Innenminister die zwischen den Schengen-Staaten vereinbarte Konzeption für Fragen des Visums und des Asylrechts gebilligt. In Palma de Mallorca im Juni wurde eine vorläufige Liste von 59 Ländern, in denen die lateinamerikanischen noch nicht enthalten sind, beschlossen, für die die EG ab Ende 1989 ein Visum fordert (El País, 7.6.89). Spanien hat dort auch den Vorschlag eines gemeinsamen Datensystems für „unerwünschte Ausländer“ eingebracht, der nun von einer Arbeitsgruppe geprüft werden soll. Die TREVI-Gruppe wird darüber hinaus nunmehr ein ständiges Sekretariat einrichten, „das bis zur Aufhebung der Bin-nengrenzen ausschließlich zum polizeilichen Bereich arbeiten soll“ (El País, 7.6.89).