von Norbert Pütter
Die Debatte um die „Gewalt gegen Polizeibeamte“ hat im Sommer einen weitere Stufe erreicht: Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) legte den dritten Teil seiner Untersuchung vor, die Innenminister einigten sich auf eine einheitliche Lagebilderstellung, und der Bundestag verabschiedete verschärfte Strafandrohungen.
Pünktlich zur Sommersitzung der Innenministerkonferenz (IMK) präsentierte das KFN die letzte Auswertung seiner im Auftrag von zehn Bundesländern durchgeführten schriftlichen (Online-)Befragung von PolizistInnen. Mit dem Ziel dazu beizutragen, „dass sich die öffentliche Debatte möglichst eng an den empirischen Fakten orientieren kann“, wurden drei Zwischenberichte erstellt. Der erste lieferte eine allgemeine quantitative Charakterisierung der Angriffe auf PolizistInnen in den Jahren 2005 bis 2009. Der zweite galt den „Tätern der Gewalt“, der nun veröffentlichte letzte Bericht verspricht „Befunde zu Einsatzbeamten, Situationsmerkmalen und Folgen von Gewaltübergriffen“.[1] Auf die methodischen Schwächen der Untersuchung, auf ihre prinzipiell polizeifreundliche Sichtweise und ihre beschränkte Aussagekraft, die den ersten Zwischenbericht kennzeichneten, muss an dieser Stelle nicht erneut hingewiesen werden.[2]
Der zweite Bericht versuchte anhand der Angaben von 2.603 Beamten, die angegriffen worden waren, ein Profil der Täter zu erstellen. Demnach waren die Täter männlich (über 90 Prozent), handelten allein (fast 75 Prozent) und waren unter 25 Jahre alt (fast 60 Prozent). Knapp 38 Prozent der Täter hatten eine nichtdeutsche Herkunft (in Großstädten lag dieser Anteil bei über 50 Prozent). Zur Gewalt kam es in mehr als einem Drittel der Fälle, weil die Person sich der Festnahme entziehen wollte. Bei einem knappen Drittel vermuteten die PolizistInnen Feindschaft gegenüber Staat und/oder Polizei als Motiv. Darüber hinaus waren die Angreifer meist alkoholisiert (zwischen 67 und 77 Prozent) und zu zwei Dritteln der Polizei schon vorher bekannt. Fast 90 Prozent der Täter wurden festgenommen; gegen fast 90 Prozent der Festgenommenen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, das in knapp 70 Prozent zu einer Verurteilung führte. Die Hälfte der erwachsenen Täter wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, mehr als ein Drittel der Jugendlichen oder Heranwachsenden zu einer Bewährungsstrafe. Mehr als 60 Prozent der PolizistInnen hielten die Bestrafungen für zu milde.
Bevor einzelne Befunde des 3. Berichts kurz wiedergegeben werden, muss dennoch eine Aussage in beiden Berichten zitiert werden, die gleichzeitig den bescheidenen Wert der gesamten Untersuchung, wie das Unvermögen der AutorInnen, damit angemessen umzugehen, vor Augen führt: Alle Angaben seien „einzig aus der Perspektive der Polizeibeamten erhoben worden. Es handelt sich damit um subjektive Einschätzungen, wobei davon auszugehen ist, dass die Beamten um größtmögliche Objektivität ihrer Angaben bemüht gewesen sein dürften“ (2. Bericht, S. 67; 3. Bericht, S. 37). Es ist keinerlei Grund ersichtlich, warum die Antwortenden „objektiv“ sein sollten. Schließlich sollen die Erfahrungen und Bewertungen der PolizistInnen erhoben werden. Im besten Fall kann man mit der schriftlichen Befragung subjektive Wahrheiten erheben; in Wirklichkeit ermittelt man jedoch Äußerungen im Kontext einer Befragung. Das wird besonders fatal, wenn es wie im 3. Bericht, um die Selbstbeschreibung der Opfer geht. Mindestens naiv ist die Annahme, dabei könne es sich um „objektive“ Angaben handeln.
Der dritte – mit 144 Seiten umfangreichste – Bericht versucht ausschließlich aus den Angaben der angegriffenen PolizistInnen ein Bild der Angegriffenen zu zeichnen. Deshalb ist es kein Wunder, dass die „Befunde“ trivial und/oder wertlos sind. Drei Beispiele aus der Gruppe der banalen Ergebnisse:
- Auf S. 15 wird festgestellt, dass bei Angriffen häufiger Polizistinnen und Polizisten mit Migrationshintergrund anwesend waren. Auch das Alter der beteiligten BeamtInnen stieg. Die Schlussfolgerung des Berichts: „Die Öffnung des Polizeidienstes für Frauen kann damit mit den Daten ebenso nachvollzogen werden wie die Öffnung für Personen mit Migrationshintergrund oder die langsame Alterung der Bevölkerung …“!
- Auf S. 21 f. werden die Befunde zur Uniformfarbe dargestellt. Das Ergebnis „Zum einen ist eine signifikante Abnahme des Anteils an Beamten mit grünem Dienstanzug, zugunsten einer Zunahme der Beamten mit blauem Dienstanzug zu konstatieren.“ In einer Fußnote wird dann noch erläutert, dass dies mit der Anschaffung der blauen Uniformen zusammenhängt.
- Bei Angreifern aus türkischen Familien spielt Alkohol eine geringere Rolle (S. 40); bei Angriffen in Kneipenvierteln sind über 90 Prozent der Täter alkoholisiert (S. 60).
Daten ohne Wert
Man muss in diesem Bericht mit 48 Abbildungen und 25 Tabellen lange nach auch nur einer relevanten Information suchen. Denn durchgängig müssen die AutorInnen einräumen, dass sie mit ihrer Methode Sachverhalte von Interesse nicht ermitteln können: So stellt die Studie fest, dass Polizistinnen häufiger bei Einsätzen wegen häuslicher Gewalt angegriffen wurden – sie weiß aber nicht, ob das nur deshalb so ist, weil vermehrt Polizistinnen in solche Einsätze geschickt werden (S. 16); ob das Alter der eingesetzten Polizeiteams das Opferrisiko verändert, kann nicht gesagt werden, weil nur das Alter der angegriffenen Teams bekannt ist (S. 17); dass die attackierten PolizistInnen häufiger Schutzausstattung tragen, wird festgestellt, aber offen bleibt warum: weil mehr Ausstattung verfügbar war, weil die BeamtInnen in der Erwartung von Angriffen sie häufiger anlegten oder weil die Angriffe tatsächlich brutaler wurden, so dass die Zahl der Schutzausrüstungen tragenden Opfer stieg. „Diese Effekte lassen sich mit den Daten nicht trennen.“ (S. 21) Die angegriffenen PolizistInnen bewerten ihr Verhalten positiver als ihre Ausbildung und Ausstattung. Dies sei „nicht überraschend“, denn zum einen seien sie ja „geschult darin, deeskalierend zu agieren“, zum anderen könne in den Antworten „auch von einem Effekt der sozialen Erwünschbarkeit ausgegangen werden“. (S. 105 f.)
Derartige Beispiele ließen sich seitenlang auflisten. Sehr schnell stellen sich zwei Fragen: Warum beauftragen zehn Innenministerien ein Forschungsinstitut mit einer Untersuchung, der alle relevanten Bezugsgrößen nicht zur Verfügung stehen (weil man sie nicht rausrückt oder weil die Forschenden kein Interesse daran haben)? Warum unternimmt das KFN ein Projekt, dessen methodischer Ansatz zu keinen verwertbaren Ergebnissen führen kann? Im ersten Bericht (S. 26) hatte man noch angekündigt, zur Überprüfung der geschätzten Steigerungsraten eine vom niedersächsischen Landeskriminalamt zugesagte Aktenauswertung heranzuziehen. Auch war in Aussicht gestellt, die Befragungsbefunde „mit erfahrenen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zu erörtern, die wir zu verschiedenen Gesprächsrunden einladen werden“ (S. 21). Beides taucht im dritten Bericht nicht auf; beides wird auch nicht erwähnt. Und da laut KFN-Homepage das Projekt abgeschlossen ist, wird es zu diesen winzigen qualitativen Zugängen wohl nicht mehr kommen.[3]
Die Güte des Projektes ist aber mit der Ansammlung von Banalitäten und kontextlosen Daten nicht erschöpft. Denn die AutorInnen versuchen, aus ihren dürren Daten Schlussfolgerungen zu ziehen. So hat die Befragung ergeben, dass das Risiko angegriffen zu werden sinkt, wenn eine Polizistin mit im Einsatzteam ist (von 4,5 bei rein männlichen Teams auf 3,6 Prozent). Um die magere Differenz von 0,9 Prozent ein wenig eindrucksvoller aussehen zu lassen, wird die Abnahme von 4,5 Prozent berechnet, so dass „das Verletzungsrisiko … um mehr als ein Fünftel geringer (-21,7 Prozent)“ ist (S. 49). Zum Schluss wird mit dieser Zahl die Behauptung gestützt, „dass weibliche Beamte eine Bereicherung und keine Belastung für die Polizei darstellen“ (S. 136).
Oder: Die Befragung hat ergeben, dass zwischen dem Gebrauch von Schlagstock und Reizstoffen und der Schwere der Verletzung kein Zusammenhang besteht. Statt zuzugeben, dass die Untersuchung erneut keinerlei Hinweise liefert, warum das so ist, wird haltlos dahingehend spekuliert, dass die PolizistInnen Stock und Spray erst einsetzen, nachdem sie angegriffen wurden (S. 33). Dass durch beide Mittel die Gewaltspirale befördert werden könnte oder dass die genutzten Einsatzmittel irrelevant für die Gewaltanwendung sind – statt diese Alternativen fairerweise zu erwähnen, wird den PolizistInnen attestiert, „nicht im Sinne eines proaktiven Gewalteinsatzes“ tätig geworden zu sein (S. 33).
Die Liste der mit den Daten nicht zu begründenden Schlussfolgerungen lässt sich leicht verlängern, etwa das Plädoyer für den früheren Einsatz von Reizstoffsprühgeräten (S. 137), die Aufforderung an angegriffene PolizistInnen, sich selbst um Hilfe zu bemühen (statt auf den Dienstherren zu hoffen) (S. 138), die Anregung, ein polizeiliches Gremium zu bilden, das Vorschläge zur Vorbeugung entwickelt (S. 134), oder „ein den Dienststellen übergeordnetes Beschwerdemanagement einzurichten“ (S. 141) oder das Plädoyer, Angriffe auf Polizisten härter zu bestrafen als die auf andere Menschen (S. 143). Eine der wenigen interessanten Zahlen der Studie hätte Anlass für eine andere Schlussfolgerung geben können. Denn der Tabelle 20 auf S. 92 ist zu entnehmen, dass gegen 12 Prozent der angegriffenen PolizistInnen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, aber nur bei 1,3 Prozent Anklage erhoben wurde. Nach den KFN-Rechenkünsten entspricht das einer Einstellungsquote von fast 90 Prozent. Aber wer im Auftrag der Innenminister forscht, muss das nicht erwähnen.
Ein neues Lagebild
Zeitgleich zur KFN-Untersuchung richtete der „Unterausschuss Führung, Einsatz und Kriminalitätsbekämpfung“ (UA FEK) des Arbeitskreises II der IMK Anfang 2010 eine „Projektgruppe Gewalt gegen Polizeibeamte – Lagebilderstellung“ ein. Deren Schlussbericht[4] wurde von der IMK nun zustimmend zur Kenntnis genommen.[5] Damit sind die Grundlagen für ein bundesweit nach einheitlichen Regeln zu erstellendes Lagebild zur „Gewalt gegen Polizeibeamte“ geschaffen.
Die Arbeit der Projektgruppe war von vier Grundsätzen bestimmt. Erstens sollten zukünftig auch Informationen über die Gewalt gegen Feuerwehrleute, Rettungskräfte und Zollbedienstete erhoben werden. Zweitens sollte die Möglichkeit geschaffen werden, das Lagebild mit den Angaben der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) vergleichen zu können. Drittens sollten bundesweit einheitliche Zähl- und Erfassungsregeln geschaffen bzw. übernommen werden. Und viertens sollte durch die Verknüpfung mit den EDV-Systemen der Polizeien Mehrfacharbeit vermieden werden. Im Ergebnis hat man sich darauf verständigt, die für die PKS geltenden Übereinkünfte auch für die Meldungen zum Lagebild anzuwenden; zugleich wird die PKS um einige Tabellen erweitert. Die PKS-Regeln bedeuten z.B., dass bei in Tateinheit begangenen Delikten nur das mit der schwersten Strafe bedrohte erfasst wird: eine versuchte Körperverletzung wird nicht gemeldet, wenn sie im Rahmen eines Landfriedensbruchs geschah. Dem PKS-Standard entspricht es auch, dass die kriminologisch wertlose Kategorie „Staatsangehörigkeit“ weiter erfasst wird. Abweichend von der PKS ist man allerdings für das Lagebild von der „echten Tatverdächtigenzählung“ abgewichen, d.h. wer innerhalb eines Jahres mehrfach ein Delikt begeht, wird im Lagebild auch mehrfach gemeldet. Zwar hat die Projektgruppe die damit einhergehenden Verzerrungen zur Kenntnis genommen, aber sich aus pragmatischen Gründen einstweilen für die Registrierung der absoluten Tatverdächtigenzahl ausgesprochen. Geeinigt hat man sich auch darauf, dass im Lagebild die folgenden (versuchten oder vollendeten) Delikte erfasst werden, durch die mindestens einE PolizeivollzugsbeamtIn (oder Angehöriger der o.g. Gruppen) geschädigt wurde: Mord, Totschlag, die vier Varianten der Körperverletzung, Widerstand, Nötigung, Bedrohung, Freiheitsberaubung und Raubdelikte. Auf Bitten des Bundeskriminalamts hat man als so genannte „Indikatorendelikte“, weil sie die Gewaltbereitschaft gegenüber PolizistInnen anzeigten, Landfriedensbruch, schwerer Landfriedensbruch sowie Gefangenenbefreiung und -meuterei aufgenommen.[6]
Für das 2. Halbjahr 2010 konnte das Lagebild[7] nach den vereinbarten Kriterien bundesweit (ohne Hamburg) 12.124 Fälle mit 19.492 Geschädigten erfassen. Allein 7.339 Fällen waren Widerstand; weitere 3.015 leichte Körperverletzungen. Die Tatverdächtigen waren zu 87 Prozent männlich, zu 76 Prozent über 21 Jahre alt, zu 80 Prozent deutscher Nationalität; 75 Prozent standen unter Alkohol- und/oder Drogeneinfluss. Wegen des kurzen Berichtszeitraums und der Schwierigkeiten einheitlicher Meldekriterien plädieren sowohl die Projektgruppe wie die Innenministerkonferenz für eine „vorerst noch zurückhaltende und vorsichtige Bewertung des Lagebildes“.[8]
Abzusehen ist, dass die zukünftige Diskussion von den vermeintlich handfesten – aber durch die Erfassungsregeln systematisch verzerrenden und vernebelnden – Fakten aus Lagebildern und PKS auf der einen und wenig erhellenden wissenschaftlichen Untersuchungen in KFN-Manier auf der anderen Seite bestimmt werden wird.
Strafrecht als Antwort
Der Gesetzgeber zeigte sich aber wenig geneigt, auch nur die Befunde des Lagebildes oder der KFN-Studie abzuwarten. Am 7. Juli beschloss der Bundestag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Verschärfungen des Strafgesetzbuches.[9] Im Widerstandsparagrafen 113 wurde das Strafmaß von zwei auf drei Jahre erhöht, für die Definition des besonders schweren Falles wurde das Merkmal „ein anderes gefährliches Werkzeug“ mit sich zu führen eingefügt. In § 114 wurde die Strafbarkeit auf Widerstand gegen Feuerwehrleute und MitarbeiterInnen von Rettungsdiensten ausgedehnt. Analog wird in § 305a die Strafbarkeit der (versuchten) Zerstörung von Arbeitsmitteln auf diese Dienste ausgeweitet.
Der symbolpolitische Gehalt dieser Novelle ist offenkundig. In einer Situation, in der selbst die Innenminister zur Zurückhaltung aufrufen und in der unbrauchbare wissenschaftliche Befunde präsentiert werden, gab es keinen Anlass zur schnellen Gesetzgebung: Am 22. Juni tagte die IMK, am 6. Juli beriet der Rechtsausschuss die Vorlage, am 7. Juli stimmte der Bundestag zu. Zum anderen bleibt ein Rätsel, was die verschärften Strafandrohungen und erweiterten Deliktsdefinitionen bewirken sollen, wenn die Adressaten (Täter) nach übereinstimmenden Erkenntnissen zu zwei Dritteln und mehr erkennbar unter Alkohol und/oder anderen Drogen stehen?