Die Schweiz – mit oder ohne Schnüffelpolizei? Staatsschutzgesetz versus Abschaffungsinitiative

von Catherine Weber und Heiner Busch

Der 1994 vom ‚Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement‘ (EJPD), dem Justizministerium der Schweiz, vorgelegte Entwurf eines Staatsschutzgesetzes ist am 4./5.6.96 vom Nationalrat, der großen Parlamentskammer, beraten worden. Der Nationalrat hat den Entwurf zwar in einigen Punkten gegenüber der im Vorjahr beschlossenen Version des Ständerats, der kleinen Kammer, entschärft, bereits jetzt steht aber fest: Eine Einsicht in Staatsschutzakten, wie sie nach der ‚Fichenaffäre‘ 1989 erkämpft wurde, wird es nach Inkrafttreten dieses Gesetzes nicht mehr geben.

In der Schweiz leben ca. 6 Mio. Menschen. In den Archiven der Bundespolizei, so stellte die ‚Parlamentarische Untersuchungskommission‘ (PUK) über „besondere Vorkommnisse im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement“ fest, waren 1989 über 900.000 Personen auf Karteikarten – sog. Fichen – erfaßt.(1) Der Bericht der PUK löste den ‚Fichenskandal‘ aus, der in der Schweiz kurz vor dem 700jährigen Jubiläum der Eidgenossenschaft zu breiter Empörung führte. (2) Zwei Schlußfolgerungen zog die Linke aus der flächendeckenden Überwachung: Sie startete eine Volksinitiative zur Abschaffung der politischen Polizei und forderte umfassende Einsicht in die Akten des Staatsschutzes.

350.000 Menschen wollten innerhalb weniger Monate wissen, ob über sie eine Fiche angelegt worden war. Bei mehr als 10% der AntragstellerInen war dies tatsächlich der Fall. Rund 40.000 Personen und Organisationen erhielten ab 1990 eine zensierte und mit Abdeckungen versehene Kopie ihrer Fiche. Kaum war die erste Empörungswelle abgeflaut, sollte es mit der Transparenz auch zu Ende sein. Gegen den Widerstand von Justizminister Koller, der die Vernichtung der Akten plante, mußte 1992/93 die Einsicht in die zu den Fichen gehörigen, aber erheblich umfangreicheren Aktendossiers erneut erstritten werden. Den Betroffenen wurde ein weiteres Gesuch und die Darlegung eines nicht geringen Interesses bzw. einer materiellen oder ideellen Schädigung abverlangt. Die Zensur, bei der u.a von ausländischen Polizeien und Geheimdiensten stammende Aktenstücke abgedeckt wurden, bewirkte, daß sich der Einsichtsprozeß über sechs Jahre hinzog. Trotz aller Einschränkungen hat die schweizerische Linke damit die umfangreichste Öffnung von Geheimdienstarchiven erkämpft, die es je in Westeuropa gab. (3)

Modernisierung und Computerisierung

Auch im Umgang mit der Initiative spielte die Regierung, der Bundesrat, auf Zeit. Das Volksbegehren zur Abschaffung des Staatsschutzes war 1991 mit über 100.000 Unterschriften eingereicht worden. Ziel ist die Einfügung eines neuen Artikels 65 bis in die Bundesverfassung: „Die politische Polizei ist abgeschafft. Niemand darf bei der Wahrnehmung ideeller und politischer Rechte überwacht werden. Die Verfolgung strafbarer Handlungen bleibt vorbehalten.“ Statt zügig darüber abstimmen zu lassen, betrieb das EJPD seit Anfang der 90er Jahre den Ausbau und die Computerisierung von Staatsschutz und Polizei sowie deren Verrechtlichung und schuf auf diese Weise vollendete Tatsachen. (4) Die Schweiz machte damit einen ähnlichen Prozeß wie andere westeuropäische Staaten durch, der aber aufgrund der spezifischen Organisation und Rechtstradition der Schweiz andere Formen annahm als beispielsweise in der Bundesrepublik.

Ein ausgebautes Polizeirecht wie in Deutschland gibt es in der Schweiz nicht. Ein großer Teil der kantonalen Polizeigesetze sind bisher bloße Dienstreglements und umfassen keine oder nur wenige originäre polizeiliche Befugnisse. Die Tätigkeit der Polizei und Untersuchungsbehörden der Schweiz richtet sich nahezu ausschließlich nach dem Strafgesetzbuch und den Strafprozeßordnungen der Kantone und des Bundes. Originäre Strafverfolgungskompetenzen kommen dem Bund dabei nur in einer Reihe von politischen Straftaten (Hoch- und Landesverrat, Sprengstoffdelikte) sowie im Drogenbereich zu, wo die Bundesanwaltschaft und das ihr unterstellte ‚Bundesamt für Polizeiwesen‘ (BAP) mit den Kantonen konkurrieren. Mit dem 1995 in Kraft getretenen Bundesgesetz über kriminalpolizeiliche Zentralstellen (5) wurde im BAP neben der bereits bestehenden Betäubungsmittel-Zentralstelle eine Zentralstelle für die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität errichtet. Die Zentralstellendienste des BAP sollen die internationale und interkantonale Zusammenarbeit koordinieren. Das Zentralstellengesetz sieht auch die Führung von Datensystemen vor: Die Drogendatenbank DOSIS existiert bereits, ein Datensystem in Sachen OK befindet sich im Aufbau. Das Gesetz war auch insofern beispielgebend, als es die Auskunft über die gespeicherten Daten generell verweigerte. Erst nach Ende der Aufbewahrungsdauer und dem „Dahinfallen der Interessen der Strafverfolgung an der Geheimhaltung“ kann, gemäß Art. 14 des Gesetzes, Auskunft an die Betroffenen gewährt werden.

Durch die Einführung des Tatbestandes der ‚kriminellen Organisation‘ (Art. 260ter StGB) war bereits 1993 die Tätigkeit der Kriminalpolizei weit ins Vorfeld ausgedehnt worden. Ein Gesetzentwurf über verdeckte Ermittlungen, der Änderungen im Bundesstrafprozeß und im Betäubungsmittelgesetz vorsieht, liegt bereits vor. (6)

Staatsschutz per Gesetz

Neben dieser Vorverlagerung der kriminalpolizeilichen Aktivitäten strebte das EJPD eine Verrechtlichung des (präventiven) Staatsschutzes an. Dessen bisherige Rechtsgrundlage bestand in einem 1945 in den Bundesstrafprozeß eingefügten Absatz 2 in Art. 17: „Der Bundesanwaltschaft wird zur einheitlichen Durchführung des Fahndungs- und Informationsdienstes im Interesse der Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit der Eidgenossenschaft das nötige Personal beigegeben. Sie arbeiten in der Regel mit den zuständigen kantonalen Polizeibehörden zusammen.“ Die der Bundesanwaltschaft unterstellte Bundespolizei (BUPO, nicht zu verwechseln mit dem ‚Bundesamt für Polizeiwesen‘, BAP) war damit einerseits Gerichtspolizei für die politischen Delikte, andererseits geheimer Nachrichtendienst des Bundes, der auch den ebenso wenig rechtlich verankerten kantonalen Nachrichtendiensten Weisungen und Aufträge erteilte. Zusätzlich erfüllte die BUPO Aufgaben des militärischen Geheimdienstes.

An die Stelle der zitierten lapidaren Ermächtigung soll nun ein ganzes Gesetz treten, das – so das EJPD – im Bereich der Präventivpolizei für Rechtsstaatlichkeit sorgen und Auswüchse wie vor 1989 verhindern soll. An den alten Staatsschutz soll in dem 1994 vorgelegten Entwurf des Bundesrates nicht einmal mehr der Name erinnern. Trotzdem beinhaltet das ‚Bundesgesetz über Maßnahmen zur Wahrung der Inneren Sicherheit‘ (7) nichts anderes als die Verrechtlichung des Staatsschutzes in einer modernisierten Form, d.h. einschließlich des seit 1992 aufgebauten Datensystems ISIS (8) und einer modernisierten Aufgabenstellung: Neben Terrorismus, Spionage und gewalttätigem Extremismus sollen die BUPO und ihre Helfer in den Kantonen nun auch das Gespenst der 90er Jahre, die ‚organisierte Kriminalität‘, beobachten. (9) Eine Trennung zwischen einer Polizei mit strafprozessualen Zwangsbefugnissen und einem Geheimdienst, wie sie in anderen westeuropäischen Staaten existiert, soll es weiterhin nicht geben. Wie der deutsche Verfassungsschutz soll auch die BUPO an der Sicherheitsüberprüfung des Bundespersonals mitwirken (Art. 17-19). Insbesondere dagegen hatten sich bei einem Hearing in der Rechtskommission des Nationalrats die Gewerkschaften und Standesorganisationen des öffentlichen Dienstes eingesetzt.

Einigkeit

In seinen Grundzügen ist dieses Gesetz zwischen dem Bundesrat und der bürgerlichen Mehrheit der beiden Parlamentskammern unumstritten. Der Staatsschutz soll auch im präventiven Bereich Befugnisse der geheimen Informationsbeschaffung, -bearbeitung und -weitergabe haben. Dies umfaßt u.a.

– das „Beobachten von Vorgängen“ d.h. auch privater Kommunikation „an öffentlichen und allgemein zugänglichen Orten, auch mittels Bild- und Ton-aufzeichnungen“ sowie die Erstellung von Kontaktprofilen und Bewegungsbildern,

– die „Entgegennahme und Auswertung von Meldungen“, im Klartext: Spitzelberichten und Denunziationen von privater Seite, welche die Fichen und Akten der BUPO bereits vor 1989 füllten;

– die Einsichtsmöglichkeit in amtliche Akten (alles in Art. 12 – Informationsbeschaffung),

– die Möglichkeit, andere öffentliche Stellen (Art. 11) sowie die kantonalen Polizeibehörden (Art. 6 und 7) zur Zusammenarbeit und zur Lieferung von Informationen zu verpflichten,

– die Befugnis zur Weitergabe von Daten an andere Behörden und an ausländische Stellen (Art. 15), und schließlich

– die Verarbeitung von Daten im Datensystem (Art. 13): Die hier vorgesehene Trennung von präventiven Daten und Strafverfolgungsdaten bleibt unwesentlich, da sie von derselben Behörde benutzt werden.

„Ausdrücklich abgelehnt hat das Parlament einen Antrag, daß die Staatsschützer wenigstens die intimsten und besonders schützenswerte Personendaten, nämlich die über Gesundheit, Intimsphäre und Rassenzugehörigkeit zu präventivpolizeilichen Zwecken nicht bearbeiten dürfen“, so der sozialdemokratische Abgeordnete und Präsident des ‚Komitees Schluß mit dem Schnüffelstaat‘ Paul Rechsteiner. (10)

Abgesegnet ist auch die Abschaffung des Rechts auf Akteneinsicht. Der ursprüngliche Entwurf des Bundesrates sah hier eine ‚Selbstbezichtigung‘ vor: Die AntragstellerInnen sollten einen konkreten Sachverhalt benennen, der zur Speicherung geführt haben könnte und außerdem ein besonderes Interesse an der Auskunft nachweisen. (11) Statt dieser ‚deutschen‘ Lösung entschied sich das Parlament schließlich für die britische Variante: An die Stelle der beschränkten Auskunft trat auf Initiative des Ständerats, der kleinen Kammer, die schon im Zentralstellengesetz enthaltene bloße nichtöffentliche Prüfung durch den Datenschutzbeauftragten, der dann den Betroffenen „in einer stets gleichlautenden Antwort“ mitteilt, daß – so der Wortlaut der vorgeschlagenen Alternative – „entweder keine Daten unrechtmäßig bearbeitet würden oder daß er bei Vorhandensein allfälliger Fehler in der Datenbearbeitung eine Empfehlung zu deren Behebung an das Bundesamt gerichtet habe.“ (12)

Differenzen

Im Ständerat, in dem die sozialdemokratischen und grünen StaatsschutzgegnerInnen kaum vertreten sind, gingen die Hardliner aus den bürgerlichen Parteien noch weiter. Sie fügten einen Artikel 12a in den Gesetzentwurf ein, welcher es der BUPO ohne jeglichen Verdacht auf eine Straftat und ohne nachträgliche Kontrolle erlauben soll, Telefone abzuhören und Wohnungen durch Wanzen und per Video zu überwachen. Diese Art der Informationsbeschaffung war bisher nur im gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren, d.h. aufgrund richterlicher Anordnung, möglich.

Die Verschärfungen durch den Ständerat gingen selbst liberalen Kreisen zu weit: Heftige Proteste kamen von dem auf diese Weise zum bloßen Textautomaten degradierten Datenschutzbeauftragten Odilo Guntern, einem Christdemokraten, sowie dem Sonderbeauftragten für die Einsicht in die alten Staatsschutzakten, René Bacher, ehemals Präsident des Baselländischen Obergerichts, der zudem der größten staatstragenden Partei, den Freisinnigen, angehört. Ihre Kritik schien die Bürgerlichen zumindest in der Rechtskommission des Nationalrates zu verunsichern. Den Korrekturen am Gesetzentwurf, welche die Kommission vorschlug, folgte das Plenum des Nationalrates am 4./5.6.96 aber nur in zwei Punkten: Die OK-Beobachtung durch die BUPO wurde abgelehnt. Für diese Entscheidung dürften insbesondere die Interventionen von Staatsanwälten und hohen Kripo-Beamten ausschlaggebend gewesen sein, die wenige Tage vor der Nationalratsdebatte in der Presse die Tätigkeit der BUPO als ineffizient und als eine Verdoppelung der kriminalpolizeilichen Untersuchungen bezeichnet hatten. (13) Abgelehnt wurde auch der Große Lauschangriff als Methode der Informationsbeschaffung im präventiven Bereich.

„Die politische Polizei“, so Paul Rechsteiner, „wird trotz einiger zusätzlicher Schranken nicht etwa ungefährlich oder gar sinnvoll. Im Ergebnis heißt Staatsschutz in Zukunft wie auch in der Vergangenheit Überwachung und Registrierung von abweichenden Gesinnungen, Meinungsäußerungen und politischen Aktivitäten.“ (14)

Voraussichtlich im Herbst des Jahres werden die beiden Kammern ihre Differenzen bereinigen. Mit Überraschungen wird nicht mehr gerechnet. Der Ständerat, so wird vermutet, könnte auf den Großen Lauschangriff verzichten und der Nationalrat seine Bedenken gegen die Beobachtung der OK fallen lassen.

Volkes Wort – letztes Wort?

Danach allerdings steht der Gang an die Urnen an. Auf seiner Tagung am 1.6.96 hat das ‚Komitee Schluß mit dem Schnüffelstaat‘ (15) erstmals öffentlich darüber beraten, ob es zusätzlich zu seiner Volksinitiative zur Abschaffung des Staatsschutzes auch noch ein Referendum gegen das Gesetz durchführen solle. Auch bei einem Scheitern der Initiative böte sich so die Chance, zumindest das vorliegende Gesetz vom Tisch zu räumen. Das Komitee sieht dabei insbesondere zwei Faktoren zu seinen Gunsten: Zum einen die Unterstützung von Liberalen wie René Bacher, dem ’schweizerischen Gauck‘, für den die Abschaffung des Einsichtsrechts der Grund ist, „das Gesetz unter allen Umständen zu bekämpfen.“ (16) Zum anderen eine historische Besonderheit der Eidgenossenschaft: In der Geschichte des Landes sind bisher alle Staatsschutzgesetze auf diese Weise am Volk gescheitert. Bei allen Unzulänglichkeiten ist die schweizerische Form der direkten Demokratie immer wieder für Überraschungen gut.

Catherine Weber ist Sekretärin des ‚Komitee Schluß mit dem Schnüffelstaat‘ in Bern
Heiner Busch ist Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP
(1) Vorkommnisse im EJPD. Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission v. 22.11.89 (Gesch.Nr. 89.006)
(2) Bürgerrechte & Polizei/CILIP 42 (2/92), S. 69ff. und 50 (1/95), S. 65ff.
(3) Vgl. Der Sonderbeauftragte für Staatsschutzakten: (Hg.) Schlußbericht über die Tätigkeit des Sonderbeauftragten für Staatsschutzakten des Bundes, Bern 1996
(4) Vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 48 (2/94), S. 72ff.
(5) in: Bundesblatt Nr. 41, Band III, v. 18.10.94, S. 1850ff.
(6) Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung, Vorentwurf v. 27.6.95
(7) Botschaft zum Bundesgesetz über Maßnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit und zur Volksinitiative „S.o.S. Schweiz ohne Schnüffelpolizei“ v. 7.3.94, Gesch. Nr. 94.028, (im folgenden Bundesratsentwurf)
(8) Verordnung des Bundesrates über das provisorische Staatsschutzinformationssystem (ISIS-Verordnung) v. 31.8.92
(9) Art. 2, Abs. 1 Bundesratsentwurf
(10) Vortrag auf der Tagung „Schlanker Staat – Weg mit dem Staatsschutz“ v. 1.6.96 in Bern; Auszüge in: Fichenfritz 25, Bern 1996
(11) Art. 16 Bundesratsentwurf
(12) Art. 16 i.d.F. von Nationalrat und Ständerat
(13) Vgl. Sonntagszeitung v. 2.6.96
(14) Vortrag …
(15) Siehe: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 50 (1/95), S. 65ff.
(16) Vortrag …