Anschluß ans Europa der Polizeien – Die Schweiz und Schengen

von Heiner Busch

Seit Oktober 1997 ist die Schweiz von Staaten umgeben, die allesamt das Schengener Durchführungsübereinkommen anwenden. Als Nicht-EU-Staat kann die Eidgenossenschaft nicht Mitglied der Schengen-Gruppe werden, dennoch bemüht sich das schweizerische Justizministerium, das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), seit mehreren Jahren um einen Anschluß ans Europa der Polizeien. Hilfe kommt jetzt aus Deutschland und Österreich.

Ohne Beteiligung an den verschiedenen Formen der polizeilichen und ausländerpolitischen Kooperation der EU-Staaten drohe die Schweiz zu einer „Insel der Unsicherheit“, zu einem „Restasylland“ für in der EU abgewiesene Flüchtlinge, zu einem „Rückzugsraum“ für ausländische Terroristen und Mafiosi zu werden, die sich vor dem Schengener Informationssystem in der Schweiz in Sicherheit bringen. So lautet die offizielle Sprachregelung der schweizerischen Behörden seit Anfang der 90er Jahre.

Des langen und breiten wurde sie ausgeführt durch die von der Landesregierung, dem Bundesrat, 1990 eingesetzte „Expertenkommission Grenzpolizeiliche Personenkontrolle“ (EGPK). In ihrem Schlußbericht vom Januar 1993 riet die von dem reaktionären „liberalen“ Parlamentarier François Leuba präsidierte EGPK zu „Ausgleichsmaßnahmen“: erweiterter Staatsschutz im Innern und nach außen Annäherung an Schengen.

Das Rezept wurde angenommen. In dem Wust von Verordnungen und Gesetzen zur Verbesserung der inneren Sicherheit, die das EJPD seit Jahren über die Bühne bringt, bildet die Schengen- und EU-Kompatibilität ein wiederkehrendes Begründungsmuster. Während der Bundesrat in den laufenden Verhandlungen mit der EU-Kommission weiterhin die volle Niederlassungsfreiheit verhindert, präsentiert er sich in Sachen Innere Sicherheit als sehr europäisch: Was im Innern durchgesetzt werden soll, erhält mit dem Verweis auf Europa eine zusätzliche Weihe – egal, ob es um die Visumspolitik, die Einführung von Datenbanken zur Bekämpfung von „organisierter Kriminalität“ und Drogenhandel oder um die derzeit vom Parlament beratene Totalrevision des Asylgesetzes geht.

Schengener Politik wird aber nicht nur „autonom nachvollzogen“. Seit 1991 schon führt man regelmäßig Konsultationen mit der jeweiligen Schengen-Präsidentschaft. Dennoch bleiben Mitgliedschaft oder Assoziierung vorläufig in weiter Ferne. Als Nicht-EU-Staaten wurden bisher nur Norwegen und Island an Schengen herangeführt. Ihre Assoziierung war Vorbedingung für den Beitritt der nordischen EU-Mitgliedstaaten Dänemark, Schweden und Finnland, die die Nordische Paßunion nicht durch eine Außengrenze geteilt sehen wollten. Eine vergleichbare Regelung für die Schweiz ist nicht in Sicht: Sie hat im Dezember 1992 den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum verworfen, sie strebt vorerst keinen EU-Beitritt an und akzeptiert auch – siehe oben – die Niederlassungsfreiheit nicht.

Um sich an Schengen zu beteiligen, führt das EJPD nun bilaterale Verhandlungen mit allen vier Nachbarstaaten. Dabei geht es jeweils um ein ganzes Set von Verträgen: Rückübernahmeabkommen, Vereinbarungen über die polizeiliche Zusammenarbeit an der Grenze und schließlich allgemeine Staatsverträge über Polizeikooperation. Mit Deutschland ist man am weitesten gediehen. Bereits im Dezember 1993 wurde ein Rückübernahmeabkommen abgeschlossen, das am 1. Januar 1996 in Kraft trat. Beim Besuch von Bundesinnenminister Kanther in Bern Ende November 1995 einigten sich beide Seiten zudem auf eine Erklärung, in der Verhandlungen über den Aufbau eines „kooperativen Sicherheitssystems an der gemeinsamen Grenze“ angekündigt wurden. Am 11. Dezember vergangenen Jahres unterschrieben der BMI-Staatssekretär Kurt Schelter und der Direktor des Berner Bundesamtes für Ausländerfragen und ehemalige oberste Staatsschützer des Landes, Peter Huber, ein „Memorandum of Understanding“.[1] Eine fast gleichlautende Vereinbarung war am 8. Oktober vom österreichischen Innenminister Schlögl und EJPD-Chef Arnold Koller unterzeichnet worden.

Außen- oder Binnengrenze

Die Grenze zwischen der Schweiz und ihren Schengener Nachbarn war nie eine richtige Außengrenze. Die hier praktizierten selektiven Kontrollen werden mit den Memoranden festgeschrieben. „Die deutsche Seite“, so Punkt 4.5. der Vereinbarung, „will sich für eine Verständigung der Schengen-Staaten einsetzen, daß schweizerische Staatsangehörige an den Schengen-Außengrenzen nicht dem Kontrollstandard für Drittausländer unterliegen sollen.“ Weiße schweizerische WohlstandsbürgerInnen werden von der „eingehenden Kontrolle“ nach Außengrenzenstandard nichts zu fürchten haben. Dieser ist reserviert für die wirklichen DrittausländerInnen, die man an dunkler Haut und armem Aussehen zu erkennen hat.

In erster Linie für (bzw. gegen) diese sind auch die Vereinbarungen gemacht: Polizei, Grenzschutz bzw. Grenzwacht sowie Zoll von beiden Seiten der Grenze sollen „vor allem im Bereich der illegalen Zuwanderung“ zusammenarbeiten. Die Grenze wird in Zukunft arbeitsteilig kontrolliert und überwacht. Einsatzpläne werden „zwecks optimaler Ressourcennutzung“ aufeinander abgestimmt – und zwar sowohl hinsichtlich der „stationären“ Kontrollen an den Grenzübergängen, als auch in bezug auf „mobile“ Überwachung an der grünen Grenze und im „rückwärtigen Grenzraum“. Klammheimlich führt so auch die Schweiz das deutsche Konzept der „Schleierfahndung“ ein.

Die Memoranden entsprechen weitgehend dem Schema, das in den Abkommen über die grenznahe Zusammenarbeit zwischen den Schengen-Partnern ausgehandelt wurde: gemeinsame Lageanalysen, regelmäßige Treffen, Informationsaustausch, Verbesserung der Kommunikation durch Benennung von Ansprechpartnern, Klärung von Zuständigkeiten und grenzüberschreitende polizeiliche Funkverbindungen. Die schweizerische Polizei wird auf lange Sicht integriert in die gemeinsame Schengener bzw. EU-Funkfrequenz nach Art. 44 Abs. 1 SDÜ. Im Memorandum mit Deutschland sind zusätzlich „grenzpolizeiliche Kontaktdienststellen“ vereinbart. Im Schengener Kontext beschrieb das BMI deren Aufgabe als „Durchführung der Überstellungen und Zurückschiebungen auf der Grundlage der zwischen Deutschland einerseits und Belgien, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden andererseits vereinbarten Rückübernahmeabkommen“[2]. Da die BRD 1993 auch mit der Schweiz ein Rückübernahmeabkommen geschlossen hat, kann in Punkt 4.6. des Memorandums dieselbe Aufgabenstellung eingeführt werden. Angestrebt wird aber nicht nur die Rückübernahme von Personen, die sich ohne die erforderlichen Papiere von der einen auf die andere Seite der Grenze begeben haben, sondern auch die „konzertierte Rückführung“. Anders ausgedrückt: Deutsche und schweizerische Polizisten werden demnächst „Repatriie-rungskontingente“ zusammenlegen und die Charterflüge nach Belgrad und Pristina gemeinsam mit Abzuschiebenden füllen.

Grenzüberschreitende Polizeikooperation

Mit gemeinsamen Einsatzleitungen, Ermittlungs- und Observationsgruppen beginnen die Memoranden den Einstieg in eine erweiterte grenzüberschreitende polizeiliche Kooperation. Die ausländischen Teilnehmer dieser Gruppen nehmen zwar an diversen Ermittlungshandlungen teil, haben aber vorerst nur „Informations- und Beratungsfunktion“ und keine eigenen Befugnisse.

Dies kann sich aber bald ändern. Mit Deutschland sind die Verhandlungen über einen Staatsvertrag schon sehr weit fortgeschritten, so bestätigte der schweizerische Delegationsleiter Huber unsere telefonische Anfrage Anfang November 1997. In diesem zu ratifizierenden Vertrag sind u.a. Befugnisse zur grenzüberschreitenden Nacheile und Observation enthalten. Bei diesen bereits feststehenden Regelungen wolle man – so Huber – der anderen Seite „weder Fallen stellen, noch Fesseln“ anlegen. Verabredet wurde eine „offene Regelung“. Die von einem Kanton ausgesprochene Nacheile-Genehmigung soll für alle anderen Kantone mitgelten. Theoretisch könnten deutsche Polizeibeamte dann bis hinunter nach Chiasso an der italienischen Grenze durchrauschen. Derart offen waren unter den Schengen-Staaten nur Deutschland und Österreich. Alle anderen haben in den Zusatzprotokollen zu Art. 41 SDÜ Einschränkungen gemacht.

Nicht einmal im SDÜ hat man sich auf eine Regelung grenzüberschreitender verdeckter Ermittlungen geeinigt, wie sie jetzt im deutsch-schweizerischen Staatsvertrag vorgesehen ist. Grundlage sei das jeweilige nationale Recht. Pikant ist dabei allerdings, daß eine Rechtsgrundlage für verdeckte Ermittlungen in der Schweiz erst in Arbeit ist. Der Gesetzentwurf soll dieses Frühjahr in die Beratung der Rechtskommission des Nationalrats (der großen Kammer) gehen und könnte allenfalls Ende des Jahres verabschiedet werden.

Ähnlich sieht es beim Informationsaustausch aus. Seit einigen Jahren hat das schweizerische Bundesamt für Polizeiwesen online-Zugang zu den Sachfahndungsdaten von INPOL. Umgekehrt kann das Bundeskriminalamt Sachdaten aus dem schweizerischen Fahndungssystem RIPOL abrufen. Jetzt soll zusätzlich der gegenseitige online-Zugriff auf Fahrzeug- und Halterdaten des deutschen Zentralen Verkehrsinformationssystems ZEVIS bzw. des schweizerischen Motorfahrzeug-Informationssystems MOFIS ermöglicht werden. Die gesetzliche Grundlage für MOFIS ist derzeit in parlamentarischer Beratung. Im Gesetzentwurf „über Schaffung und Anpassung gesetzlicher Grundlagen für Personenregister“ vom September 1997 fehlt übrigens jeglicher Hinweis auf die Weitergabe von MOFIS-Daten ins Ausland.

Die Schweiz wird zwar vorerst keinen Zugang zum SIS erhalten. Dennoch hat sie sich über die bilaterale Hintertür sehr weit ins europäische Polizeihaus hineinbegeben – ohne Vorleistungen beim freien Personenverkehr und ohne parlamentarische Kontrolle.

Heiner Busch ist Redakteur und Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
(1)Siehe: die Dokumentation des Memorandums
(2)BMI: Künftige Aufgabenstellung des BGS an den Westgrenzen Deutschlands nach Inkraftsetzung des Schengener Abkommens am 26. März 1995, (vermutl. Sommer 95)