Verfassungsschutz und Organisierte Kriminalität

von Otto Diederichs

Wenn Geheimdienste auf aktuelle Veränderungen der politischen Weltlage schnell und dabei noch analytisch richtig reagieren, so gehört dies eher zur Ausnahme als zur Regel. Einer dieser seltenen Fälle findet sich in den Begleiterscheinungen der deut-schen Vereinigung. Vom rasanten Zerfall des „Ostblocks“ waren die Zentralen von Verfassungsschutz (VfS) und Bundesnach-richtendienst (BND) in Köln und Pullach noch überrascht worden – eines aber begriff man dort sofort: die eigene Existenz-berechtigung würde Risse bekommen. Mit der bisherigen Standardbegründung, dem Abwehrkampf gegen die Weltherr-schaftsbestrebungen des Kommunismus, ließ sich künftig innen- und außenpolitisch nicht mehr überzeugend argumentieren. Neue Aufgaben mußten her.

Im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) legte man daher bereits im März 1990 eine Analyse über „Auswirkungen der politischen Veränderungen in der DDR und der osteuropäischen Staaten“ vor, die offenkundig nur einen Zweck verfolgte: Argumente für die absehbare Diskussion um die Notwendigkeiten eines Weiterbestandes des Amtes zusammenzutragen. Konsequenterweise machte man sich in dem rund 20seitigen Papier aus dem Büro von BfV-Präsident Gerhard Boeden nach der Selbstbetrachtung auch gleich Gedanken um mögliche neue Aufgabenfelder.

Unter der Überschrift: „Neue Aufgaben für den Verfassungsschutz“ heißt es: „Die Organisierte Kriminalität läßt in zunehmendem Maße Ansätze für die Entstehung mafioser Strukturen erkennen. Diese Entwicklung wird sich auf ein vereintes Deutschland ausdehnen. (…) Diesen Angriffen darf nicht nur im Einzelfall mit strafrechtlichen Mitteln begegnet werden; eine planmäßige Bekämpfung dieser kriminellen Vereinigungen ist vielmehr bereits im Vorfeld erforderlich. Die Vorfeldarbeit kann von der Polizei nicht oder nur un-zureichend geleistet werden, da sie entweder Anhaltspunkte für das Vor-liegen einer konkreten Gefahr (Prävention) oder aber einen entsprechenden Verdacht einer Straftat (Repression) benötigt, um handeln zu können. Deshalb sollte die Vorfeldbeobachtung einer Institution zugewiesen werden, die nicht über exekutive Befugnisse verfügt. (…) Die Vorfeldarbeit im Be-reich der Organisierten Kriminalität (insbesondere beim Rauschgift) könnte den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder zugewiesen wer-den. Der bisherige Aufgabenbegriff des „Staatsschutzes/Verfassungs-schutzes“ für diese Behörden müßte erweitert werden. Zu denken wäre an den Begriff „Amt für Innere Sicherheit“. Eine weitere Aufgabe könnte künf-tig die Aufdeckung und Verhinderung sensitiver Exporte sein. Derartige Exporte belasten das Ansehen Deutschlands im Ausland in erheblichem Maße“.1

Mit sicherem Gespür hatte der einstige Vizepräsident des Bundeskriminalamtes damit die ihm wohlvertraute Diskussion um die Bekämpfung der OK aufgegriffen. Obwohl das hausinterne Papier seinerzeit sehr bald auch in der Presse wiederzufinden war, kam es zunächst zu keinen nennenswerten öffentlichen Reaktionen. Anläßlich des 40jährigen Bestehens des BfV am 27. September 1990 vertiefte Boeden seine Überlegungen dann in Form seines Festvortrages:
„Eine zukunftsorientierte Frage, die ich hier nur hypothetisch in den Raum stellen möchte, ist, ob infolge der politischen Veränderungen neben der Neu-bestimmung der Schwerpunkte der vom Gesetz beschriebenen Aufgaben nicht auch vom Verfassungsschutz neue Aufgaben in anderen Bereichen der Krimi-nalitätsbekämpfung übernommen werden sollten. Die Bekämpfung der sich international ausbreitenden organisierten Kriminalität darf sich, wenn sie er-folgreich sein soll, nicht nur auf strafrechtliche Maßnahmen beschränken. Vielmehr ist die Chance, mit ihr fertig zu werden umso größer, je früher der Aufbau mafioser Strukturen aufgeklärt wird.

Diese systematische Vorfeldarbeit könnte von der Polizei oder dem Verfas-sungsschutz geleistet werden.
Die Polizei ist bekanntlich nicht nur im repressiven, sondern auch im prä-ventiven Bereich tätig. Nach der aktuellen Rechtslage kann sie hier jedoch nur einschreiten, wenn Anhaltspunkte für das Vorliegen einer konkreten Gefahr vorhanden sind. Bei Entstehen krimineller Strukturen ist diese regelmäßig noch nicht gegeben. Konkret wird die Gefahr vielfach erst dann, wenn sich die kriminellen Gebilde so verfestigt haben, daß eine vollkommene Zerschlagung nicht mehr gelingt.
Wollte man der Polizei diese Vorfeldarbeit übertragen, so müßte ihr gesetzli-cher Auftrag entsprechend erweitert werden.
Ihr neben den Exekutivbefugnissen in diesem Bereich auch das Recht zum Gebrauch nachrichtendienstlicher Mittel einzuräumen, ist rechtspolitisch nicht unproblematisch.

Es ist fraglich, ob eine solche Kompetenzhäufung mit dem Geist des Tren-nungsgebotes vereinbar ist. Außerdem entsteht leicht der Vorwurf einer Ge-heimpolizei.
Ob man den Verfassungsschutz mit dieser Aufgabe betrauen soll, ist zumindest nachdenkenswert, da die Aufklärung im Vorfeld strafbarer Handlungen – insbesondere bei der Spionage- und Terrorismusbekämpfung – schon jetzt seine Domäne ist. Ein Konflikt mit dem Trennungsgebot bestände nicht.

Es könnte weiter überlegt werden, den Verfassungsschutz mit der systematischen Aufklärung in der Bundesrepublik Deutschland über Lieferungen sensitiver Stoffe und Anlagen in Krisengebiete zu beauftragen. Damit wäre auch in den Fällen eine lückenlose Aufklärungsmöglichkeit im Inland gegeben, in denen der Anfangsverdacht z.B. durch Auslandsaufklärung des BND entstanden ist.2

Die Idee gewinnt Freunde

Was im Frühjahr 1990 noch als höchst untauglicher Einfall eines pensionsreifen Amtsleiters hätte abgetan werden können, entwickelte sich nun zielstrebig zu ernsthaften überlegungen. Unter dem Eindruck des Krieges gegen den Irak verschob sich die Debatte zunächst jedoch in Richtung auf eine Überwachung von Rüstungsexporten. Der Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt, Lutz Stavenhagen, und Hans Neusel, Staatssekretär im Bonner Innenministerium, regten entsprechende Gesetzesänderungen an, da das Kölner Amt nach ihrer Ansicht für eine solche Aufgabe genau „die geeignete Behörde“ sei und legten gleich die entsprechenden Gesetzesinitiativen vor. Nun erst regte sich, wenn auch nicht sonderlich laut, öffentlicher Protest. Der Bundesbeauftragte für Datenschutz, machte verfassungsrechtliche Bedenken geltend. Waren sie auch schwach, so reichten die Proteste doch aus, Staatssekretär Neusel zu veranlassen, seine Vorschläge zu „Formulierungshilfen“ für das Wirtschafts-ministerium umzudeuten.3 Die Diskussion um den möglichen Einsatz des Verfassungsschutzes im Rahmen der OK-Bekämpfung war damit jedoch keinesfalls beendet, sondern wurde immer abstruser. So etwa, wenn der innenpolitische Sprecher der Bonner SPD-Fraktion einerseits zwar davor warnte, die Kompetenzen des Verfassungsschutzes „mit polizeilichen Aufgaben anzureichern“, gleichzeitig jedoch dafür eintrat, stattdessen den Bundesnachrichtendienst mit der Untersuchung von Rüstungsexporten, Drogen-Handelsrouten und Organisierter Kriminalität außerhalb der Bundesrepublik zu betrauen.4 Ein Gedanke, den mittlerweile auch Kanzleramtsminister Stavenhagen recht brauchbar findet.5

Zwar sind diese Überlegungen bislang weder in das neue Bundesverfassungs-schutzgesetz (BVerfSchG)6 noch in das OrgKG eingegangen, und auch die zwischenzeitlich einmal favorisierte kleine Lösung, dem Zollkriminalamt (ZKA) geheimdienstliche Zusatzbefugnisse zu übertragen, wurde nicht umgesetzt. Ausgestanden ist das Ganze damit allerdings noch nicht. Vielmehr ist damit zu rechnen, daß die Debatte um den Einsatz deutscher Nachrichtendienste im Bereich der OK regelmäßig wieder aufbrechen wird. So fatal es ist und so absurd es im Rahmen dieses Schwerpunktheftes auch klingen mag, der wichtigste Verbündete bei der Abwehr solcher Bestrebungen ist in diesem Fall die Polizei selbst, der an einer Beschneidung ihrer Kompetenzen nicht gelegen sein kann und auf deren erbitterten Widerstand man hier nur hoffen kann. Die Polizei ist – bei aller Kritik – dem Legalitätsprinzip unterworfen, aus ihren Erkenntnissen folgen im allgemeinen auch Ermittlungen und gegebenenfalls Anklagen. Staatsanwälte können ihr Weisungen erteilen. Das alles gilt für Verfassungsschutz und BND nicht. Sie informieren ihre Länder-regierungen, bzw. die Bundesregierung. Alles weitere ist dann allein eine Frage der politischen Opportunität.

1 „Auswirkungen der politischen Veränderungen in der DDR und der osteuropäi-schen Staaten auf den Verfassungsschutz“; interne Analyse des VfS
2 Gerhard Boeden, „Vierzig Jahre Verfassungsschutz“
3 Die Tageszeitung, 29.1.91
4 Berliner Morgenpost, 25.1.91
5 Der Spiegel, 20.5.91
6 vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 38, 1/1991, S. 88 ff.