Großstadt – Brutstätte des Verbrechens? Methodische und systematische Aspekte mit einigen empirischen Hinweisen

„In den sorgfältig manikürten Rasenplätzen der Westside von Los Angeles sprießen ganze Wälder mit merkwürdigen kleinen Warnzeichen: ‚Bewaffnete Antwort!‘ (…) Im Stadtinnern hat eine öffentlich geförderte ‚Stadterneuerung‘ die umfangreichste Unternehmensburg der USA gebaut, von der armen Umgebung getrennt durch ein monumentales architektonisches Glacis. (…) In Watts demonstriert der Entwicklungsplaner Alexander Haagen seine Strategie, die Warenhäuser der Innenstadt zu rekolonisieren: Ein überall einsehbares Verkaufszentrum wird von einem hohen Metallzaun umgeben und besitzt eine Unterstation der Polizei von Los Angeles in einem zentralen Überwachungsturm. (…) Willkommem im nachliberalen Los Angeles. (…) Die Obsession mit sachlichen Sicherheitsvorkehrungen, die auch darin zum Ausdruck kommt, daß die Architektur soziale Grenzen durch Beton verstärkt, ist zum Geist der Stadterneuerung geworden, zum Muster der Baupläne der neunziger Jahre. (…) In Städen wie Los Angeles, auf der Scheide zur Postmoderne, kann man beobachten, wie beispielslos Städteplanung, Architektur und Polizei in einer umfassenden Sicherheitsanstrengung verbunden werden“.
Ist das die Perspektive städtischer Gewalt und städtischer Sicherheit, einer sichernden Gewalt, die Gewaltsicherheit garantiert?

Was aber bedeutete eine solche Aussicht – Los Angeles als Muster großstädti-scher Entwicklung? Moralische Sicherheitspaniken, die zusammen mit dem expansiven Kalkül ökonomischer und politischer Interessen zu einer neuen und anderen ‚Verburgung‘ und Segmentalisierung der Städte führen – dem Ende aller städtischen Freiheiten und bürgerlichen Aneignung von städtischen Räumen? Los Angeles ist ein extremer Fall. Ebenso faszinierend wie mehr noch bedrohlich. Ein Menetekel der globalen Stadt der Zukunft: In Stadtringen oder ‚individualisierten‘ städtischen Inseln perfekt segmentiert mit Überschneidungen nur dort, wo die Ware Arbeit, getrennt vom Wohnort der sie tragenden Subjekte, mobil gebraucht wird oder wo ausgebaute und geschützte Verkehrswege und Verkehrsarten Freizeit- und globale Mobilität ermöglichen.

Der Horizont der Analyse

Ernste Anzeichen dafür sind vorhanden, daß Los Angeles nicht nur für sich selbst spricht. Es wäre jedoch falsch, der moralischen Panik sicher-heitsängstlicher Bürgerinnen und Bürger in hohler Analyse zu folgen. Sei‘ s unter der Perspektive einer ressentimentgeladenen Kulturkritik, die sich schon früh um das Thema ‚Stadt und Masse‘ versammelt hat; sei‘ s im poli-tisch-polizeilichen Interesse einer unvermittelten Sicherheit durch repressive und präventive Verrechtlichung und technischen Ausbau des Sicherheitsapparates, die sich prächtig zum Politikersatz und zur leicht vollziehbaren Mobilisierung eignen. Was wäre politisch unter den gegebenen (Versäumnis-)Um-ständen geeigneter als die weitverbreitete moralische Panik von BürgerInnen durch eine gezielte ‚politische Panik‘ mitzuschaffen und zu nutzen?

Um also diese Gefahren zu vermeiden, die Ängste von BürgerInnen miterzeugend auszubeuten, um dann selbst ‚Sklave‘ der Ängste zu werden, ist es angezeigt, den Horizont der Analyse auszuweiten. Nur dann ist man in der Lage, die tägliche Fülle der mord-, raub- und diebstahlsreichen Schreckensmeldungen gerade um der Sicherheit der BürgerInnen willen nüchtern abzuwägen und ursachenbezogene Konsequenzen zu ziehen, die nicht einfach ein sicherheitspo-litisches X für ein nur rechtsminderndes und apparatausbauendes U vormachen. Kurzum: Um so konkret wie möglich Gewalt-, Raub- und Diebstahlsvorfälle von Rostock bis Konstanz und von Aachen bis Frankfurt/Oder einschätzen zu können, ist es vonnöten, von diesen Fällen Abstand zu nehmen, damit dieselben in dem, was sie aussagen, angemessen getestet werden können.

Es ist eine Banalität: Menschen als körperliche Wesen agieren in Zeit und Raum. Sie bewegen sich jedoch nicht in einem absoluten Raum und in einer absoluten Zeit. Vielmehr leben und vergehen Menschen, indem sie sich Zeit und Raum aneignen, die zugleich ihre Eigenart prägen. Also ist immer von sozialer Zeit und von sozialem Raum zu sprechen, Konstrukte, die ihrerseits mit ihren kultivierten Merkmalen, die Menschen, ihre Wahrnehmungen, ihr Bewußtsein und ihr Verhalten prägen, dasselbe einschränken und/oder befreien – jedenfalls immer in historisch-räumlich spezifischer Weise kanalisieren. Zeit und Raum sind somit sozio-historisch jeweils relativ.

Land, Stadt, Großstadt, Metropole, Global City

Zunächst überwiegen jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendelang die quantita-tiven und qualitativen Unterschiede. Diese sind grob und eindeutig. Noch Marx führt die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft im ‚Kapital‘ auf den Gegensatz zwischen ‚Stadt‘ und ‚Land‘ zurück. Im Gegensatz zur „Idiotie des Landlebens“, die sich durch die Statik der Verhältnisse auszeichnet, setzt erst die zunächst organisierte, später, vor allem heute entgrenzte Dynamik des Stadtlebens die Menschen konkurrierend und kooperierend frei. Mit dem Gegensatz Land vs. Stadt läßt sich in den entwickelten kapitalistischen und durchstaateten Gesellschaften heute kaum noch arbeiten. Der ‚Abschied von der Provinz‘, das Ende des ländlichen Raums als einer sozial eigenständigen Größe ist längst eingeläutet. Ausufernde Ballungsräume mit mehr oder minder stark ausgeprägten Zentren reichen tief in die ‚Provinz‘. Der Verkehr hat den ‚letzten‘ Ort erschlossen – von der Mas-senkommunikation ganz zu schweigen. Der Arbeitsmarkt und seine nationale, ja globale Dynamik bestimmen das über kaum noch eigene soziale Gewichte verfügende ‚Dorf‘. Statt einen Stadt-Land-Gegensatz anzunehmen mit qualitativ unterschiedlichen Bewußtseins- und Assoziationsformen, ist heute ein Kontinuum unterschiedlicher ‚Verstädtertheit‘ zu unterstellen.
Ist der herkömmliche Begriff des Landlebens, des Dorfes weithin überholt, so hat sich ein einigermaßen fester Begriff der Stadt längst aufgelöst. Wer von Stadt spricht oder von Verstädterung muß jeweils genau sagen, welche vormoderne, moderne oder nachmoderne Phase in welchem ökonomisch-nationalen und globalen Kontext gemeint ist; von welchen Größenordnungen und entspre-chenden Organisations- oder ‚Chaos‘-Formen gesprochen wird. Die Stadt, die Groß-, ja die grenzverwischende Riesenstadt, von der heute in der Regel die Rede ist – und dies strahlt auf die Klein- und Mittelstädte zurück, ist mit der Stadt des Mittel- und Spätmittelalters bzw. der frühen Neuzeit quantitativ und qualitativ nur noch in ihrer vielseitigen Unähnlichkeit zu vergleichen. Beide Stadtformen, wenn man nicht dazwischen noch mehr Varianten einfügen muß, etwa die nationale Stadt des 19. Jahrunderts, also lassen sich nicht mehr auf denselben ‚Idealtyp‘ beziehen. Idealtyp in diesem Sinne meint ein Muster gesellschaftlicher Bezüge/gesellschaftlichen Verhaltens, das aus historisch gewachsenen Verhaltensweisen gebildet worden ist, um mit Hilfe dieses Idealtpys herauszufinden, wie groß der Abstand bestimmter Institutionen bzw. Ereignisverläufe ‚in Wirklichkeit‘ zu dem idealtypisch gefaßten Begriff etwa ‚der Stadt‘ ist.

Städtische Verdichtung, Intensivierung und Externalisierung

Großstädte zeichnen sich durch ihre Menschen-‚Ballungen‘ aus. Dieses vor allem von Georg Simmel hervorgehobene Merkmal zeitigt einen ‚Rat-tenschwanz‘ von Folgen. Die Vereinzelung, die Anonymisierung, der tägliche Umgang mit Fremden u.v.a. gehören dazu. Freilich: Was diese in immer erneut wiederkehrenden Interpretations-Wellen benannten Verhaltensmerkmale jeweils spezifisch bedeuten und ob sich über längere Zeit verläßliche Aussagen machen lassen, ist aus guten Gründen umstritten. Gerade auch die dauernde Veränderung kennzeichnet die Städte und ihre proteusfüllige Verstädterung.

Ist es jedoch zutreffend die (Groß)Stadt als Brutstätte von Verbrechen zu be-zeichnen? Sind es in der Tat Gründe, die mit der großstädtischen Eigenart notwendig verbunden sind, die z. B. Bindungslosigkeit, A-Sozialität, feindli-chen Umgang mit dem anonymen Anderen bewirken? Sind Verbrechen aller Art in den Großstädten quantitativ nachweislich signifikant und auf Dauer häufiger? Oder sind es zu Zeiten des etablierten Nationalstaates und seiner Nationalökonomie, ja heute zu Zeiten einer täglich mehr in die lokale Öko-nomie und Politik herunterreichenden Weltökonomie nicht ‚externe‘, d. h. nicht stadtspezifische Faktoren, die Normalität und somit auch a-normisches Verhalten primär definieren?

Am Beispiel der gewalttätigen Unruhen in zahlreichen britischen Städten im Sommer 1981 verdeutlicht Peter Saunders seine Warnung, nicht fixiert auf eine Stadttheorie die wahren Ursachen von Gewalt (oder Verbrechen und seinem städischen Vorkommen) zu verkennen: „Diese Gewaltunruhen können wahrscheinlich nur mit Hilfe einer Reihe sozialer Faktoren erklärt werden. Sowohl weiße wie schwarze Jugendliche nahmen an diesen Unruhen teil. Dieselben brachen vor allem dort aus, wo eine hoher schwarzer Anteil vor-handen war (z. B. Brixton und Southall in London oder Toxteth in Liverpool). Die Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen, besonders Jugendlichen aus dem Westen Indiens bildete zweifelsohne einen Faktor. Damit indes nicht genug. Wir müßten die Polizeipraktiken mitberücksichtigen, die über eine Reihe von Jahren rassistisch waren oder so erfahren worden sind. Außerdem provokative politische Aktivitäten von Faschisten (…); schließlich Mobilisierungen von linken Parteien (…). Die Gründe der Unruhen sind in der britischen Gesellschaft insgesamt zu finden. (…) Rassismus ist ein Produkt der langen imperialistischen Geschichte der britischen Gesellschaft, des Regie-rungshandelns und der Passivität der Regierung, der wissenschaftlichen und der pseudowissenschaftlichen Spekulation und so weiter – keiner dieser Gründe ist genuin städtisch. Gleiches gilt für die Arbeitslosigkeit. Sie ist ein Produkt der internationalen Rezession, der dramatischen Umstruktrierung der britischen Ökonomie, der regierungsamtlichen monetarischen Politik usw. Erneut gilt: Keiner dieser Faktoren besitzt eine spezifische städtische Qualität. Daß die Gewaltunruhen in bestimmen Räumen stattfanden, darf nicht übersehen werden. Doch diese räumlichen Umstände sind allenfalls von se-kundärer Bedeutung. Dieselben vermitteln den genaueren Ort der Auseinan-dersetzungen (z. B. dort, wo benachteiligte und frustrierte Bevölkerungsan-teile konzentriert auftraten und auf den Straßen eine freilich unorganisierte Kraft bildeten) oder verhindern, daß sie an anderen Orten stattfinden (etwa dort, wo diese Leute nur verstreut zugegen sind)“.

Vor diesem Hintergrund überzeugt Saunders Schlußfolgerung: „Interventionen der Regierung oder anderer Institutionen, die sozialen Wandel durch stadtspezifische Maßnahmen bewirken wollen, sind deswegen fehlplaziert. Die Gründe für die Probleme nämlich, die in den Städten offenkundig werden, liegen außerhalb derselben. Deswegen müssen entsprechende Lösungen auch dort ansetzen“.

Guckkasten Frankfurt/M.

Am Beispiel von Frankfurt/Main, polizeilichen Selbstaussagen, ihren Wider-sprüchen und Lücken können Saunders Argumente zusätzlich illustriert werden. In einer der angeblichen „Hauptstadt des Verbrechens“ in Deutschland gewidmeten Nummer der ‚hessischen polizeirundschau‘ wird u.a. ein daten-bespickter Überblick über die ‚Kriminalität in Frankfurt‘ im Vergleich mit anderen Großstädten in der BRD und zu Hessen insgesamt gegeben. Die Schlußfolgerungen von Klaus Timm, Direktor des hessischen Landeskrimi-nalamtes, lauten: „Bereits seit langem immer wieder bestätigte Erkenntnis ist, daß Großstädte besonderes Kriminalitätspotential bergen (‚Metropolensyn-drom‘), vor allem bedingt durch überdurchschnittlich zahlreiche und ver-dichtete Tatgelegenheiten, geringe informelle soziale Kontrolle, besondere Bevölkerungsstrukturen (z.B. hoher Ausländeranteil), aber auch durch Sog auf Kriminelle bzw. Verhaltensauffällige, wie die hohe Zahl der nicht ortsan-sässigen Täter bzw. der aufgegriffenen vermißten Kinder und Jugendlichen oder die Zahl der nicht aus Frankfurt kommenden BTM-Konsumenten bzw. Rauschgifttoten belegt.“
In diesen Behauptungen spiegelt sich fast die gesamte Palette der gängigen stadtbezogenen Vorurteile jenseits allen Analyseversuchs. Um so überra-schender fährt Timm fort: „Kriminalität muß – wie insbesondere die Lage in Großstädten zeigt – eingebettet in die gesamtgesellschaftliche Entwicklung interpretiert werden.“ Von letzterer und ihren Auswirkungen auf Frankfurt oder andere Großstädte ist indes nicht die Rede. Das auf diesen datenunkriti-schen überblicksartikel folgende Interview mit dem Frankfurter Polizeipräsi-denten Dr. Karl Heinz Gemmer zeichnet sich gleicherweise dadurch aus, daß die kriminalpolitisch-polizeilich Guckkastenbühne Frankfurt kaum verlassen wird. Immerhin macht Gemmer deutlich, daß die „Angst vor Kriminalität“, gar vor der kriminellen Hochburg Frankfurt, „weitgehend unbegründet“ ist und wie durch Kraut- und Rüben-Informationen (und entsprechende Statistiken) Gefahren akkumulierend konstruiert und zugespitzt werden, so daß sie sich leicht für Projektionen der Angst eignen.

Die neue Angst der Deutschen

So lautet der reißerische Titel eines Buches von Anne Schneppen. Mit der auf Absatzförderung getrimmten Dramatik korrespondiert nicht nur ein unkritisch-fahrlässiger Umgang mit angeblich informationsfesten und eindeutigen Daten. Diese Möchtegerndramatik verdeckt zudem die in unregelmäßigen Abständen erfolgende Wiederkehr der Verkündigungen fasziniert verdammter, sich unendlich steigernder Kriminalität.

Helmut König hat zusammenfassend referiert, wie früh im 19. Jahrhundert Stadt/Verstädterung – Masse – Gewalt – Angst zu einer Gleichung geworden sind, in der sich die einzelnen ‚Faktoren‘ aufschaukelten und von ihren Kon-strukteuren wie ‚Sachzwänge‘, wie objektiv zusammenhängende Verhalte ablösten: Stadt = Masse = A-Sozialität = Unruhe/Gewalt/universelle Dauerbedrohung. Hierbei interessierte es wenig, daß sich diese Zusammenhänge nicht nachweisen ließen. (Im Rückblick läßt sich in machen Fällen sogar eindeutig zeigen, daß gegenteilige Zusammenhänge bestanden.)
Trotz gründlich veränderter Städte – das Vorurteilssyndrom ist weithin geblieben. So sind‘ s Stadt-Gespensterängste. Helga Cremer-Schäfer hat das dramaturgische Arrangement in wichtigen Ausschnitten beschrieben: „Auf Junkies, Penner, jugendliche Gewalttäter, ausländische Straßenräuber und Dealer richtet sich in den Großstädten inzwischen eine überhaupt nicht mehr ‚verschämte‘, sondern offensiv legitimierte Politik der Vertreibung. Ein ge-meinsames PR-Unternehmen von Polizeiführung und Magistratsspitze de-monstrierte 1992 in Frankfurt beispielhaft den neuen Kurs: ‚Sicherheitspolitik ist ein fester Bestandteil der Sozialpolitik‘ und jeder ’nächste Schritt der Hilfsangebote z. B. an die Drogenszene rechtfertige die nächste Stufe der Repression‘ (OB v. Schoeler). Das Manöver würde nicht übermäßig beunruhigen, wenn es ohne Etitettenschwindel die allgemein praktizierte kommunale Politik des ‚Kampfes gegen die Kriminmalität‘ auf den Begriff gebracht oder nur Teil des Wahlkampfes gewesen wäre. Es war und ist mehr. Nicht zufällig werden in den amtlichen Rechtfertigungen der Reaktion auf ‚kriminelle Szenen‘ und die Drogenszene der Städte Deutungsmuster verwendet, an die Kampagnen gegen Flüchtlinge und Einwanderer problemlos anknüpfen können. (…) Die polizeiliche Ordnungspolitik, so das Argument im Kampf gegen die Großstadtkriminalität, soll das Sicherheitsgefühl erhöhen, BürgerInnen vor dem ängstigenden Anblick von Elend und Dreck, vor belästigendem Gestank bewahren und bedrohliche fremde Räuber und Taschendiebe aus ihren Konsum- und Erholungsräumen fernhalten. Diese Argumente machen die ‚Störer‘ der kriminellen Szene zum Objekt einer Phobie, die Politiker zu Ärzten der ‚erkrankten‘ Bürger, die ‚Störer‘ zur Krankheitsursache, die es notfalls mit dem Skalpell zu entfernen gilt.“

Diese Art der möglichst örtlich festgenagelten Individualisierung von Pro-blemen gemeinsam mit der Kriminalisierung der betreffenden Personen, die man vereinzelt und doch zugleich kollektiv ‚dingfest‘ zu machen angeht, ist denn auch ‚des Pudels Kern‘ der methodisch unhaltbaren Behauptungen großstädtisch gegebener kriminogener Räume und ihres ‚lichtscheuen Gesindels‘.

Das Sicherheitsgefühl

Sei es, weil die telematisch verdoppelte, also simulierte ‚Wirklichkeit‘ zu-nimmt, sei es aus zusätzlichen Gründen: So wie in der allgemeinen Politik demokratische Kontrolle durch ‚Glauwürdigkeit‘ der Politiker ersetzt wird, so werden einigermaßen nachweisliche und das heißt zugleich durchsichtig kontrollierbare Sicherheitsleistungen durch das rechts- und maßnahmenoffene Erfordernis ersetzt, das verängstigte ‚Sicherheitsgefühl‘ der Bevölkerung zu heben.

Diese Absicht erklärt mutmaßlich sonst sperrige Phänomene: Zum ersten, daß Helga Cremer-Schäfers berechtigtes Verlangen nach einer „allumfassenden Entdramatisierung (…) in Fragen der ‚Inneren Sicherheit'“, die erst eine „entkriminalisierende Politik“ zuließe, nicht gefolgt wird, sondern daß genau das Gegenteil geschieht. Eine ‚Politik der Entspannung‘ kennt ‚Innere Sicherheit‘ nicht. Sicherheitsängste und ihr symbolisch in ‚Daten‘, Worten, rechtlichen Veränderungen und Maßnahmen korrespondierende Politik wirken wie ein paradox geschlossenes, wechselseitig sich antreibendes Perpetuum mobile.

Dies erklärt wohl auch, zum zweiten, warum die Polizei trotz des in ihr ent-haltenen und fortlaufend vermehrten Wissens (und die Polizeiintelligenz hat im Laufe der letzten Jahrzehnte ohne Frage beträchtlich zugenommen) kurz-sichtig angelegte Bestandsaufnahmen von kriminogenen Wirklichkeitsbereichen, nicht zuletzt solchen großstädtischer Art, mit ebenso kurzsichtig verlangten Maßnahmen verbindet – vom selbstredend vorhandenen professionellen Selbsterhaltungs- und Ausweitungsinteresse einmal zu schweigen. All diese ’neuen‘ Formen der Kriminalitätsbekämpfung vermögen schon auf die einfachsten Fragen, etwa nach der Wanderung bzw. auf die städtische Ortsverschiebung entsprechender gemutmaßter Kriminalität und ‚Krimineller‘ keine einigermaßen befriedigende Antwort zu geben. Also bleibt nun der Schluß, daß um des symbolischen Effekts und der Selbsterhaltung willen immer wieder erneut etwas geschehen muß.

Zum dritten: Vom Buch Anne Schneppens habe ich den Untertitel unterschlagen: „Plädoyer für die Wiederentdeckung der Nachbarschaft.“ Und in der Tat, die ‚Nachbarschaft‘, im vorstehenden Zusammenhang genauer die ‚community crime prevention‘, das ‚community policing‘ stehen mit stärkerer oder geringerer Absicht wieder einmal im Modevordergrund. Doch was kann ‚community-policing‘ Neues bedeuten, nachdem insbesondere in der Bundesrepublik während der sechziger und siebziger Jahre auch noch die letzten Spurenelemente einer kommunalen Polizei getilgt worden sind? Offenkundig steht keine Re-Kommunalisierung der Polizei an. Im Gegenteil rundum werden die internationalen Verbindungen ausgebaut. Auch von einer Dezentralisierung polizeilicher Aufgaben und Aufgabenwahrnehmung ist nicht die Rede. Neu-alte Versionen des ‚community policing‘ sind vielmehr vor allem darauf angelegt, das Verhältnis ‚Bürger und Polizei‘ zu verbessern. Die BürgerInnen sollen stärker heran- und einbezogen werden, indem sie beobachtende und kontrollierende Aufgaben der Polizei übernehmen oder genauer, den Beobachtungs- und Kontrollhof der Polizei wie einen Bürgerschatten ausdehnen. Gerade weil an den Ursachen polizeilich nichts ‚gedreht‘ werden kann (und soll), gerade darum kommt es darauf an, die bürgerliche ‚Wahrnehungs- und Gefühlslage‘ mitbeeinflussen zu können.
Mit den aufgeführten Beweggründen verbindet sich, zum vierten, ein zusätz-licher, ein kriminalwissenschaftlicher. Er verstärkt in seiner Weise die sym-bolische Wirkung, indem er sie wissenschaftlich absichert. Die lange Tradi-tion von Studien, die sich dem Zusammenhang von Verbrechen und Stadt bzw. kommunaler Organisation allgemein widmen, hat nicht zuletzt infolge fortdauernd veränderter Perspektiven, diverser angewendeter Methoden und unterschiedlich ausgewählter Lokalitäten keine einigermaßen gesicherten Re-sultate erbracht – und sei‘ s nur im Sinne präzisierten Nichtwissens. Dennoch tendieren kriminologische Studien immer wieder dazu, stadträumliche Krimi-nalitätsuntersuchungen lokal viel zu sehr zu begrenzen, abweichendes Ver-halten zu sehr vom ’normalen‘ zu isolieren und ihre fragwürdigen Ergebnisse sowohl allzu rasch mit andernorts methodisch anders gewonnen zu vergleichen, als auch kurzgegriffene Folgerungen in Richtung verbesserter Verbrechensbekämpfung zu ziehen.

Globalisierung und ‚Normalität‘

Die räumliche Gestaltung gesellschaftlicher Beziehungen bleibt eine wichtige Größe. Die Konsequenz aus dem oben Gesagten besteht nicht darin, die Ver-städterung als eine zu vernachlässigende Größe auch und gerade im Zusam-menhang bürgerlicher Sicherheit zu behaupten. Eindeutig falsch ist es nur – und der fortgesetzte Irrtum weist auf eigenartige Interessen hin -, die Groß-stadt als isolierbares Gebilde zu begreifen, in dem dann noch einmal abwei-chendes Verhalten und seine lokalen Umstände isoliert untersucht werden könnten. Es kommt statt dessen darauf an, die gegenwärtigen Probleme des sozialen oft auch a-sozialen Orts bzw. Un-Orts Groß- oder Globalstadt – Pro-bleme die auf kleinere Einheiten ausstrahlen – im Zusammenhang und als Ausdruck der allgemeinen Globalisierung, der Entgrenzung, der Mobilisierung und der Beschleunigung zu verstehen. In diesem allgemeineren, aber ausschlaggebenden Bestimmungszusammenhang gewinnen dann die unterschiedlichen Arten der Verstädterung, der städtischen Antworten auf ihre quantitativen und qualitativen Gefährdungen eine wichtige, oft für die Lebensqualität der BürgerInnen entscheidend vermittelnde Bedeutung.

Los Angeles, von Mike Davis reliefscharf vorgestellt, als ein Exempel einer insularen Millionenstadt, die in die Region randlos ausufert und zugleich darin einheitlich ist, daß sie keine Einheiten mehr kennt: Ein bunter Alpt-raum umbauter Ungleichheit nicht zuletzt in Sachen bürgerliche Sicherheit. Also wird bürgerliche Sicherheit nicht nur in hohem Masse privat erbracht. Bürgerliche Sicherheit und entsprechende Sicherungen existieren nicht einmal mehr im Ansatz, da mit der teuer erkauften Sicherheit der Reichen, der abstiegsangstdurchwachsenen Sicherheit der prekär in Wohlstand Lebenden, die geradezu tödliche Unsicherheit der unterschiedlich Armen korrespondiert.

Die Themen Stadt und Gewalt, Stadt und Verbrechen, Stadt und Angst, Stadt und bürgerliche Sicherheit gelten also durchaus. Es sind hoch bedeutsame Themen. Man versäumt diese zusammenhängenden Themen jedoch analytisch und praktisch wider besseres (jedenfalls besser mögliches) Wissen fahrlässig, wenn nicht schuldhaft, wenn man diese Stadtprobleme nicht im nationalen und globalen Produktionskontext betrachtet; wenn man abweichendes Verhalten nicht strikt und zu allererst im Umkreis ‚der Normalität‘ und ihrer Eigenarten behandelt; wenn man Sicherheit und Angst nicht als Ausdruck eines Syndroms anderer Faktoren primär begreift; und wenn man schließlich nicht genau Stadt von Stadt, Verstädterung von Verstädterung unbeschadet aller harten Angleichungstendenzen unterscheidet, gerade um die Grade und die bitteren Grenzen demokratisch bürgerrechtlich sichernden Handelns ausmachen zu können.

Wolf-Dieter Narr lehrt Politikwissenschaft an der FU Berlin und ist Mither-ausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.

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