Mit Schlapphüten gegen die Mafia – OK-Beobachtung durch den Verfassungsschutz

von Fredrik Roggan

Verfassungsschutzbehörden unterliegen nicht dem Legalitätsprinzip. Sie haben zudem jahrzehntelange Erfahrung im Auskundschaften ganzer Szenen und verfügen über umfängliche Befugnisse und geheimdienstliche Instrumentarien. Das alles spricht nach Ansicht einiger Landesgesetzgeber dafür, die Dienste auch mit der Beobachtung der „Organisierten Kriminalität“ (kurz: OK) zu betrauen.

Inzwischen haben vier Bundesländer ihre Verfassungsschutzbehörden mit der Beobachtung der OK beauftragt. Bayern machte bereits 1994 den Anfang. Nachdem in der Folge andere Bundesländer auf die in Bayern gemachten Erfahrungen warteten, zogen Hessen, Thüringen, Sachsen und das Saarland ab Ende der 90er Jahre nach. 1997 legte das Bayerische Innenministerium einen als „Bilanz nach drei Jahren“ bezeichneten Bericht vor. Darin präsentiert das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Beispiele seiner angeblich erfolgreichen Arbeit und erläutert die rechtlichen Hintergründe – aus seiner ganz eigenen Sicht. So habe man u.a. mehrere Rauschgifthändler erkannt, die später verurteilt wurden. Der Geheimdienst habe zudem verschiedentlich Hinweise auf Autoschiebereien und Waffenhandel erhalten. In die „Erfolgsbilanz“ aufgenommen wurde auch die Festnahme eines Bankräubers, obgleich überhaupt kein Zusammenhang mit OK-verdächtigen Straftaten erkennbar ist.[1] Tatsächlich bedeuten die neuen Aufgaben eine Abkehr von rechtsstaatlicher Strafverfolgung. Sie stellen eine Verschmelzung von geheimdienstlicher und polizeilicher Aufgabenerfüllung dar.

Die Weite des gesetzlichen Auftrags

Der Beobachtungsauftrag an die Verfassungsschutzbehörden und insbesondere die Behandlung der durch die geheimdienstlichen Datenerhebungen gewonnenen Erkenntnisse gleichen sich in den vier Bundesländern weitestgehend. Ihre Gesetze fassen den „Schutz vor Organisierter Kriminalität“ als eine neue zusätzliche Aufgabe des jeweiligen LfV neben dem bestehenden Auftrag – „Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ –, der sich in allen Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder seit den 70er Jahren findet.[2] Diese neue Aufgabe unterscheidet sich grundsätzlich von der bisherigen. Sie kann nämlich nicht durch die bloße Beobachtung der OK verwirklicht werden, sondern beinhaltet notwendigerweise, dass die dabei gewonnenen Erkenntnisse an Polizei und Justiz weitergegeben werden, mit dem Ziel, entsprechende Straftaten zu verfolgen oder zu verhüten. Alle vier Landesgesetze enthalten daher die Verpflichtung des jeweiligen LfV, bei tatsächlichen Anhaltspunkten für bestimmte Straftaten die entsprechenden Daten an Staatsanwaltschaft und/oder Polizei zu übermitteln. Der Auftrag der OK-Beobachtung ist damit faktisch ein Auftrag, der Polizei zuzuarbeiten.

Die in den Verfassungsschutzgesetzen der vier Länder benutzte OK-Definition ist die gleiche, die die Justiz- und Innenministerkonferenz 1990 den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden vorgaben.[3] Demnach soll sich OK dadurch auszeichnen, dass sie durch mehr als zwei Beteiligte, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig tätig werden, begangen wird. Dies soll unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen oder unter Anwendung von Gewalt oder durch entsprechende Drohungen oder unter Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft geschehen. Nicht nur das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in jüngerer Zeit Bedenken gegen eine derart weite Beschreibung der zu beobachtenden Kriminalitätsphänomene angemeldet: Das Phänomen der Organisierten Kriminalität lasse sich nur schwer gesetzlich fassen.[4] An der hinreichenden Bestimmtheit dieser Legaldefinition bestehen insbesondere deswegen Zweifel, als von der Definition auch solche Erscheinungsformen der Kriminalität eingeschlossen werden, die als durchaus normale „Mehr-Täter-Kriminalität“ zu verstehen ist und als solche kaum eine der Mafia entsprechende Gefährdung darstellen kann. Schon alltägliche Bandenkriminalität, die sich durch ein gewisses Maß an Arbeitsteiligkeit („Gewerbsmäßigkeit“) auszeichnet, kann per definitionem unter den Beobachtungsauftrag fallen.[5] Der Auftrag an die Verfassungsschutzbehörden geht also weit über die Beobachtung von tatsächlich für gefährlich zu haltenden Szenen hinaus.

Ermittlungen ohne Anfangsverdacht

Eine solche himmelweit offene OK-Definition ist bereits bei polizeilichen Ermittlungen rechtsstaatlich bedenklich, für die Beobachtung durch den Verfassungsschutz gilt dies umso mehr. Für den Beginn polizeilicher Ermittlungen ist nämlich im Normalfall ein Anfangsverdacht (nach § 152 Abs. 2 StPO) erforderlich, der trotz der in den letzten zwei Jahrzehnten erfolgten Vorverlagerung polizeilicher Eingriffsbefugnisse immer noch in gewissem Maße den Gegenstand der Ermittlungen bestimmt und begrenzt. Dem Verfassungsschutz reichen dagegen schon tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten von OK. Für seine geheimdienstlichen Vorfeldermittlungen sind damit praktisch alle verfügbaren Informationen von Belang: Welche Informationen tatsächlich Hinweise auf Straftaten darstellen, lässt sich oft erst später beurteilen. Daher ist weder der Ermittlungsgegenstand effektiv eingegrenzt noch der Personenkreis, der sich die geheimdienstlichen Ausforschungen gefallen lassen muss. Es gehört also unvermeidbar zu einem solchen Konzept, dass in jeder Hinsicht Unverdächtige betroffen werden. Obwohl der Auftrag an den Verfassungsschutz letztlich eine strafverfolgende/gefahrabwehrende Zielrichtung enthält, finden die Restriktionen dieser Rechtsgebiete keine Anwendung. Diese Konstruktion unterliegt damit noch geringeren Beschränkungen als die der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ im neueren Polizeirecht.

Strafverfolgung jenseits des Legalitätsprinzips

Mitunter wird ganz freimütig zugestanden: „Der Vorteil des Verfassungsschutzes liegt darin, dass er nach dem Opportunitätsprinzip zunächst (eine) Einzelstraftat zur Kenntnis nimmt, diese nicht an die Strafverfolgungsbehörden weiterleitet, aber dafür über diesen Straftäter an die weiteren Hintermänner kommt, bis die Informationen über die Struktur bekannt sind.“ Erst dann, so der Präsident des saarländischen LfV, werde „die komplette Strukturerkenntnis an die Polizei weitergegeben“.[6] Die in allen Verfassungsschutzgesetzen vorgesehene Übermittlung der durch den Verfassungsschutz erhobenen Daten an die Strafverfolgungs- und Gefahrenabwehrbehörden soll mithin – gegebenenfalls über längere Zeitspannen – suspendiert werden. Praktisch bestimmt also der Geheimdienst selbst, wann er was an die Polizei weitergibt. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass die Herkunft der übermittelten Daten nicht in Ermittlungsakten erkennbar ist, ihr Zustandekommen und ihre Qualität im Strafverfahren daher nicht hinterfragt werden können.

Der Legalitätsgrundsatz stellt u.a. eine Garantie für eine gleichmäßige Strafverfolgung dar und ist eine Ausprägung des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Offenkundig wird also die fehlende Bindung der Geheimdienste an dieses Prinzip als Vorteil verstanden. Die OK-Ermittlungen lassen diesen rechtsstaatlichen Grundsatz schlicht außer Acht. Sie opfern ihn der Hoffnung auf eine effektivere Bekämpfung bestimmter krimineller Szenen. Sie reklamieren damit für sich eine Art Sonder-Strafverfahrensrecht. Wenn der Verfassungsschutz den Auftrag hat, Organisierte Kriminalität aufzuklären, dann geht es – wie Frister richtig feststellt – letztlich um die Grundsatzfrage, inwieweit die Strafverfolgungstätigkeit auch künftig rechtlich gebunden sein soll.[7]

Sächsische Absurditäten

Eine bemerkenswerte Ergänzung hat jüngst das Sächsische Verfassungsschutzgesetz erfahren.[8] Die Verpflichtung des Geheimdienstes, strafverfahrens- und gefahrenabwehrrelevante Daten an die Polizei weiterzugeben, wurde eingeschränkt. Nach dem neuen § 12 Abs. 2 des Gesetzes sollen nur noch in beschränktem Umfang Erkenntnisse an die Strafverfolgungs- resp. Polizeibehörden weitergeben werden – und zwar nur dann, wenn sich die betreffenden Straftaten gegen das Leben, in erheblichem Maße gegen die körperliche Unversehrtheit oder gegen Sach- und Vermögenswerte von erheblicher Bedeutung richten. Die Begründung für diese Einschränkung lautet „Quellenschutz“. Dieser sei bei der breiten Übermittlungspflicht nach der alten Regelung nicht mehr gegeben, weswegen „andere Landesämter sich daran gehindert sähen, ihrer Pflicht zur Zusammenarbeit nachzukommen.“[9]

Sämtliche Erkenntnisse des Verfassungsschutzes über Drogenkriminalität, „Kriminalität im Zusammenhang mit dem Nachtleben“, Steuer- und Zolldelikte, die sog. Schleuserkriminalität, Fälschungskriminalität, den Waffenhandel und -schmuggel und die Umweltstraftaten werden nun also nicht mehr an die Polizei übermittelt. Allein die Drogenkriminalität macht gemäß dem „Lagebild Organisierte Kriminalität 2002“ des Bundeskriminalamts 36,8 Prozent aller bundesweit von den Polizeien mitgeteilten OK-Ermitt­lungs­verfahren aus. Auf alle genannten Bereiche zusammen entfallen etwa 70 Prozent der Verfahren. Nimmt man an, dass sich bei den OK-Erkenntnissen des Verfassungsschutzes eine ähnliche Aufteilung zeigt, so würde das bedeuten, dass der Geheim­dienst über zwei Drittel seiner Informationen künftig für sich behält und eine diesbezügliche Strafverfolgung verhindert.

Es erscheint nachgerade widersinnig, einerseits einen Geheimdienst mit dem Schutz vor Kriminalität zu beauftragen und andererseits den ganz überwiegenden Teil der durch geheimdienstliche Ausforschungen bekannt gewordenen Straftaten weder zu verhindern noch regulären Strafverfolgungsmaßnahmen zu unterwerfen. Wenn aber geheimdienstliche Opportunität zur obersten Maxime staatlicher Sicherheitsproduktion avanciert, so müssen innere Schlüssigkeit gesetzlicher Regelungen offenbar ebenso auf der Strecke bleiben wie grundlegende rechtsstaatliche Errungenschaften wie u.a. das Legalitätsprinzip.

Fredrik Roggan ist Redaktionsmitglied von Bürgerrechte & Polizei/CILIP und Rechtsanwalt in Berlin.
[1] Bayerisches Innenministerium: Beobachtung der Organisierten Kriminalität durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz, München, o. J., S. 8
[2] Werthebach, E.; Droste-Lehnen, B.: Organisierte Kriminalität, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1994, H. 2, S. 57-65; die Autoren stellen die OK-Beobachtung als Variante der bisherigen Aufgaben des Dienstes dar. Dass sie irren, geht z.B. aus § 1 Abs. 2 des Bayerischen VSG hervor: Das LfV „dient auch dem Schutz vor Organisierter Kriminalität.“
[3] Gemeinsame Richtlinien über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität, abgedruckt in: Kleinknecht, T., Meyer-Goßner, L.: Strafprozessordnung, 44. Auflage, München 1999, S. 1913-1921 (1914)
[4] BVerfG in: Neue Juristische Wochenschrift 2004, H. 14, S. 999-1022 (1009)
[5] krit. dazu Frister, H.: Der (bayerische) Verfassungsschutz als Strafverfolgungsbehörde, in: Schulz, J.; Vormbaum, Th. (Hg.): Festschrift für Günter Bemmann, Baden-Baden 1997, S. 542-559 (545 f.)
[6] Albert, H. zitiert nach: Sächsischer Landtag, Stenografisches Protokoll der Anhörung des Innenausschusses am 8.1.2004 im Sächsischen Landtag, S. 29
[7] Frister a.a.O. (Fn. 5), S. 559
[8] Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt 2004, Nr. 6, S. 134
[9] Sächsischer Landtag, Drs. 3/9582 v. 10.11.2003