Asyl- und Ausländerpolitik zur Parteienprofilierung – Beispiel: Der aktuelle Konflikt um die Abschiebung von Kurden

von Britta Grell

Carl-Dieter Spranger, CSU-Politiker und Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, hatte einmal Recht. Als er Ende Februar in einem Zeitungsinterview vor der „Fehleinschätzung“ warnte, mit dem sog. Asylkompromiß sei die „Ausländerfrage in der Bundesrepublik vom Tisch“, reagierten FDP- und SPD-Politiker zunächst noch empört mit Rücktrittforderungen. Nur wenige Wochen später, nach ‚Newroz‘, dem kurdischen Neujahrsfest, waren „Ausländerkriminalität“ und deutsche Überfremdungsängste in den Mittelpunkt des Wahlkampfes gerückt: Bundesweite Protestaktionen und heftige Auseinandersetzungen kurdischer DemonstrantInnen mit der Polizei lieferten einen willkommenen Anlaß, die von parteipolitischem Kalkül getragene Asyldebatte des vergangenen Jahres mit neuer Munition fortzusetzen.

Unmittelbar nach dem ‚Newroz‘-Wochenende Mitte März – das in der Bundesrepublik mit staatlichen Veranstaltungsverboten und massiven polizeilichen Aufmärschen begann und mit zwei Selbstverbrennungen, Hunderten von Verletzten und ca. fünfhundert Festnahmen endete – hatte eine partei- und presseübergreifende Kampagne gegen die Proteste der KurdInnen als „neue Dimension des Terrors“ eingesetzt. „Deutschland blickt einem neuen Sicherheitsproblem entgegen …“, kommentierte die Frankfurter Allgemeine, und sah das deutsche Gemeinwesen in bisher unbekannter Gefahr. Von zahlreichen Unionspolitikern wurden die an den Protesten beteiligten Menschen, ungeachtet der Tatsache, daß es sich bei ihnen zu einem großen Teil um deutsche StaatsbürgerInnen oder anerkannte AsylbewerberInnen handelte, kurzerhand für ‚vogelfrei‘ erklärt: Wer das Gastrecht verletze oder in unerträglicher Weise mißbrauche, solle sich später nicht auf deutsche Gesetzestexte berufen können. Sonderverträge mit der türkischen Regierung und Sondergefängnisse für abgeschobene Kurden wurden in Aussicht gestellt. Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz präsentierten begleitend angebliche „Querverbindungen“ zwischen der kurdischen PKK und der RAF. Selbst der Vorschlag von CDU-Geschäftsführer Wolfgang Schäuble zum Einsatz der Bundeswehr im Innern gegen den „grenzüberschreitenden Terrorismus“ geriet erneut in die Debatte.

Polternde CSU – leise SPD

Während Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) lautstark vorpreschte und öffentlich darüber nachdachte, wie die den Eilabschiebungen im Wege stehenden Entscheidungen der Justiz zu umgehen seien, drangen erste Nachrichten über Festnahmen und mutmaßliche Folterungen an abgeschobenen Flüchtlingen in die deutsche Öffentlichkeit. Die Istanbuler Menschen-rechtsorganisation ‚IHD‘ bestätigte Vermutungen, wonach aus westeuropäischen Ländern abgeschobene kurdische AsylbewerberInnen stets schon am Flughafen von der berüchtigten türkischen Anti-Terror-Polizei ‚Siyasi Polis‘ in Empfang genommen werden. Dennoch war es mit Frieder Birzele in Baden-Württemberg gerade ein sozialdemokratischer Innenminister, der die erste erfolgreiche Abschiebung eines bei den Protestaktionen Anfang April verhafteten Kurden vorweisen konnte. Der Mann, gegen den bereits ein Aus-weisungsbescheid vorgelegen hatte, war in Mannheim im Vorfeld einer Trauerfeier für die zwei an ihren Selbstverbrennungen gestorbenen kurdischen Demonstrantinnen festgenommen und kurz darauf ins Flugzeug gesetzt worden. Nordrhein-Westfalens Innenminister Schnoor (SPD) gab wenig später bekannt, seit Januar 1993 mehr als 1.000 KurdInnen in die Türkei abgeschoben zu haben, Hessen berichtete von über 100 Fällen seit Herbst 1993.

Als unter der zunehmenden Kritik der liberalen Öffentlichkeit die Bundesre-gierung nicht mehr umhinkam, Hinweisen auf Folterungen an abgeschobenen KurdInnen in Ankara nachzugehen, befürchteten sozialdemokratische Innen-minister offenbar, politisch ins Hintertreffen zu geraten. Am 20. Mai erließen Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und das Saarland als erste der SPD-geführten Bundesländer einen vorläufigen Abschiebestopp, die übrigen sollten im Laufe der nächsten Tage folgen. Der damit ausgebrochene Streit zwischen Bonn und den jeweiligen Landesregierungen über einen Alleingang der SPD-Innenminister zeigt einmal mehr, wie sehr die KurdInnen in der Bundesrepublik in der Zwischenzeit als Spielball parteipolitischer Auseinandersetzungen mißbraucht werden. So sehr die Maßnahmen der SPD-Bundesländer aus Sicht der konkret Betroffenen auch zu begrüßen sein mögen, eine Abkehr der SPD von den Leitlinien der herrschenden ‚Kurdenpolitik‘ stellen sie nicht dar. Noch weniger können die zaghaften Oppositionsversuche der Länder über die grundsätzliche Verstrickung der SPD in die von Abschottung, Ausgrenzung und Abschreckung geprägte bundesdeutsche asyl- und ausländerpolitische Praxis hinwegtäuschen. So gelten die drei- oder sechsmonatigen Aussetzungen von Abschiebungen in den meisten Bundesländern generell nicht für Straftäter und nur für KurdInnen aus dem Südosten der Türkei. Auch die Äußerungen des SPD-Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping zeugen in allererster Linie von Oppor-tunismus gegenüber den vermeintlichen Erfordernissen der Tagespolitik. So spricht Scharping an einem Tag davon, die Türkei beginge in Kurdistan einen „Völkermord“, um dann knapp 14 Tage später zu erklären, auch er würde „jeden Kurden in die Türkei abschieben, der sich hier gewaltätig verhält, andere Leute bedroht oder sonst Gesetze mißachtet“. Seine Einschränkung, dem Betreffenden dürfe weder Folter noch Todesstrafe drohen, muß dabei ebenso zynisch wirken wie der Versuch deutscher Gerichte, die Westtürkei zur „inländischen Fluchtalternative“ zu erklären.

Unter Druck

Nach dem jüngsten Scheitern einer bundesweit einheitlichen Regelung zum Umgang mit kurdischen Flüchtlingen gerät die SPD nun erneut unter den massiven Druck der Unionsparteien. Mit mehrfach erprobtem sicherem Instinkt nutzen die Hardliner der CDU/CSU die Schwachstelle der Sozialdemokraten. Wer in diesem, gegenwärtig von einer rassistischen Grundstimmung beherrschten Land lange genug behauptet, die SPD fordere mit ihren Abschiebestopps „im Ausland lebende Menschen geradezu auf, nach Deutschland einzuwandern“ oder die SPD „ermutige Schlepperorganisationen weiter ihr Unwesen zu treiben“, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht lange auf ein Einlenken warten müssen.

Noch gut in Erinnerung ist der vorherige Kanzlerkandidat der SPD, Björn Engholm, und sein Zurückweichen vor der ‚Das Boot ist voll‘-Hysterie in einer innenpolitisch entscheidenden Situation: Als an nahezu jedem Wochenende irgendwo in Deutschland Flüchtlingsunterkünfte brannten und Rostock-Lichtenhagen zum Symbol von klammheimlicher Kollaboration des Staates mit einem rassistischen Straßenmob wurde, machte u.a. Bundeskanzler Kohl (CDU) selbst, das Festhalten der SPD am Grundrecht auf Asyl für die Lynch-Atmosphäre im Lande verantwortlich. Fast panikartig faßte die SPD-Spitze in der Folge die sog. Petersberger Beschlüsse und sorgte dafür, daß parteiinterne KritikerInnen zur Räson gerufen wurden. Als ‚Belohnung‘ dafür wurde den Sozialdemokraten Vernunft und Handlungsfähigkeit attestiert, und einer gemeinsamen Demontage des Grundgesetzes am 1.7.93 stand nichts mehr im Wege. Als kurz darauf durch die tödlichen Pogrome von Mölln und Solingen das Ansehen der Bundesrepublik endgültig weltweit Schaden nahm, stellte die Bundesregierung den über zwei Millionen türkischen ImmigrantInnen in der Bundesrepublik schließlich die doppelte Staatsbürgerschaft in Aussicht. Nichts, aber auch gar nichts, hat sich seitdem zum Positiven für die ausländischen Menschen in Deutschland verändert. Viele der circa. 400.000 KurdInnen leben seit Jahrzehnten hier, ihre Kinder sind hier geboren und aufgewachsen und doch werden sie nicht als eigenständige Minderheit anerkannt und gefördert. Die türkische Regierung hat statt dessen das PKK-Verbot nun auch in der Bundesrepublik durchgesetzt. Durch dieses Verbot, das über 35 Kulturverbände, Nachrichtenagenturen und Verlage miteinschließt, wird jegliche gewaltfreie und demokratische Öffentlichkeits-arbeit kurdischer Gruppen behindert und im Grunde jede Alternative zur PKK zunichte gemacht: Wenn von allen kurdischen Organisationen allein die PKK in der Lage ist, beim türkischen Bündnispartner Deutschland Reaktionen hervorzurufen und jedweder andere (friedliche) Protest weiterhin schlichtweg der Ignoranz zum Opfer fällt, wird die Zahl der PKK-SymphatisantInnen – worauf selbst deutsche Verfassungsschützer wiederholt hingewiesen haben – in der Bundesrepublik auch in Zukunft kräftig in die Höhe schießen.

Es bleibt abzuwarten, ob bei der nächsten (absehbaren) Konfrontation zwischen kurdischen DemonstrantInnen und staatlichen Sicherheitskräften die aus den Reihen der Union angedrohten Verschärfungen des Ausländergesetzes tatsächlich in die Tat umgesetzt werden, und ob der Tatbestand des Landfriedensbruchs, wie von Bayerns Innenminister vorgesehen, in Zukunft zur Abschiebung auch in Folterstaaten ausreichen wird. Sollte es soweit kommen, würde dieser Schritt quasi ein politisches Betätigungsverbot für alle hier ohne deutschen Paß lebende Menschen bedeuten, da allein die Teilnahme an einer nicht-genehmigten oder unfriedlich verlaufenden Demonstration ihr Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik schlagartig und notfalls ohne Gerichtsverfahren beenden könnte.
Die SPD wird sich nach den vergangenen Monaten noch mehr anstrengen müssen, auf dem Feld der Asyl- und Ausländerpolitik den Unionsparteien nicht ständig hinterherzulaufen. Entweder entscheidet sie sich, weiterhin eine schlechte Kopie der CDU zu bleiben, oder sie besinnt sich auf die vertane Chance des vergangenen Jahres. Damals, im Früjahr 1993 im Vorfeld des sogenannten Asylkompromisses, so wird heute gemunkelt, hätte eine realistische Möglichkeit bestanden, sowohl ein Einwanderungsgesetz wie auch eine Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts gegenüber den Regierungsparteien durchzusetzen.

Nachtrag: Das Bundeskriminalamt hat für April dieses Jahres einen erneuten Anstieg der „fremden- und ausländerfeindlichen Delikte“ bekanntgegeben. Dabei handele es sich um vier Brandanschläge, 46 Angriffe auf Personen und 195 sonstige Straftaten.

Britta Grell, Redaktionsmitglied von Bürgerrechte & Polizei/CILIP und Mitarbeiterin der ‚Antirassistischen Initiative e.V.‘ in Berlin
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.