Die Telefonüberwachung – Oder: Die ältere Schwester des Lauschangriffs

von Otto Diederichs

Zwar garantiert das Grundgesetz der Bundesrepublik von 1949 in seinem Artikel 10 die Unverletzlichkeit des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. Bereits der zweite Absatz des Artikels relativiert dies jedoch schon wieder: „Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden.“ Die gesetzliche Grundlage besteht seit 1968 und sie wird mit steigender Tendenz genutzt. Gegenüber dem ‚Großen Lauschangriff‘, der seit rund zwei Jahren in aller Munde ist, wird – gänzlich zu Unrecht – dessen ältere Schwester, die Telefonüberwachung, gern vergessen.

Während die Abhörbefugnisse für das Bundesamt für Verfassungsschutz in einem eigenen Gesetz geregelt sind, denen zu unterschiedlichen Zeitpunkten Abhörgesetze auf Länderebene folgten, hat man die Grundlagen für die Polizei lediglich in der Strafprozeßordnung (StPO) verankert. Für die Kontrolle geheimdienstlicher Lauschaktionen wurden Parlamentsgremien, die sog. G-10-Kommissionen, geschaffen. Die Kontrolle der polizeilichen Abhörpraxis obliegt Richtern und Staatsanwälten. Beide Verfahren haben sich in der Praxis jedoch längst als unzureichend erwiesen. So sind die Mitglieder der (geheim tagenden) G-10-Kommissionen zu Stillschweigen verpflichtet, und bei Staatsanwalt- und Richterschaft handelt es sich zugleich auch um die Anord-nungsinstanzen, die sich im Augenblick einer Genehmigungsentscheidung quasi selbst kontrollieren.

Katalogstraftaten

Die Delikte, bei denen eine Telefonüberwachung (TÜ) durchgeführt werden kann, sind in 100a StPO abschließend genannt. Bei diesen handelt es sich zunächst um jenen Bereich, der den politischen Straftaten zuzuordnen ist, wie Hoch- und Landesverrat, Straftaten gegen die Landesverteidigung oder die Sicherheit der NATO-Truppen und ähnliches. Im weiteren dann um eine Reihe von Delikten ’nicht-politischer‘ Kriminalität: Geldfälschung, Mord, Menschelhandel, Geiselnahme, Bandendiebstahl, Raub und Erpressung sowie Verstöße gegen das Waffen- und das Betäubungsmittelgesetz. Dieser auf den ersten Blick noch recht überschaubar wirkende Rahmen sog. Katalogstraftaten ist jedoch kontinuierlich ausgeweitet worden (zuletzt durch das OrgKG von 1992 und das ‚Verbrechensbekämpfungsgesetz‘ von 1994) und umfaßt gegenwärtig ca. 80 Straftatbestände. In allen polizeilichen Ermittlungsverfahren, denen eines oder mehrere dieser Delikte zugrundeliegen, ist damit eine zunächst auf drei Monate befristete TÜ grundsätzlich möglich und rechtmäßig. Der regulär hierfür vorgesehene Weg sieht einen entsprechenden Antrag der Polizei vor, der von einem Richter bestätigt werden muß. Eher als Ausnahmeregelung für Fälle, in denen eine richterliche Anordnung nicht schnell genug zu erreichen ist (z.B. an Wochenenden), sieht die StPO eine Eilanordnung durch die Staatsanwaltschaft vor. Diese muß allerdings binnen drei Tagen von einem Richter oder einer Richterin bestätigt werden, ansonsten ist sie unverzüglich abzubrechen und evtl. Bandaufnahmen sind zu vernichten. Für ganz dringliche Fälle ist zudem die ‚Gefahr im Verzuge‘ vorgesehen, also eine Situation, in der unverzügliches polizeiliches Handeln gefordert ist, um z.B. eine Gefahr abzuwenden oder sonst unwiderbringliche Beweise zu sichern. „In der Praxis hat sich jedoch herauskristallisiert, daß die Polizei Gefahr im Verzuge sehr großzügig begründet und so den Richtervorbehalt umgehen kann (…)“, bilanziert hierzu die ‚Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizisten und Polizistinnen‘.

Hintertür 129 StGB

Gleichwohl sind durchaus Fälle denkbar, in denen das rechtliche Instrumentarium dennoch nicht ausreicht. So gelten z.B. Diebstahl, Hehlerei und Betrug nicht zu den Katalogstraftaten. „Organisierte Kriminalität spielt sich in einem großen Maße in den Bereich Diebstahl und Hehlerei ab. Aufgrund dieser Straftaten ist die Anordnung einer Telefonüberwachung aber nicht zulässig. Schlüssel zum Erfolg kann hier der durch entsprechende Ermittlungen untermauerte Verdacht einer kriminellen Vereinigung ( 129 StGB) sein,“ lautet die Antwort des Staatsanwaltes Michael Füllkrug, der hierzu auch gleich einige (zumindest recht fragwürdige) Beispiele liefert. Dabei kommt es nach Füllkrug „für die Verwertbarkeit der TÜ-Erkenntnisse nicht darauf an, ob sich der Verdacht eines Vergehens nach 129 StGB durch die weiteren Ermittlungen bestätigt.“ Gleiches gilt, so bleibt hinzuzufügen, im politi-schen Bereich für die Verwendung des 129a StGB (Bildung einer terroristi-schen Vereinigung ).

Viele Zahlen ohne Aussage

Nach einer Berechnung des Referenten für Strafverfolgung im nordrhein-westfälischen Innenministerium, Andreas Dickel, liegt das statistische Risiko eines Bundesbürgers, Opfer einer Telefonüberwachung zu werden, bei 1:10.000. Solche Rechenbeispiele sind ebenso problematisch wie etwa der von PolizeikritikerInnen gern gezogene Vergleich zwischen den TÜ-Zahlen der Bundesrepublik und den USA. Doch nicht nur im internationalen Vergleich fehlt es an gesichertem, nach einheitlichen Kriterien erhobenem Zah-lenmaterial. Auch für die Bundesrepublik allein ist es ausgesprochen schwie-rig, Informationen über den tatsächlichen Umfang der jährlichen Telefon-überwachungen zu gewinnen. Finden lassen sich – wenn auch mit etwas Mühe – Zahlen. Nur sind diese, um die Sprache des Computerzeitalters zu benutzen, untereinander nicht kompatibel. Zu verschieden sind die Berech-nungsgrundlagen. Schon bei der allgemein gebräuchlichsten Form, der Zählung nach Fällen gemäß der Befugnisnorm 100a/b StPO, sind Unterscheidungen zwischen richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Anordnung möglich. Ebenso die Trennung nach Anordnungsbeschlüssen und/oder überwachten Anschlüssen; nach Bundesländern und/oder Oberpostdirektio-nen/Generaldirektionen der Telekom, deren Zuständigkeit nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit den Grenzen der Bundesländer. Von 1990 bis 1992 wurden TÜ-Maßnahmen in den Bundesländern der ehemaligen DDR zudem von den Direktionen der alten Länder in ‚Patenschaft‘ mitübernommen. Einen weiteren Sonderfall bildet Berlin, wo bis 1990 die Überwachungsmaßnahmen über die Alliierten abgewickelt wurden. Für die vorherige Zeit liegt somit für Berlin überhaupt kein Zahlenmaterial vor.

Zum Teil versagt daher bei der Addition der öffentlich angebotenen Zahlen schon die einfache Arithmetik. In diesem Sinne kann es sich auch bei den in der Tabelle (auf S. 68) zusammengestellten Zahlen lediglich um Eckwerte handeln. Dies gilt umso mehr, als alle diese Zahlen noch nichts über die Per-sonen aussagen, die von einer TÜ erfaßt werden. Welche Dimensionen dies u.U. annehmen kann, erläßt sich ermessen, wenn man sich daran erinnert, daß im November 1987, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die Hamburger Hafenstraße, auch öffentliche Telefonzellen in deren Umgebung überwacht wurden. Oder wenn man weiß, daß im Zuge der Fahn-dung nach ‚Dagobert‘, dem bundesweit bekanntgewordenen Kaufhauserpresser, zeitweise bis zu 3.000 Telefonzellen in Berlin abgehört wurden.

Neue Forderungen …

„Mir – und damit sehe ich mich in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der Bürger und Bürgerinnen – liegt eine effektive Kriminalitätsbekämpfung heute und auch in Zukunft am Herzen, und für diesen Zweck ist die Telekommuni-kationsüberwachung – auf gesicherter rechtlicher Grundlage – ein unverzicht-bares Instrument,“ meldete sich unlängst der hessische Innenstaatssekretär Heinz Fromm mit der Sorge zu Wort, die Sicherheitsbehörden könnten den Anschluß an die moderne Technik verlieren. Neben Telefax, Btx und Mailbox sind es insbesondere die Digital- und Mobilfunknetze, die dem früheren Chef des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz Kummer bereiten. Dies nicht etwa, weil eine rechtliche Grundlage hierfür nicht mehr gegeben oder eine Überwachung hier technisch nicht möglich wäre, sondern weil die staatlichen Investitionskosten in die neuen Techniken immens sind und z.B. allein für die D-Netze ca. 40-50 Mio. DM betragen. Daher sollte nach Ansicht Fromms „verstärkt Einfluß auf die Systemhersteller genommen werden, damit sie bereits bei der Entwicklung neuer Telekommunikationssysteme entsprechende Überwachungskomponenten mit vorsehen.“ Eine Analyse der polizeilichen Bedürfnisse ist von der ‚AG Kripo‘ der Inneministerkonferenz bereits erarbeitet.

… Begrenzungen

Einhalt gebieten angesichts solcher omnipotenten Vorstellungen in der Überwachungspraxis lediglich die personellen und technischen, insbesondere aber die finanziellen Ressourcen. Nach Informationen aus den mit solchen Maßnahmen befaßten Fachdienststellen des BKA kostet eine TÜ je nach Umfang und Dauer bis zu 500.000 DM. Für das Abhören der D1- und D2-Mobilnetzfunke sind weitere Kostensteigerungen zu erwarten. Hier geht man von Beträgen zwischen 700.000 DM und einer Million DM aus.

Wenig versprechen sollte man sich hingegen von der Vorstellung, den Rich-tervorbehalt auszudehnen. Zurecht mahnt Werner Sack, Mitglied der ‚Neuen Richtervereinigung‘, hier zur Vorsicht, denn „Richtervorbehalte verhindern keine Grundrechtsverletzungen, sie kontrollieren lediglich deren Anlaß und Ausmaße.“

Geradezu wohltuend nimmt sich da ein Blick in die ältere Polizeiliteratur aus: „Es mag für die Strafverfolgungsorgane oft schmerzlich sein, auf Grenzen ihrer Tätigkeit zu stoßen mit der Folge, daß Straftaten unaufgeklärt bleiben. Aber stets sollten sie sich dessen bewußt sein, daß sie nicht nur durch die Strafverfolgung, sondern auch durch die Anerkennung ihrer Schranken Staats- und Kulturaufgaben dienen, und zwar solchen, die oft höher stehen als ihr nächstes Arbeitsgebiet.“

Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.