100 Jahre Sicherheitsinsel Schweiz – Innere Sicherheit im Gotthardtunnel

von Catherine Weber

Im Juni 1889 gab die Schweiz dem Drängen Bismarcks nach und führte eine ständige Bundesanwaltschaft und damit die politische Polizei ein. Damit war gesichert, daß die Schweiz keine „Sicher-heitsinsel“ für deutsche Sozialisten wurde, die sich in die Schweiz geflüchtet hatten. Der Bundesrat (Exekutive) nutzte die Gunst der Stunde und ’sicherte‘ sich zugleich die Bespitzelung der eigenen Bürgerinnen und Bürger. Wie weit diese ging, zeigte der 100 Jahre später aufgeflogene ‚Fichenskandal‘. Eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK), die die Geschäftsführung des ‚Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes‘ (EJPD = Justiz- und Polizeiministerium) durchleuchten sollte, fand bei der Bundespolizei (BUPO) Karteien und Akten über ca. 900.000 Personen und Organisationen fast ausschließlich des linken und grünen Spektrums sowie Ausländerinnen und Ausländer. Der ‚Fichenskandal‘ führte aber nicht zur Abschaffung der Politischen Polizei, sondern im Gegenteil zu ihrer Modernisierung und Zentralisierung. Wie schon 100 Jahre zuvor ist es auch diesmal wieder äußerer Druck, der gelegen kommt, die Überwachungsstrukturen auf- und auszubauen: Die Schweiz dürfe nicht zur ‚Sicherheitsinsel‘ in Europa werden.

Im Oktober 1990 beauftragte der Vorsteher des EJPD, Arnold Koller, eine ‚Expertenkommission Grenzpolizeiliche Personenkontrolle‘ (EGPK), um zu prüfen, wie verhindert werden könne, daß die Schweiz zu einer ‚Sicher-heitsinsel‘ im EG-Europa werde. Im Januar 1993 bereits präsentierte die EGPK ihr Schlußpapier „Nationale und grenzüberschreitende Probleme im Bereich der Inneren Sicherheit“. Darin heißt es u.a.: „Grenzkontrollen stellen eines der wichtigsten Mittel zur Bekämpfung von unkontrollierten Wanderungsbewegungen, des organisierten und des internationeln Verbrechens und des gewalttätigen Extremismus dar, weil nach wie vor ein Großteil der Straftäter bei Grenzkontrollen festgenommen wird. Die mit der Einführung des freien Personenverkehrs beabsichtigte Aufhebung der Binnengrenzen unter den Schengener Staaten (…) hat deshalb weitreichende Folgen, die sich auch auf die Schweiz erstrecken.“ Die EGPK übernahm nicht nur die Schen-gener Begrifflichkeiten (Kompensationsmaßnahmen), sondern auch weitgehend deren politische Konzepte: verstärkte internationale Zusammenarbeit, Computerisierung und Zentralisierung und eine weitere Verpolizeilichung des Ausländer- und Asylrechts. Gleichzeitig führte sie den leeren Begriff der ‚Inneren Sicherheit‘ in die Schweizer Debatte ein.

Bekanntes Muster: Zuerst die Praxis, dann ein Gesetz

Gestützt auf den EGPK-Bericht führte Koller zunächst auf Verordnungs- und Weisungsebene unter Umgehung jeglicher parlamentarischer Debatte neue Bestimmungen ein. Die Ausarbeitung eines Staatsschutzgesetzes wurde verschoben. Statt dessen wurde im Oktober 1992 eine neue Staatsschutzverordnung (ISIS) in Kraft gesetzt, die das Computerzeitalter beim Staatsschutz einläutete. Bereits im Mai 1994 waren dann wieder über 40.000 Personen im ISIS-Computersystem registriert (davon angeblich ’nur‘ 800 SchweizerInnen). Der neuen Staatsschutzdatei folgte noch im Januar 1993 die Drogendatenbank DOSIS, die erst am 23.3.94 durch eine entsprechende Verordnung legitimiert wurde. Das Recht auf Einsicht in bzw. Auskunft aus dieser Datei wird vorläufig ganz verweigert.

Im Juli 1993 erfolgte der Ausbau des computerisierten (Grenz-)Fahndungs-systems (RIPOL), dessen Kompatibilität mit dem Schengener Informations-system (SIS) gesichert ist, sowie eine Verordnung, mit der nun auch die Bundesanwaltschaft, also die politische Polizei, direkten Zugriff auf das Zentrale Ausländerregister (ZAR) erhielt. Im Dezember 1993 schloß die Schweiz ein Rückübernahmeabkommen für abzuschiebende AusländerInnen (inkl. Durchbeförderungsklausel) mit Deutschland. Ähnliche Abkommen mit Ungarn, Polen, Slowenien und Kroatien waren bereits unter Dach und Fach. Am 13.6.94 verabschiedete der Bundesrat ein Abkommen mit Bulgarien. Ziel all dieser Abkommen ist in erster Linie die „Repatriierung von Asylsuchenden, (…) eine Regelung, die der Schweiz die Wegweisung von Personen erleichtert, wenn es keine direkten Flugverbindungen zwischen der Schweiz und der Heimat des abzuschiebenden Ausländers gibt.“ Weitere Abkommen mit Rumänien und Mazedonien sind in Vorbereitung. Die ‚Insel Schweiz‘ hat dabei vor allem die Abschiebung von asylsuchenden Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten in Ex-Jugoslawien im Auge. Mit dem Fast-EU-Mitglied Österreich gründete die Schweiz im Dezember 1993 ebenfalls eine „Clearingstelle“ zur „Abwehr von Migration aus Osten“ unter dem Titel „International Center for Migration Policy Development“. Sie dient als „Frühwarnstelle über Migrationsbewegungen und als Brückenfunktion zu den mittelost- und osteuropäischen Staaten“. Beide Staaten wünschen sich eine Beteiligung (v.a. auch finanzieller Art) aller EU- und EWR-Staaten. Zwar ist die Schweiz bereits durch diese bilateralen Abkommen in das Rückschiebungssystem der Festung Europa eingebunden, angestrebt wird ferner aber eine Assoziierung zum Dubliner Erstasylabkommen der EU-Staaten.

„Flink und Fett“ gegen „Links und Nett“

Hauptsächlich die verfahrene Situation einer gescheiterten repressiven Dro-genpolitik in Zürich war es, die im Sommer/Herbst 1993 die Debatte um die ‚Innere Sicherheit‘ zu einer regelrechten Schlammschlacht ausarten ließ. Im Vorfeld der Wahlen in der Bankenstadt im April 1994 versäumte die rechtsaußen situierte ‚Schweizerische Volkspartei‘ (SVP) keine Gelegenheit, den „Linken und Netten“ die Schuld am Drogenelend und der angeblich gestiegenen Kriminalität zuzuschieben. Unterstützung erhielt die SVP von der Polizei, die sinnlose Razzien in der offenen Drogenszene durchführte, um danach lauthals überfüllte Gefängnisse zu beklagen.
„Flink und fett“ eroberten die Rechten mit dieser einfachen Logik viele Sitze im Stadt-Parlament zurück. Die „Linken und Netten“ (Sozialdemokra-ten und Grüne) konnten sich zwar knapp behaupten, die Schlammschlacht um die ‚Innere Sicherheit‘ aber weitete sich auf das ganze Land aus und gibt einen schalen Vorgeschmack auf die nationalen Parlamentswahlen im Herbst 1995. Die konservativen Parteien (Freisinnig Demokratische Partei/FDP und Christlichdemokratische Volkspartei/CVP) standen unter dem Druck, sich gegen rechtsaußen abzugrenzen und präsentierten Schlag auf Schlag dicke ‚Sicherheitskonzepte‘. Was vor drei Jahren innenpolitisch noch undenkbar gewesen wäre, ermöglichte jetzt eine pauschale und diffus geführte Angst-kampagne. Einwände und Proteste von links-grüner Seite kamen viel zu spät und wirkten eher hilflos. So präsentierte Bundesrat Koller (CVP) im Februar 1994 ein Aktionsprogramm zur ‚Inneren Sicherheit‘ mit über 60 Programmpunkten. Das eigens eingerichtete ‚Sicherheits-Telefon‘ für besorgte Bürgerinnen und Bürger allerdings erwies sich als Flop und wurde bereits kurze Zeit später mangels Nachfrage eingestellt. Einen Monat später verabschiedete das Parlament im Eiltempo ein Gesetz über ‚Zwangsmaßnahmen im Ausländerrecht‘, u.a. die Einführung von Ausschaffungsgefängnissen und die Verlängerung der Ausschaffungshaft, Vorbereitungshaft (im Asylverfahren), ein Zulassungsverbot für bestimmte Gebiete sowie die Durchsuchungsbefugnis für Räumlichkeiten von Drittpersonen (AnwältInnen, Kirchenasyl). Das Referendum gegen dieses Gesetz erreichte zwar das nötige Quorum von 50.000 Unterschriften, dürfte in der Abstimmung aber keine Chancen haben.
Ebenfalls im März 1994 legte der Bundesrat dem Parlament den Entwurf zu einem Staatsschutzgesetz vor, das nunmehr ‚Bundesgesetz über Maßnahmen zur Wahrung der Inneren Sicherheit‘ heißt. Entstehen soll ein neues ‚Bundes-amt für Innere Sicherheit‘, vergleichbar etwa dem deutschen ‚Bundesamt für Verfassungsschutz‘. Die Liste der öffentlichen und privaten Stellen, die Zu-gang zu Staatsschutzdaten erhalten sollen, ist ausufernd. Die Einsichts- und Auskunftsrechte der Betroffenen dagegen minimal.
Im Juni 1994 beriet der Ständerat (Kantonskammer des Parlaments) erstmals die Gesetzesvorlage zu einer ‚Zentralstelle zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität‘. Diese soll – stark zentralistisch ausgerichtet – mit einem eigenen Datenverarbeitungssystem ausgerüstet werden und Verbindungsbeamte im Ausland führen. Auch für diese OK-Vorfeld-Ermittlungsakten soll nur ein minimales Auskunftsrecht der Betroffenen gelten. Ganzen ethnischen Gruppen kann die Auskunft total verweigert werden.
Im Juli 1994 begann die Ausgabe einer neuen, maschinenlesbaren Identitäts-karte, wofür bei der BUPO eigens eine neue zentrale Datei eingerichtet wurde, die die Personalien, Photos und die handschriftliche Unterschrift der KarteninhaberInnen sowie die Begründung, weshalb sie eine ID-Karte beantragt haben, gespeichert werden.

Ein BKA im Gotthardtunnel?

Daß die Wunschliste der ‚Inneren Sicherheit‘ noch keineswegs abgeschlossen ist, zeigen die forschen Ideen einer ansonsten eher im stillen tagenden Insti-tution, der ‚Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren‘ (KKJPD) vom 15.4.94. Regierungsrat Jörg Schild, Vorsteher des Basler Ju-stizdepartements und ehemals Drogenfahnder bei der BUPO, träumt von einem Bundeskriminalamt nach deutschem Muster. Föderalistische Polizei-strukturen und damit auch die kantonalen parlamentarischen Kontrollen möchte er praktisch aushebeln. Der Basler Polizeichef Markus Mohler – einst verwickelt in die Vorgänge um die Schweizer Geheimarmee P 26 – macht sich stark für eine europäische Polizeiakademie mit Sitz in Basel. Der Tessiner Regierungrat Alex Pedrazzini schlägt weitere „Maßnahmen gegen die illegale Migration“ vor: Grenzkontrollen mittels Armee-Einsatz und Kamera-Überwachung; besonders originell: Tiefenkontrollen etwa im Gotthardtunnel, einer „Straßentunnelröhre, aus der es kein Entfliehen gibt“; Einschleusung von „Spitzeln in Migrationskreise“ und Wiedereinführung des ‚R‘-Stempels („refoulé“ = zurückgewiesen) in Pässe von abgewiesenen Personen. Die Schweizer Flughäfen Zürich und Genf sollten als europäische Flughäfen deklariert werden, was die Anwendung von Überwachungsmaßnahmen nach europäischen Standards ermöglichen würde.

Fehlende Grundsatzdebatte über Freiheit und Sicherheit

Im Juli 1993 wurde mit dem Datenschutzgesetz die Institution des Daten-schutzbeauftragten geschaffen. In seinem ersten Bericht warnt Odilo Guntern davor, daß zu viele Personen Zugriff auf Polizeidaten haben, und zuwenigen Personen Einsicht gewährt werde: „Es darf nicht sein, daß man mit einem formellen Gesetz die Verfassung verletzt“.

Für die Linke ist die Zeit überreif, das Thema Überwachungs- und Polizeistaat offensiv zu diskutieren. Was jetzt an den ‚kriminellen Ausländern‘, bzw. unter dem Vorwand von ‚Organisierter Kriminalität‘ an Kontroll- und Überwachungsstrukturen aufgebaut und geprobt wird, kann und wird sich letztlich gegen alle politischen Oppositions- und sozialen Protestbewegungen richten. „Statt neue Mauern im nationalen und im europäischen Maßstab auf-zubauen, wäre eine Grundsatzdebatte über Freiheit und Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft nötig“, postuliert SP-Nationalrat Paul Rechsteiner treffend. „Dringend angesagt wäre diese Debatte auch, weil für den herr-schenden Wirtschaftsliberalismus die Freiheit im Bereich der Ökonomie gilt, da aber möglichst umfassend, während der übrigen Gesellschaft Sicherheit und Kontrolle verordnet werden sollen.“

Im Oktober 1992 wurde eine von über 100.000 Personen unterzeichnete Volksinitiative eingereicht. Sie verlangt eine „Schweiz ohne Schnüffelpoli-zei“. Ob sie sich gegen die Angstkampagne durchsetzen kann, ist gegenwärtig noch offen.

Catherine Weber ist Sekretärin des Komitees ‚Schluß mit dem Schnüffelstaat‘ und Redakteurin der vom Komitee herausgegebenen vierteljährlichen Zeitschrift ‚Fichen-Fritz‘
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.