Polizeiliche Intelligence – Informationsverarbeitung und -auswertung als neue Strategie

von Sabine Strunk

Beschaffung und Speicherung von Informationen sowie deren Verarbeitung und Weitergabe sind seit jeher Grundlage kriminalpolizeilicher Tätigkeit, um aus vergangenen Ermittlungen und Erkenntnissen Aufklärungshinweise für aktuelle oder zukünftige Fälle zu gewinnen. Im Rahmen der pro-aktiven Verbrechensbe-kämpfung allerdings erweitert sich die Zielsetzung von der ‚Aufklärungsperspektive‘ hin zu einer Perspektive, die das frühzeitige Erkennen von Straftätern, die Verdachtsschöpfung, zum Gegenstand der Informationsverarbeitung macht. Die Übernahme der anglo-amerikanischen Terminologie ‚Intelligence‘ für den Prozeß der Auswertung signalisiert den skizzierten Strategiewandel und gibt dessen Richtung präziser an als der deutsche Begriff Auswertung: Gemeint ist die aktive Informationsgewinnung weit über das traditionell retrospektive polizeiliche Informationsfeld hinaus.

Die traditionelle Datensammlung richtete sich auf die Sammlung von Infor-mationen aus vergangenen Ermittlungen, die sich fast ausschließlich auf durch Anzeigen bekanntgewordene Straftaten bezogen.

Der stetige Aus- und Umbau der kriminalpolizeilichen Melde- und Sonder-meldedienste sowie diverser Personenkarteien führte in der Praxis jedoch weniger dazu, die Aufklärungsquoten zu steigern, als vielmehr zu einer In-formationsflut, die auch durch den gleichzeitigen Ausbau elektronischer Da-tenverarbeitung nur noch bedingt in den Griff zu bekommen war. Der bloße Besitz spezifischer Informationen eines sich vergrößernden und ausdifferen-zierenden Apparates sagt dabei weder etwas über die tatsächliche Verwendung der Information noch über deren Verwendbarkeit aus. Die Diagnose über den Zustand der polizeilichen Informationsverarbeitung fällt daher in den vergangenen Jahren, gemessen an der euphorischen Haltung des früheren Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, noch zu Beginn der 80er Jahre, heute immer düsterer aus. Die Dienststellen, so Wolfgang Sielaff, Leiter des Hamburger Landeskriminalamtes, würden einerseits mit unwichtigen Hinweisen auf Straftaten überschüttet, und andererseits gelangten wichtige Informationen nicht dorthin, wo man sie benötigt. Dadurch würden Zusammenhänge zwischen einzelnen Straftaten übersehen, Hintergründe und Strukturen organisierter Kriminalität nicht erkannt. Um organisierte Kriminalität zu erkennen, sieht sich die Polizei daher gezwungen, alte Wege der Informationsgewinnung zu verlassen und zu neuen Methoden der Informationsbeschaffung und -verarbeitung zu greifen.

Informationshandling und Prioritätensetzung

Dabei geht es vor allem darum, sich einer durch das Anzeigenaufkommen ge-steuerten Ermittlungspraxis zu entledigen, um so Freiräume für nach polizei-lichen Kriterien festgelegte Schwerpunkte zu gewinnen. Nicht ein generelles Mehr an Informationen, sondern die gezielte Nutzung vorhandener (unter Ausschaltung aller unwichtigen) Hinweise einerseits und die Gewinnung re-levanter aktueller Informationen andererseits sind Zielvorstellungen der ge-genüber den Möglichkeiten von EDV und Bürofahndung skeptisch gewordenen Kriminalisten. Verdeckte Methoden spielen in dieser Strategie der „offensiven Informationsbeschaffung“ eine herausragende Rolle. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß sich das Konzept operativer Polizeiarbeit in ihnen erschöpft. Verdeckte Methoden sind personal- und materialaufwendig, und ihr längerfristiger Einsatz bindet daher über längere Zeit polizeiliche Ressourcen. Der Einsatz muß unter den gegebenen Bedingungen gezielt erfolgen, wobei hier ‚gezielt‘ nur im Sinne von nicht-flächendeckend gebraucht wird. Aus polizeilicher Sicht sind damit Schwerpunktsetzungen erforderlich, durch die mögliche Einsatzfelder eingegrenzt und somit polizeilich bearbeitbar werden. Es müssen also Personen oder Milieus herausgearbeitet werden, die ein Ziel für die verdeckten Methoden bieten können. Solche Prioritäten-setzungen erfolgten innerhalb der kriminalpolizeilichen Arbeit bislang eher intuitiv als systematisch. Durch zurückliegende Ermittlungen in den immergleichen Kriminalitätsbereichen kannten Kriminalisten ihre ‚Milieugrößen‘ oder glaubten dies zumindest. Erst mit dem Aufkommen des OK-Paradigmas stellt sich die Frage nach einer systematischen Erarbeitung von Verdachtsmomenten in einer schärferen Form: Geht man von der Prämisse aus, daß organisierte Kriminalität in der gesamten Bundesrepublik vorkommt, jedoch kaum offen zu erkennen ist, müssen folgerichtig jene Informationen über die Klientel, die bereits vorhanden sind, systematisch erfaßt, miteinander verknüpft, aufgearbeitet und neu bewertet werden. Es gilt, den Dschungel polizeilicher Datenbestände zu durchforsten, die Erkenntnisse mit polizei-externen Informationen anzureichern und die Lageanalyse gezielt durch Nachforschungen mit verdeckten Methoden zu ergänzen, um über die Einzeltat hinaus Zusammenhänge zwischen einzelnen Straftaten ermitteln zu können. Einzelne Ereignisse, wie z.B. ein Pizzeriabrand, können zwar einen Ausgangspunkt solcher Analysen darstellen, das Ziel der Auswertung selbst soll jedoch über die Aufklärung der vermeintlichen oder tatsächlichen Tat hinausgehen.

Gesucht werden „Auffälligkeiten“, die sich als Hinweis auf organisierte Straftatenbegehung deuten lassen. Gerade in diesen Bereichen soll die Polizei dann zukünftig stärker ermitteln. Von einer modernen Informationsauswertung wird mithin eine Prioritätensetzung und eine Lenkung polizeilicher Ermittlungen in Kriminalitätsbereiche erwartet, die von ihr als von erheblicher Bedeutung ausgemacht werden. In den Worten Hans-Ludwig Zacherts, des derzeitigen BKA-Präsidenten: „Es geht um weit mehr als die bürokratische Steuerung und Ablage von Meldungen. Gemeint ist das, was vielfach mit dem neudeutschen Terminus ‚Intelligence‘ belegt ist.“

Pro-aktive Erkenntnisgewinnung durch Intelligence

Intelligence ist ein Konzept aus dem anglo-amerikanischen Raum und wurde dort bereits in den 70er Jahren in Zusammenhang mit der Forcierung der Drogenbekämpfung bzw. dem „War against Organized Crime“ diskutiert und angewandt.

Der aus dem Militärischen stammende Begriff ‚intelligence‘ bezeichnet, so ein US-amerikanischer Ermittler, zunächst einmal lediglich eine Methode, „ein besseres Verständnis der Feind-Aktivitäten (enemy activities) zu bekommen. Es ist ein Weg, mit neuen und komplexen Prozessen umzugehen, oder einfach die Anwendung von Wissen, um einen Auftrag zu erfüllen.“ (Übersetzung SSt) Der Prozeß selber läßt sich in vier Phasen unterteilen: Die Informationssammlung (Collection), wobei sowohl aus offenen wie geheimen Quellen geschöpft wird; dem Vergleichen und Verknüpfen von Informationen (Collation); dem Aufarbeiten der Information in polizeirelevante Erkenntnisse (Evaluation) und schließlich der Auswertung und Bewertung der Information (Analysis) als eigentlichem Kern des Intelligence-Prozesses. Erst dieser letzte Schritt soll das Produkt von Intelligence liefern, nämlich die Gewinnung von Hypothesen über mögliche Zusammenhänge und die Ausarbeitung von Prognosen über eventuelle Entwicklungstendenzen im Bereich der Kriminalität. Im Unterschied zur fallbezogenen Auswertung sind dabei weit mehr als nur ermittlungsrelevante Informationen aufzuarbeiten, so daß die Auswertung zusätzlich zu den abfallenden taktischen Hinweisen eine strategische Planung von Polizeiaktivitäten erlauben soll.

So nahm beispielsweise die ‚New York State Crime Task Force‘ im Rahmen von Ermittlungen gegen die sog. ‚Luchese Crime Family‘ ab 1982 nicht nur Personen aus dem Umfeld der Verdächtigen, sondern gleich die gesamte Speditionsbranche einschließlich Zulieferindustrie, Gewerkschaften und öffentliche Verwaltung unter die Lupe. Durch die Zusammenführung polizeilicher Erkenntnisse aus vergangenen Ermittlungsverfahren, den Berichten von InformantInnen und Verdeckten ErmittlerInnen (VE) sowie durch Lauschangriffe und Telefonüberwachungen mit den Ergebnissen aus sonstigen offenen Quellen (von wissenschaftlichen Recherchen, öffentlichen Berichten bis hin zu Zeitungsmeldungen) sei es zum ersten Mal möglich geworden, biographische Profile von verdächtigen Personen und Verbindungslinien zwischen den Speditionen herzustellen. Diese Auswertungsergebnisse bildeten den Rahmen, in dem die genaue taktische Planung entwickelt und schließlich auch umgesetzt wurde. Die Ergebnisse der Auswertung hätten, so das Fazit des Ermittlers DeLuca, später durch weitere operative Ermittlungen (vor allem Lauschangriffe) in Ermittlungsverfahren gemündet.

Die Umsetzung solch aufwendiger Recherchen erfordert eine personell und materiell gut ausgestattete Organisationseinheit, die ausschließlich für Intelligence zuständig ist. Denn wenn Intellegence mehr sein soll als die bürokratische Ablage von Informationen und die Eingabe in Datenverarbeitungssysteme, können damit nicht nur einzelne Personen beschäftigt werden. Der Ermittler einer Intelligence-Einheit wird nicht warten können und/oder wollen, bis ein Hinweis ihn vielleicht erreicht, sondern versuchen, sich aktiv die Informationen zu beschaffen, die er aktuell braucht. Allerdings hängt die Qualität der Erkenntnisproduktion immer (auch bei der Polizei) von der Interpretations- und Deutungsleistung der damit befaßten Personen ab. Erfahrungen aus Großbritannien zeigen, daß Kriminalisten mit der geforderten Hypothesenbildung und der Analyse komplexer und kriminalitätsferner Sachverhalte i.d.R. überfordert sind, da sie nicht über eine der Aufgabe entsprechende methodische Ausbildung verfügen. Interpretationen waren daher mehr von den kriminalistischen Erfahrungen und damit verbundenen ‚Vorurteilen‘ geleitet denn von der angestrebten wissenschaftlichen Systematik. In den USA und Großbritannien werden, in Kenntnis solch zirkulärer Dynamiken, für die Intelligence-Dienststellen daher mehr ‚zivile Angestellte‘ rekrutiert, die über Fachkenntnisse in Gebieten wie Ökonomie, Sozialwissenschaften oder Sprachen verfügen. Die Frage, ob dies tatsächlich hilft, polizeiliche Interpretationsdominanz zu kontrollieren, ist jedoch ebenso schwer zu beantworten, wie insgesamt die Frage nach den „Ermittlungserfolgen“, die Intelligence-Arbeit erbracht hat.

Intelligence bei der deutschen Kriminalpolizei

Über die Umsetzung von Intelligence-Konzepten in der deutschen Kriminal-polizei ist derzeit wenig bekannt. Geplant ist, wie BKA-Präsident Zachert verlautbaren ließ, der Ausbau der Intelligence-Arbeit im Bundeskriminal-amt. Dort sollen, im Rahmen der Zusammenlegung der Abteilungen Organisierte Kriminalität (EA) und der Rauschgiftabteilung (RG), Auswertung und Ermittlungen zukünftig organisatorisch getrennt werden. Bei den Län-derpolizeien findet eine Institutionalisierung von speziellen Auswertungsstellen bislang vor allem in den OK-Dienststellen statt. Alle OK-Dienststellen verfügen über eine eigene Auswertungseinheit. Allein die organisatorische Einrichtung sagt jedoch nichts über die Arbeitsweisen der Dienststellen aus. Aus einzelnen Berichten aus Frankfurt , Schleswig-Holstein , Bayern und vor allem aus Hamburg läßt sich am ehesten schließen, daß das Intelligence-Konzept dort weitgehend umgesetzt wird.

Das beste Beispiel für die neue Strategie ist die OK-Dienststelle in Hamburg, die in dieser Hinsicht als einzigartig gelten muß und der in der OK-Bekämpfung stets eine gewisse Vorreiterrolle zugeschrieben wurde. Die in der OK-Inspektion angesiedelte Informations- und Auswertungsdienstelle (LKA 261) hat im wesentlichen beide Aufgaben von Intelligence zu erfüllen: Die Bereit-stellung von Ermittlungsinformationen, in der Regel Informationen zu Personen, Personengruppen,

Institutionen und Objekten, die in der dafür eingerichten bundesweiten Datei APOK gespeichert werden. Ebenso soll sie „Führungsinformationen“ erarbeiten, anhand derer Zuweisungsentscheidungen für die Sachbearbeitung, Entscheidungen zum Kräfteeinsatz sowie die Einleitung weiterer strategischer Maßnahmen (z.B. Schutz der Ermittlungen etc.) getroffen werden (sollen). Die konkrete Arbeit besteht vor allem darin, Informationen aus verschiedenen Bereichen zu beschaffen, systematisch auszuwerten und zu bewerten. Dabei greift die Dienststelle neben In-formationen aus der gesamten Polizei und der eigenen OK-Dienststelle auch auf Medien und behördliche Mitteilungsblätter (z.B. Handelsregister-Infor-mationen) zurück. Die Bewältigung des gesamtpolizeilichen Informationsauf-kommens gelingt durch eine Selektion nach gestaffelten Wichtigkeitskriterien. Priorität hat hier die Auswertung der ‚WE-Meldungen‘ (Meldungen über einzelne, wichtig erscheinende Ereignisse) vor der Auswertung von Berichten, Handakten oder den Erkenntnissen aus den ‚Kriminalpolizeilichen Meldediensten‘ (KPMD). Daneben werden vor allem durch persönliche Kontakte zu Dienststellen mit örtlichen Schwerpunkten (z.B. St. Pauli/St. Georg) sowie zu Fachdienststellen, die in OK-verdächtigen Deliktsbereichen ermitteln, Informationen über verdächtige Personen und Ereignisse systematisch abgeschöpft. Ergänzende Informationen zu bereits identifizierten Ver-dächtigen, sog. ‚Zielpersonen‘, können aber auch aus der polizeilichen Beob-achtung oder durch Kontakte zu PolizeibeamtInnen im Wohnumfeld der Betroffenen gesammelt werden. Ergänzt und angereichert durch Hinweise, die „durch gezielte operative Maßnahmen im Vorfeld von Strafermittlungsverfahren“ der VE-Dienststelle in die Auswertung einfließen, sammelt die Dienststelle Informationen weit vor einem konkreten Verdacht auf strafbare Handlungen.

Risiken und Nebenwirkungen

Die eigentlich spannende Frage, wie diese Informationen ausgewertet und bewertet werden, entzieht sich einem Blick von außen weitgehend. Ebensowenig ist eine Einschätzung möglich, ob sich durch diese Vorgehensweise tatsächlich Ermittlungsverfahren ergeben. Die aktive Informationsbeschaffung nach dem Hamburger Modell erweitert aber ohne Zweifel den polizeilichen Überblick über das kriminelle Geschehen in den Bereichen, auf die die polizeiliche Aufmerksamkeit gerichtet wird. Unabhängig davon, was schließlich konkret an Erkenntnissen produziert wird, scheint es allein aufgrund der Verfahrensweisen und bisheriger ausländischer Erfahrungen zweifelhaft, daß die Polizei eine höhere Prognosegenauigkeit erzielen könnte als die Sozialwissenschaften, die sich bisher auch nicht durch sichere Vorhersagen gesellschaftlicher Entwicklungen ausgezeichnet haben.

Auch ‚Intelligence‘ wird der Polizei daher vermutlich keine zutreffenden Vorhersagen liefern, wohl aber eine gezieltere Schwerpunktbildung und tiefere Einblicke in gesellschaftliche Bereiche erlauben, die bisher nicht in den polizeilichen Blick gerieten. Die „Aufklärungsarbeit von Ort“ durch V-Personen, Verdeckte ErmittlerInnen oder Observationen bringt nicht nur der Polizei das Leben im Milieu näher als jeder Computerausdruck eines Informationssystems, sie bringt gleichzeitig eine Reihe von unverdächtigen Personen in das polizeiliche Informationssystem. Die Sammlung und Auswertung polizei-externer Informationen, die zwar öffentlich zugänglich sind, aber nur in den seltensten Fällen in einem Zusammenhang mit Kriminalität stehen, erweitern tendenziell die polizeiliche Verdachtschöpfung in Richtung unspezifischer Nachforschungen. Daß dieses selektiv und nicht durchgängig geschieht, bedeutet im Schluß nicht, daß nur erkannte StraftäterInnen beobachtet werden. Zumindest deren gesamtes Umfeld ist davon gleichermaßen betroffen. Das Risiko besteht somit darin, daß eine Art Generalverdacht gegen bestimmte Gruppen oder ‚Milieus‘ erzeugt und über den Weg polizeilicher Erfolgsmeldungen in der Öffentlichkeit gepflegt wird. So stehen italienische, chinesische und russische MitbürgerInnen in weiten Bevölkerungskreisen bereits heute schnell im Verdacht, der organisierten Kriminalität anzugehören oder ihr zumindest nahezustehen.

Sabine Strunk ist Mitarbeiterin der AG Bürgerrechte in der Forschungsgruppe ‚Strukturwandel polizeilicher Verbrechensbekämpfung‘
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.

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