Einsichtnahme von JournalistInnen in Stasiakten – ‚Trüffelschweine‘ für die Staatsanwälte

von Wolfgang Gast

In der Juni-Ausgabe seiner Verbandszeitschrift ‚Stacheldraht‘ prangerte der ‚Bund der Stalinistisch Verfolgten‘ die vom Bundestag beabsichtigte Novellierung des Stasiunterlagengesetzes (StUG) an. „Die jetzigen Änderungsvorschläge“, hieß es, „kommen dem Beginn einer Amnestie gleich“. (1) Im Visier der Opfervereinigung ist eine parteiübergreifend geplante Stichtagsregelung. Die Behörde des ‚Bundesbeauftragten des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik‘, nach ihrem Leiter kurz ‚Gauck-Behörde‘ genannt, soll künftig in den Fällen keine Auskunft mehr erteilen dürfen, in denen eine Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der DDR vor dem 1.1.76 „endgültig beendet“ wurde. Im Gegensatz zur bisher gültigen Praxis soll dann bei Personenüberprüfungen für diesen Betroffenenkreis eine Unterrichtung über eine frühere Stasimitarbeit entfallen – unabhängig von der Art und Weise oder dem Grad der Verstrickung in Repressionsmaßnahmen der Stasi. Der Antrag, von CDU/CSU, FDP und SPD gemeinsam eingebracht, wurde Ende Juni im Innenausschuß des Bundestages beraten. Mit einer Verabschiedung der Gesetzesnovelle wird aber nicht vor Anfang 1997 gerechnet.

Viereinhalb Jahre nach Inkrafttreten des StUG wird zur Begründung der Gesetzesänderung von den Bonner Altparteien der Rechtsfrieden in der Bundesrepublik und die notwendige Integration ehemaliger Stasimitarbeiter angeführt. So heißt es im Entwurf, „es ist angebracht, die Erteilung von Auskünften durch den Bundesbeauftragten maßvoll einzuschränken“. (2)

Tatsächlich fürchten die Autoren des fünfseitigen Papieres, in dem die Novellierung begründet wird, aber eher das Karlsruher Verfassungsgericht als mögliche Defizite beim Rechtsfrieden. Die Überlegung lautet: Sollte ein vergleichsweise unbedeutender Spitzel, dessen Stasizuträgerschaft u.U. jahrzehntelang zurückliegt, das oberste Gericht wegen seiner Abweisung beim öffentlichen Dienst anrufen, so könnte Karlsruhe auf ‚Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit‘ entscheiden. Damit stünde das gesamte Stasiunterlagengesetz in Frage. Dem soll die Stichtagsregelung nun vorbeugen.

Systematischer Fehler

In der ‚Gauck-Behörde‘ werden diese Pläne eher skeptisch verfolgt. Die Mitarbeiter beim Bundesbeauftragten legen aber Wert auf die Feststellung, daß von der geplanten Neuregelung weder die Auskunftsrechte früherer Stasiopfer tangiert, noch die Möglichkeiten für eine Strafverfolgung oder Forschung mittels der Stasiunterlagen beschnitten werden. Der Beirat der ‚Gauck-Behörde‘ hat hingegen Protest eingelegt. Schriftlich teilte er dem Bonner Innenausschuß Anfang Juni mit: „Die Mehrheit des Beirats hält diese geplante Regelung nicht für sachgerecht und lehnt sie deshalb ab“. (3) Eine Auskunft aus den Stasiakten soll es nach den Plänen von Koalition und SPD künftig auch bei der „Geringfügigkeit einer StasiMitarbeit“ nicht mehr geben. Die Nachricht über eine inoffizielle Tätigkeit unterbleibt, wenn diese während des Wehrdienst erfolgte und „dabei keine personenbezogenen Informationen geliefert worden sind“. Keine Auskunft, soll als Grundsatz auch gelten, „wenn nach dem Inhalt der erschlossenen Akten feststeht, daß trotz einer Verpflichtung zur Mitarbeit keine Informationen geliefert“ wurden. Nach dem Willen von Union und SPD sollen im Bundestag und in den Landtagen nicht mehr nur die Abgeordneten auf eine frühere Stasi Mitarbeit durchleuchtet werden. Sie wollen die bisherige Regelung auch auf deren Mitarbeiter erweitern. Als letzter wesentlicher Punkt sieht die Novelle vor, die in den Stasi-Archiven verwahrten NS-Akten für die wissenschaftliche Forschung freizugeben.

So lobenswert die nun geplante Freigabe der von der Staatssicherheit gesammelten NS-Akten für Forschungszwecke auch ist – ein systematischer Fehler, der schon in der bisherigen Gesetzgebung steckt – wird auch mit der angestrebten Novellierung leider nicht beseitigt: Wissenschaftler und Journalisten, die bei der Behörde des Bundesbeauftragten Akten für ihre Recherche beantragen, werden damit automatisch und gegen ihren Willen zu Handlangern der Strafverfolgung gemacht: Vor der Herausgabe beantragter Unterlagen sind die Mitarbeiter der ‚Gauck-Behörde‘ verpflichtet zu untersuchen, ob dies entsprechend der gesetzlichen Bestimmung statthaft ist. Weiter sind sie gehalten, die „schutzwürdigen Belange Dritter“, beispielsweise die Namen und Adressen von Bespitzelten oder intime Details aus deren Privatleben, zu berücksichtigen und gegebenenfalls solche Angaben vor der Herausgabe von Kopien zu schwärzen. Zu prüfen haben sie auch, ob aus den Unterlagen strafrechtlich relevante Gesetzesverstöße hervorgehen. Diese sind dann der Staatsanwaltschaft vorzulegen, die anschließend über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu entscheiden hat.

Hier liegt die Crux, denn in der Praxis bedeutet dies: Auf Antrag eines Journalisten werden aus den Kilometern archivierter Stasiakten die Unterlagen zu dem beantragten Komplex herausgesucht. Stößt der Sachbearbeiter der ‚Gauck-Behörde‘ bei der Sichtung der Papiere auf strafrechtlich relevante Vorgänge, so werden die Papiere zunächst der Staatsanwaltschaft zur Begutachtung zugeleitet. Der Staatsanwalt legt daraufhin einen Sperrvermerk an, mit der Folge, daß die ‚Gauck-Behörde‘ jetzt dem Antragsteller die Akten wegen eines laufenden Verfahrens nicht mehr zur Verfügung stellen darf.

Zwar wurde im StUG festgelegt, daß diese Sperrvermerke zeitlich begrenzt werden müssen, in aller Regel hindert das die Staatsanwaltschaften jedoch nicht, nach Ablauf der Sperrfrist und einer entsprechenden Nachfrage des Antragstellers die Frist umgehend zu verlängern. Der Journalist erhält die Kopien dann erst nach Abschluß des Verfahrens, unter Umständen erst nach dem Ende eines Gerichtsverfahrens. Zu einem Zeitpunkt also, an dem sein Interesse an den Unterlagen häufig schon verflogen sein dürfte, da ihr Inhalt nun bekannt ist. Meist dürfte dem Antragsteller dabei entgehen, daß er mit seinem Antrag selber den Anstoß für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens und den anschließenden Sperrvermerk gegeben hat. Gegen ihren Willen werden die Medien damit zu ‚Trüffelschweinen‘ der Staatsanwälte, zu quasi ehrenamtlichen Helfern der Strafverfolgung gemacht. Die von der Stasi jahrelang gesammelten Erkenntnisse, etwa über die ‚Rote Armee Fraktion‘, über terroristische Vereinigungen aus dem Nahen Osten oder die Verstrickung diverser Geheimdienste bei Anschlägen in Westeuropa, allesamt sind sie von der Bundesanwaltschaft nach diesem Mechanismus mit einem Sperrvermerk versehen worden.

Fünf Worte mit Wirkung

Einen Interessenkonflikt gibt es aber nicht nur zwischen den Medien und der Strafverfolgung, sondern auch zwischen Journalismus und Politik, wie sich an der ersten Novellierung des Stasiunterlagengesetzes im Juni 1994 zeigen läßt. Der Bundestag verabschiedete damals eine Regelung, nach der sich der Gesetzestext zwar nur geringfügig änderte. Die Folgen waren dennoch weitreichend. In die gesetzlichen Bestimmungen zur Anzeige- und Herausgabepflicht von Unterlagen der Staatssicherheit wurden ganze fünf Worte eingefügt, doch die hatten es in sich.

Vor der Novelle von 1994 mußte jede natürliche Person, also nicht nur JournalistInnen, Stasiakten in ihrem Besitz bei der ‚Gauck-Behörde‘ anzeigen und gegebenenfalls an die Behörde herausgeben. Seit der Gesetzesänderung gilt das nun auch für „Kopien, Abschriften oder sonstige Duplikate“. Beim ‚Deutschen Presserat‘ und dem ‚Deutschen Journalisten Verband‘ (DJV) stieß dies sofort auf heftige Kritik. Der DJV hatte die angestrebte Neuregelung bereits im Vorfeld als völlig unpraktikabel bezeichnet. Die gemeinsame Gesetzesvorlage (auch damals von CDU/CSU, FDP und SPD), geißelte der Verband zudem, sei „unverhältnismäßig“ und ein „weiterer Mosaikstein im Bild von der schleichenden Aushöhlung der Pressefreiheit“. Denn nach dem Wortlaut der damals geplanten Änderung, so hielt der Verband den Bonner Politikern vor, fielen bereits handschriftliche Notizen unter die Anzeigepflicht. Das Gesetz sei somit geeignet, „seriöse Recherche zu blockieren, Veröffentlichungen zu verhindern und damit die Kontrollaufgaben der Presse einzuschränken“. Die ‚Gauck-Behörde‘, beanstandete der DJV weiter, werde durch diese Anzeigepflicht in die Lage versetzt, „vorzeitig Kenntnis von geplanten Veröffentlichungen zu erhalten und diese gegebenenfalls zu unterbinden“. Und genau dieses sei „anscheinend vom Gesetzgeber beabsichtigt“. (4) Das politische Ziel der Bonner Initiative lag auf der Hand: Endlich Schluß mit den Enthüllungen aus dem Nachlaß des Mielke-Ministeriums.

Mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur Meinungs- und Pressefreiheit hatte auch der ‚Deutsche Presserat‘ verfassungsrechtliche Bedenken erhoben. Die Novellierung würde „den Informantenschutz belasten und die freie, auf der Grundlage eigener Verantwortung beruhende Entscheidung zur Veröffentlichung beschränken“. (5)

Auch der Einspruch der ‚Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen‘ fruchtete vor zwei Jahren nicht. Auf einer ihrer Konferenzen hatten die Vertreter aus Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen „die derzeit im Bundestag unter Ausschluß der Betroffenenverbände und der Landesbeauftragten auf den Weg gebrachte Änderung des Stasi-Unterlagengesetzes als übereilt und in der sachlichen Absicht fragwürdig“ abgelehnt. (6)

Ursprünglich hatte die Koalition der Bonner Altparteien sogar eine wesentlich weitergehende Novellierung des Gesetzes durchbringen wollen. So war in den ersten Entwürfen zur Gesetzesänderung von 1994 noch vorgesehen, selbst das sinngemäße Zitieren aus Stasi-Unterlagen unter Strafe zu stellen. Dies wäre ein perfekter Maulkorb gewesen. Die Pläne wurden jedoch fallengelassen – im Wahljahr 1994 wollten sich die Bonner Politiker nicht mit den Zeitschriften- und Zeitungsverlegerverbänden anlegen. Zwei Jahre danach stehen keine Wahlen an. Die Pressefreiheit und die Informationspflicht der Medien pervertiert auf solche Weise zum verlängerten Arm der Strafverfolgungsbehörden und/oder zum bloßen Verlautbarungsjournalismus. Mittlerweile noch an eine peinliche Gesetzespanne zu glauben, fällt mehr als schwer. Eher drängt sich der Verdacht auf, daß es sich hier um eine Vorsatztat handelt.

Wolfgang Gast ist seit 1988 Redakteur bei ‚die tageszeitung‘ in Berlin
(1) Der Stacheldraht Nr. 3/96, S. 6
(2) Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Stasi- Unterlagen-Gesetzes (3. StUÄndG) v. 16.4.96
(3) Schreiben v. 31.5.96
(4) die tageszeitung v. 30.6.94
(5) Ebd.
(6) Ebd.

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