Die Polizei und ihre Statistik – Instrument der Erkenntnis, der Planung oder der Politik?

von Heiner Busch

Fünfzig Jahre Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) sind fünfzig Jahre vorprogrammierter Missverständnisse. Die Polizei weiß heute, dass die PKS nur eine Anzeigenstatistik ist. Diese Erkenntnis hält weder sie davon ab, PKS-Daten zur Basis von Lagebildern oder Einsatzplanungen zu machen, noch bewahrt es die Öffentlichkeit vor den alljährlichen Schockmeldungen über gestiegene Kriminalität.

Am Anfang, 1953, war da ein dünnes Heftchen. Heute ist die Polizeiliche Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland ein Wälzer von über 250 Seiten Definitionen, Erklärungen und Analysen und mehr als 170 Seiten Tabellen. Hinzu kommen oft ebenso dicke Bände aus den Bundesländern. Der Umfang der erfassten Merkmale und der Auswertungen ist erheblich gewachsen. Die Polizei, so ließe sich daraus schließen, weiß heute erheblich mehr über die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre Kriminalität als noch vor 50 Jahren.

Nicht erst seit der Gründung der BRD spiegelt die Entwicklung der PKS die Geschichte der (Kriminal-)Polizei und ihrer Organisation wider. Die Herausbildung der Kripo in Preußen-Deutschland seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts brachte zunächst den Aufbau einer Kriminalaktenhaltung und – erkennungsdienstlicher – Karteien. Der Schritt von der Fallsammlung zu deren statistischer Auswertung erfolgte erst in den 20er Jahren. Die ersten polizeilichen Kriminalstatistiken wurden von den Landeskriminalpolizeiämtern erstellt. Eine reichseinheitliche Statistik hätte nach dem Gesetz von 1922 zwar die Aufgabe des Reichskriminalpolizeiamtes werden sollen. Das entsprechende Gesetz wurde jedoch nie in Kraft gesetzt. Erst die vollständige Zentralisierung der Kripo durch die Nazis brachte auch eine „Polizeiliche Kriminalstatistik für das Deutsche Reich“. Sie umfasste „Fälle“ und „Täter“ für gerade fünfzehn Deliktgruppen, nur die Jahrgänge 1936-38 wurden veröffentlicht. Mit der Dezentralisierung der Polizei durch die Alliierten war es auch mit der zentralen Kriminalstatistik vorerst vorbei.[1]

Erst die Restauration der Polizei und – als deren Element – die Gründung des Bundeskriminalamts (BKA) im Jahre 1951 ermöglichten wieder eine nun nicht mehr reichs-, sondern bundeseinheitliche Statistik. Die „Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamts“ – kurz: die AG Kripo – war damals und ist bis heute das Gremium, das die Regeln für die PKS festlegt. Eine erste Version dieser bundeseinheitlichen Richtlinien beschloss die Arbeitsgemeinschaft 1957, vier Jahre nach der ersten zunächst versuchsweisen Erstellung. Erfasst wurden mit Ausnahme von Ordnungswidrigkeiten sämtliche Straftaten, bis 1963 einschließlich der Verkehrsdelikte. Angaben zu Staatsschutzdelikten hielt man ab 1960 unter dem Deckel der Geheimhaltung.[2] Die erhobenen Merkmale waren: bekannt gewordene Fälle, Tatort nach vier Gemeindegrößenklassen, aufgeklärte Fälle, ermittelte Täter nach Alter – ab 1954 gemäß der Untergliederung des Jugendgerichtsgesetzes (Erwachsene, Heranwachsende, Jugendliche, strafunmündige Kinder) –, Geschlecht, Wohnsitz und Staatsangehörigkeit.[3] Die PKS sollte es ermöglichen, „Stand und Bewegung“ der Kriminalität zu beobachten. Heinz zweifelt, ob die einheitlichen Richtlinien auch tatsächlich zu einer einheitlichen Erfassung führten. Wesentlicher an der bis 1970 in nahezu unveränderter Form geführten PKS ist jedoch der absolut naive Umgang mit der „Aufklärungsquote“. Mit Sternchen am Rande der Tabelle gratulierte sich die Polizei, wenn diese Quote bei einem bestimmten Delikt ihren bisherigen Höchstwert erreicht hatte.

Technischer Aufbruch und neue Richtlinien

Die Wende zu den 70er Jahren stellt sich auch für die deutsche Polizei als eine Um- und Aufbruchphase dar. Stichworte hierfür sind der organisatorische Ausbau der Landeskriminalämter und vor allem des BKA, die präventive Kehre in Ideologie und Recht der Polizei, die Technisierung, der Versuch der Mobilisierung von Intelligenz – sei es durch die Nutzung von Wissenschaft und Forschung als polizeiliche Ressource oder durch die Neugestaltung von Ausbildung und Rekrutierung.[4]

Die neuen bundeseinheitlichen Richtlinien zur Führung der PKS, die zum 1. Januar 1971 in Kraft traten, drücken diesen Wandel deutlich aus. Dies nicht nur, weil die Statistik nun auf EDV geführt wurde. Dahinter stand das Projekt der Computerisierung des kriminalpolizeilichen Meldedienstes in Form einer Straftaten-Straftäter-Datei, die zwar 1983 endgültig scheiterte, aber bis zu diesem Zeitpunkt die polizeilichen Erwartungen beflügelte. Der Wandel zeigt sich vor allem an einer neuen Zielvorgabe: Die PKS, so heißt es bis heute in den Vorbemerkungen der Jahresbände, diene der „Erlangung von Erkenntnissen für vorbeugende und verfolgende Verbrechensbekämpfung, organisatorische Planungen und Entscheidungen sowie kriminalpolitische Maßnahmen.“

Insgesamt zeigt sich ein größerer Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Die PKS wurde nun definitiv als Ausgangsstatistik geführt, d.h. entscheidend für die Fallzählung wurde der Abschluss eines Ermittlungsverfahrens auf polizeilicher Ebene und die Abgabe an die Staatsanwaltschaft. Ein Teil der Bundesländer hatte die Fälle bis dahin mit dem Eingang der Anzeige registriert. Das Durcheinander hatte nun ein Ende.

Die PKS wurde darüber hinaus stärker nach kriminalistischen Überlegungen gegliedert: Sie erhielt zusätzliche Erhebungsmerkmale; dazu gehörte ab 1978 auch die Unterscheidung der „nichtdeutschen“ Tatverdächtigen nach Art ihres Aufenthaltes. Die Zahl der Straftatenschlüssel wuchs von 105 im Jahre 1971 auf 192 im Band für 1980. Mittlerweile ist man bei 398 angekommen.[5]

Gleichzeitig dokumentieren die „Vorbemerkungen“ seit 1971 aber den methodischen Zweifel an der Aussagekraft der präsentierten Daten: „Die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik unterliegt allerdings nach wie vor der Einschränkung, dass der Polizei ein Teil der begangenen Straftaten nicht bekannt wird.“ Das Dunkelfeld sei aber von Delikt zu Delikt verschieden, abhängig von der „Anzeigebereitschaft der Bevölkerung“ und der „Intensität der Verbrechensbekämpfung“. Die Folgerung aus diesen Ausführungen müsste lauten: Aus der PKS lassen sich keine Rückschlüsse auf eine wie immer vorgestellte „Kriminalitätswirklichkeit“ ziehen. Sie ist eine Anzeigenstatistik und muss als solche gelesen werden.[6] Stattdessen heißt es in den „Vorbemerkungen“ weiter:

„Dennoch ist sie für Legislative, Exekutive und Wissenschaft ein unentbehrliches Hilfsmittel, um Erkenntnisse über die Häufigkeit der erfassten Straftaten sowie über Formen und Entwicklungstendenzen der Kriminalität für die oben umschriebenen Zielsetzungen zu gewinnen.“

Anders ausgedrückt: Die PKS ist kein Abbild der „Kriminalitätswirklichkeit“, aber weil wir nichts anderes haben, müssen wir trotzdem so tun.

Die Folge aus dieser widersprüchlichen Position zeigt sich am Ausbau der kriminalwissenschaftlichen Forschung im BKA und einigen Landeskriminalämtern, die vor allem in den 70er Jahren ihren Schwerpunkt in der Dunkelfeldforschung hatte. Diese sollte u.a. Klarheit über den Grad der Anzeigebereitschaft in einzelnen Deliktsbereichen bringen. Neben Opfer- und Täterbefragungen bediente man sich kriminalgeographischer Ansätze.[7]

Ein Instrument der Einsatzplanung?

Bei der Forschung blieb es aber nicht. Insbesondere die EDV erweckte und erweckt weiterhin Hoffnungen, kriminalstatistische Daten ließen sich zu Planungsdaten ummünzen, die es der Polizei ermöglichen, sich schnell auf eine veränderte „Kriminalitätswirklichkeit“ einzustellen.

Die Hoffnungen lagen auch hier zunächst auf der Kriminalgeographie, die für Horst Herold, den BKA-Präsidenten der 70er Jahre, – im Unterschied zur „Kriminalitätsgeographie“ – eine reine „Zweckwissenschaft“ war. Bereits als Nürnberger Polizeipräsident hatte er Versuche initiiert, die kontinuierliche Auswertung des Anzeigenaufkommens für die Bestimmung von Schwerpunkten der Streifentätigkeit zu nutzen. Die polizeilichen Anstrengungen konzentrierten sich dabei auf „präventable Delikte“, also auf die so genannte Straßenkriminalität.[8] Dass die Losung „Mehr Grün auf die Straße“ zumindest Verdrängungseffekte zeitigt oder sich gar direkt mit „Mehr Anzeigen/Fälle in die Statistik“ übersetzen lässt, spielt(e) weder für Herold noch für seine heutigen minderen Brüder im Geiste eine Rolle. Wie Oliver Brüchert im nachfolgenden Artikel aufzeigt, haben die Innenministerien mehrerer Bundesländer Zielvereinbarungen mit ihren Polizeien abgeschlossen, die letztere zu einer Senkung der Fallzahlen bei bestimmten Delikten verpflichten. Vermehrte polizeiliche Aktivität wird genau das Gegenteil bewirken.

Die Erwartung, kriminalstatistische Daten schnell und umfassend auswerten und daraus „strategische“ Konsequenzen ableiten zu können, stand nicht nur hinter dem 70er-Jahre-Projekt der Straftaten-Straftäter-Datei, sondern in den 90er Jahren wiederum hinter den Planungen eines „Führungsinformationssystems“ im Rahmen von Inpol-neu. Die kontinuierliche Meldung sämtlicher Anzeigen und Ermittlungen von der polizeilichen Basis an die Spitze sollte automatisch zu einer Eingangsstatistik und zur PKS führen und darüber hinaus der Erstellung von Lagebildern dienen.[9] Der Traum ist vorerst an technischen Problemen gescheitert. Die heutigen Lagebilder und „strategischen Analysen“, das demonstriert Norbert Pütter in diesem Heft, kranken nicht daran, dass die kriminalstatistischen Informationen zu langsam einfließen, sondern u.a. an der Unmöglichkeit, aus ihnen Vernünftiges abzuleiten. Sie sind darüber hinaus vielfach in legitimatorischer Absicht verfasst.

Alternativen zur PKS?

Die PKS mag zwar vor Fehleinschätzungen der Daten warnen. Diese Warnung verhallt jedoch ungehört, wenn die Innenpolitiker, die sie jährlich den Medien präsentieren, an etwas ganz anderem interessiert sind: an dem Gespenst der steigenden Kriminalität, das sich trefflich dazu eignet, das Publikum zu erschrecken und auf mehr Strafrecht oder mehr polizeiliche Befugnisse einzuschwören.

Der Erste Periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung scheint hier einen anderen Akzent zu setzen.[10] Die insgesamt sehr abwägenden Darstellungen scheinen für Forderungen nach mehr polizeilicher Härte kaum nutzbar, eignen sich aber umso besser als wissenschaftliches Feigenblatt. Bestes Beispiel hierfür ist der Abschnitt über Organisierte Kriminalität, der nach einer geschwätzigen Sekundäranalyse polizeilicher Lagebilder und einschlägiger Literatur am Ende doch zu einer verhaltenen Seligsprechung der in den letzten Jahren erfolgten Gesetzesverschärfungen gelangt. Hinter dem „anderen Sicherheitsbericht“, den Hanak und Pilgram 1991 klar als Kritik der österreichischen PKS und den daran erkennbaren Kriminalisierungsstrategien angelegt haben, bleibt der periodische Sicherheitsbericht meilenweit zurück.[11] Da zudem unklar ist, in welchen Perioden der Bericht denn herauskommen soll, ist kaum damit zu rechnen, dass er die „emotionale Überhitzung“[12] bei der regelmäßigen Vorstellung der PKS einzudämmen vermag.

Haushaltsplanung mit PKS-Zahlen?

Gegen diese „Überhitzung“ hatte sich Herold in einem Aufsatz von 1976 zu wehren versucht. Die PKS, so seine Predigt an Polizei und Politik, sei keine „Aufzeichnung der Kriminalitätswirklichkeit“, aber ein „zuverlässiges Messinstrument der polizeilichen Arbeitsbelastung“, „eine unerlässliche und nicht ersetzbare Erkenntnisquelle … für Organisations-, Einsatz- und Haushaltsplanung.“ Selbst diese Funktion wird von einer polizei-internen Studie aus Baden-Württemberg in Frage gestellt. Die Konkurrenzsituation zwischen den Organisationseinheiten der Polizei und der Umstand, dass Fallzahlen und Aufklärungsquoten „für die Personalbewirtschaftung“ genutzt werden, „führt tendenziell dazu, die eigene Organisationseinheit in besseres Licht rücken zu wollen. Sie trägt damit in einem beachtlichen Umfang zu einer Übererfassung von Straftaten bei.“[13] PolizeibeamtInnen, die sich und ihrer Organisationseinheit etwas Gutes tun wollen, ist daher zu empfehlen, „in die Ausländer zu gehen“ oder die an bekannten Drogenkonsum- und -handelsplätzen reich vorhandene Beute einzufahren. Fallzahlen und Aufklärungsquote werden steigen, PolitikerInnen und Polizeiführungen werden es honorieren. Die Betroffenen hört sowieso niemand an.

Heiner Busch ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Heinz, W.: Die deutsche Kriminalstatistik, in: BKA-Bibliographienreihe Bd. 5, S. 3-139 (26-30)
[2] siehe dazu Werkentin, F.: ‚Staatsschutz‘ statistisch gesehen, in Bürgerrechte & Polizei/ CILIP 42 (2/1992), S. 47-51
[3] s. die drei Seiten „Entwicklungsgeschichte der PKS“, in: BKA: Polizeiliche Kriminalstatistik – Bundesrepublik Deutschland 2002, Wiesbaden 2003, S. I-III
[4] en détail: Busch, H. u.a.: Die Polizei in der Bundesrepublik, Frankfurt, New York 1985
[5] BKA a.a.O. (Fn. 3), Entwicklungsgeschichte, S. III
[6] s. den nachfolgenden Artikel von Oliver Brüchert
[7] Schwind, H.-D.: Empirische Kriminalgeographie. Kriminalitätsatlas Bochum (BKA-Forschungsreihe, Bd. 8), Wiesbaden 1978
[8] Herold, H.: Die Bedeutung der Kriminalgeographie für die polizeiliche Praxis, in: Kriminalistik 1977, H. 7, S. 289-296
[9] Sehr, P.: Inpol-neu – Aufbruch in eine neue Generation der polizeilichen Datenverarbeitung, in: der kriminalist 2001, H. 2, S. 60-63
[10] Bundesministerium des Innern; Bundesministerium der Justiz (Hg.): Erster Periodischer Sicherheitsbericht, Berlin 2001
[11] Hanak, G.; Pilgram, A.: Der andere Sicherheitsbericht (Kriminalsoziologische Bibliographie) Wien 1991; siehe auch Peters, H.; Sack, F.: Von mäßiger Fortschrittlichkeit und soziologischer Ignoranz, in: Kriminologisches Journal 2003, H. 1, S. 17-29
[12] Herold, H.: Ist die Kriminalitätsentwicklung und damit die Sicherheitslage verläßlich zu beurteilen?, in: Kriminalistik 1976, H. 8, S. 337-345 (337, 344)
[13] Stadler, W.; Walser, W.: Fehlerquellen der Polizeilichen Kriminalstatistik, in: Liebl, K.; Ohlemacher, T.: Empirische Polizeiforschung. Interdisziplinäre Perspektiven in einem sich entwickelnden Forschungsfeld, Herbolzheim 2000, S. 68-89 (80)

Bibliographische Angaben: Busch, Heiner: Die Polizei und ihre Statistik. Instrument der Erkenntnis, der Planung oder der Politik?, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 77 (1/2004), S. 6-11

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