Auf dem Weg zur Europol-Verordnung – Das EU-Polizeiamt weiterhin auf Wachstumskurs

von Eric Töpfer

13 Jahre nachdem das europäische Polizeiamt seine Arbeit aufgenommen hat, wird wieder einmal über seine Zukunft diskutiert. Auch wenn eine Ausweitung des Mandats unwahrscheinlich ist, hat das Amt inzwischen deutlich an Macht gewonnen. Ob seine Kontrolle gestärkt wird, bleibt abzuwarten.

„Im Herzen der europäischen Sicherheit“ verortet sich Europol laut einer bunten, aber nichts sagenden Imagebroschüre.[1] Öffentlichkeitsarbeit schreibt das Amt inzwischen groß. Nachdem es durch den Europol-Beschluss des Rates von 2009 auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt wurde, gab es auch ein neues Logo: den stilisierten Ausschnitt eines Spinnennetzes, dessen Fäden bei Europol zusammenlaufen.[2] Doch nicht nur symbolisch wurde aufgerüstet. Die Ziele der Mehrjahresstrategie für 2010-2014 sind ambitioniert: Der Europol-Beschluss wird als „einmalige Möglichkeit“ für weiteres Wachstum gesehen. Die Agentur will „zentrale Stelle für die Unterstützung von Strafverfolgungsoperationen, Drehschreibe für kriminalitätsbezogene Informationen und Fachkompetenzzentrum im Bereich der Strafverfolgung“ sein. Hierfür sollen die Analysekapazitäten verbessert werden, um mehr grenzüberschreitende Einsätze zu ermöglichen und die Einrichtung gemeinsamer Ermittlungsgruppen zu stimulieren; „phänomenübergreifend“ will man die Überwachung von Finanzströmen und Internetaktivitäten integrieren und vereinheitlichen; die Kooperation mit Drittstaaten, internationalen Organisationen und Privatwirtschaft soll ausgebaut, die Interoperabilität der Informationssysteme nach innen und außen verbessert sowie Datenübermittlung und ‑abgleich weiter automatisiert werden; Forschung und Entwicklung möchte man stärken, die Politikberatung zur rechtlichen und administrativen Entwicklung der Kriminalitätsbekämpfung entwickeln, und nicht zuletzt sollen im Sinne der Organisationsentwicklung eine „Europol-Kultur“ und ein positives Image nach außen etabliert werden. [3]

Tatsächlich hat die Ablösung des 1998 in Kraft getretenen Europol-Übereinkommens und seiner ergänzenden Protokolle durch den Beschluss des Rates dem Polizeiamt neue Möglichkeiten eröffnet: Nicht länger beschränkt sich sein Mandat auf die „organisierte Kriminalität“. Zuständig ist es nunmehr grundsätzlich für alle im Anhang zum Beschluss aufgelisteten Formen grenzüberschreitender „schwerer Kriminalität“ und – im Fall internationaler Großveranstaltungen – auch für die Unterstützung der Mitgliedstaaten in Fragen der öffentlichen Ordnung. Zur Erfüllung seiner Aufgaben darf es jenseits der existierenden Datenbanken neue Informationssysteme entwickeln, ausdrücklich Informationen Privater verarbeiten, die über die nationalen Stellen (Europol National Units – ENUs) angeliefert werden, „Open Source Intelligence“ auch kommerzieller Anbieter nutzen und bei der Überwachung des Internets helfen. Nicht zuletzt wurde mit dem Beschluss sein Anspruch gestärkt, durch strategische Lagebilder Politikberatung zu betreiben.[4]

Expansion bei Ressourcen und Datenverarbeitung

Seit 2009 hat Europol deutlich zugelegt: Der Haushalt, damals noch von den Zeichnerstaaten des Europol-Übereinkommens getragen, stieg von 68,5 Mio. bis 2011 auf 84,8 Mio. Euro, die nun aus dem EU-Budget finanziert werden. Das Personal wuchs von 662 auf 777, darunter 99 AnalystInnen und 145 VerbindungsbeamtInnen.[5] Im Sommer 2011 bezog das Amt ein neues Hauptquartier und residiert nun in einem imposanten Gebäudekomplex im internationalen Viertel von Den Haag.

Entsprechend seiner zentralen Aufgabe, Informationen zu sammeln, aufzubereiten und den Mitgliedstaaten zur Verfügung zu stellen, hat sich die EDV des Amtes dynamisch entwickelt. 2011 ging eine neue Version des Europol-Informationssystems (EIS), lange Zeit das technische Sorgenkind des Amtes, in Betrieb. Mit ihr wurde das Versprechen aus Art. 13 Abs. 6 Europol-Beschluss eingelöst, dass auch „zuständige Behörden“, wie z.B. deutsche Landeskriminalämter, das EIS im „hit/no-hit“-Verfahren abfragen können sollen, um im Trefferfall weitere Informationen über die zum Direktzugriff autorisierten ENUs – in Deutschland das Bundeskriminalamt – einzuholen.[6] Der Datenbestand ist seit 2009 um 60.000 auf mehr als 225.000 Einträge angewachsen, darunter knapp 42.000 Einträge zu Personen. Mindestens 13 Mitgliedstaaten nutzen inzwischen „data loader“, um das EIS weitgehend automatisiert mit Daten zu füttern. Allerdings bleiben die Hauptlieferanten der Informationen weiterhin wenige Staaten wie Deutschland, Belgien, Frankreich, Spanien, Großbritannien und Europol selbst, das in erheblichem Umfang Informationen von Dritten einspeist. Von ihnen stammen zwei Drittel des gesamten Datenbestandes im EIS, und zugleich sind sie seine Hauptnutzer. Allein ein Drittel der mehr als 100.000 Suchabfragen, die 2011 gestellt wurden, kam aus Deutschland. Wie sich die Abfragen im Vergleich zu den Vorjahren entwickelt haben, lässt sich nicht ermitteln, u.a. da mittlerweile – als ein Vorgang gezählte – „batch searches“ möglich sind, bei denen z.B. eine Liste mit 400 Verdächtigen in einem Schwung für den automatisierten Abgleich hochgeladen werden kann.[7]

Bemerkenswerte Fortschritte haben auch die Arbeitsdateien (Analysis Working Files – AWFs) gemacht. Anfang 2012 wurden die Informationen, die zuvor auf 23 projektbezogene Datenbanken verteilt waren, in zwei großen Arbeitsdateien fusioniert: eine für den Bereich „schwere und organisierte Kriminalität“ (SOC) und eine für „Terrorismusbekämpfung“ (CT). Die „Speicherung und Verarbeitung des gesamten Reichtums kriminalistischer Informationen in einem einheitlichen Archiv“ bedeute, so liest man im aktuellen Arbeitsprogramm, einen „greifbaren operativen Nutzen“.[8] Obsolet dürfte damit die Idee sein, dass es sich bei den Arbeitsdateien um Informationssammlungen auf Zeit handelt, da bei ihrem neuen Zuschnitt kaum zu erwarten ist, dass der Direktor nach Ablauf der in Art. 16 Abs. 3 Europol-Beschluss vorgeschriebenen dreijährigen Prüffrist ihre Löschung beschließt. Begründet wurde die Fusion damit, dass sich die von den einzelnen Analyseprojekten beobachteten „Phänomenbereiche“ immer weniger voneinander trennen ließen und irgendwie alles mit allem zusammenhänge. Angesichts der lauter werdenden Stimmen, die auf Querverbindungen zwischen „Terrorismus“ und „organisierter Kriminalität“ hinweisen, dürfte es daher wohl nur eine Frage der Zeit sein, bis auch die neuen Dateien zu einem einzigen großen „Data Warehouse“ verschmelzen. Bei Europol stehen die Zeichen der Zeit auf „Big Data“. Mehr als 550.000 Personen waren im Herbst 2012 in den beiden Arbeitsdateien erfasst[9] – gegenüber 2003, als das letzte Mal Zahlen öffentlich wurden, eine Steigerung von etwa 400.000 Personendatensätzen.[10] Obwohl die Europol-Analysten weiterhin projektbezogen in 23 „focal points“ arbeiten, haben sie nun Zugriff auf den gesamten Datenpool der für sie relevanten Arbeitsdatei – einzig die Weiterverarbeitung von Daten in Kategorien außerhalb der Errichtungsanordnung für ihren „focal point“ bleibt ihnen untersagt. Der Gemeinsamen Kontrollinstanz für den Datenschutz bei Europol hat diese Einschränkung offensichtlich gereicht, als sie im November 2011 grünes Licht für die neue Informationsarchitektur gab.[11]

Fleißig gearbeitet wird auch an der Weiterentwicklung der Index-Funktion. Nachdem bereits 2011 der Europol Links Manager in Betrieb ging, der eine systemübergreifende Suche in den Arbeitsdateien, dem EIS und den elektronischen Archiven für „Open Source Intelligence“ ermöglicht, sollen 2013 weitere 500.000 Euro in das „cross matching“ investiert werden.[12] Mit dem Europol-Beschluss erhielten auch die nationalen Stellen Zugriff auf die Index-Funktion und die Verbindungsbeamten lesenden Zugriff auf die Arbeitsdateien, so dass nunmehr – unabhängig von Europols Analysten – auch rein national motivierte Recherchen in den Datenbeständen des Amtes möglich sind.

Globales Netzwerk

Gleichzeitig wird die Reichweite des Kommunikationsnetzwerkes SIENA weiter ausgebaut. Nicht nur wurden in den EU-Mitgliedstaaten auch Polizeibehörden jenseits der ENUs angeschlossen. In wachsendem Maße werden auch Partner in Drittstaaten wie Kroatien, Albanien, der Türkei oder Island mit SIENA vernetzt und europäische Verbindungsbeamte in Westafrika, die EULEX-Mission im Kosovo, das Südosteuropäische Strafverfolgungszentrum SELEC sowie Interpol angebunden, um den Austausch von Nachrichten und das Anliefern von Informationen zu erleichtern. Ende 2011 waren 287 Behörden an SIENA angeschlossen.[13]

Grundlage für die Anbindung von Drittstaaten und -organisationen an SIENA sind Kooperationsabkommen mit Europol. Bislang wurden mit der staatsanwaltschaftlichen Koordinierungsstelle Eurojust, neun Drittstaaten und Interpol sogenannte operative Abkommen abgeschlossen, die auch den Austausch personenbezogener Daten zulassen. Daneben existieren mit der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank, dem Intelligence Analysis Center[14] des Auswärtigen Dienstes, fünf EU-Agenturen (unter ihnen die Grenzschutzagentur Frontex), weiteren neun Drittstaaten sowie dem UN-Büro für die Drogen- und Verbrechensbekämpfung und der Weltzollorganisation strategische Abkommen zum Austausch nicht-personenbezogener Informationen.[15] Noch längst nicht hat das Amt also den Kreis der 25 Länder ausgeschöpft, mit denen es laut Ratsbeschluss 2009/935/JI Abkommen schließen darf: u.a. China, Indien, Israel, Marokko und Peru stehen noch auf der Warteliste potenzieller Partnerländer.[16] Doch schon betreibt Europol die Erweiterung der Liste und will diese nun um Brasilien, Mexiko, Georgien und die Vereinigten Arabischen Emirate ergänzt sehen.[17] Hieß es in der „Strategie für Europols zukünftige Außenbeziehungen“ von 2004 noch, dass kein weltweites Netzwerk angestrebt werde, sondern Europols Kontakte außerhalb der EU im Verhältnis zu seiner regionalen Funktion stehen sollten,[18] scheinen nunmehr nur noch wenige Weltregionen außerhalb seiner direkten Reichweite zu liegen. Vermutlich reichen dort die guten Kontakte zu Interpol, Partnern in der Region oder eben zu Beamten aus Mitgliedstaaten vor Ort, wie z.B. jenen, die in den Plattformen für Drogenverbindungsbeamte in Westafrika organisiert sind.

Schließlich ist die Aushandlung der Abkommen mitunter langwierig und zäh: Seit mehr als vier Jahren laufen die Verhandlungen des strategischen Abkommens mit Marokko; seit fünf Jahren wird mit Albanien ein operatives Abkommen verhandelt, und auch mit Russland ging es in gleicher Sache aufgrund von datenschutzrechtlichen Bedenken lange nicht voran.[19] Nachdem die Duma nun aber im Juli 2011 ein Datenschutzgesetz verabschiedet hat, meint man in Den Haag offensichtlich, dass Moskau auf der Zielgerade zur Rechtsstaatlichkeit sei und erwartet für 2013 die Unterzeichnung des operativen Abkommens.[20]

Für den direkten Draht zu Europol sorgen in Den Haag mehr als ein Dutzend Verbindungsbeamte aus mittlerweile neun Nicht-EU-Staaten sowie von Interpol. Dass die USA dabei zu den besonders engen Partnern gehören, zeigt sich nicht nur an der Existenz eines eigenen Referats für den transatlantischen Transfer von europäischen Finanzdaten im Rahmen des SWIFT-Abkommens, sondern auch an der Präsenz von Verbindungsbeamten aus sechs US-Behörden. Zusätzlich hat das Amt eigene Leute in Washington, D.C. stationiert sowie einen weiteren bei Interpol in Lyon.[21] Sie alle schätzen das SIENA-Netzwerk nicht nur wegen der direkten Kommunikation mit Europol, sondern insbesondere wegen der Möglichkeiten, hierüber auch bilateral mit anderen Verbindungsbeamten bei Europol Informationen auszutauschen. Mehr als 330.000 Nachrichten sollen 2011 über SIENA verschickt worden sein.[22]

Ermittlungshilfen und strategische Lagebilder

Entsprechend vernetzt wirkt das Polizeiamt gut gerüstet für die Unterstützung von Ermittlungen in den Mitgliedstaaten. In rund 13.700 Ermittlungsverfahren mit mutmaßlich grenzüberschreitendem Bezug wurde Europol im Jahr 2011 um Hilfe ersucht – etwa 3.000 Fälle mehr als 2009.[23] Drogenkriminalität bleibt mit einem knappen Drittel der Anfragen nach wie vor das Hauptgeschäft. Analog zur ungleichgewichtigen Nutzung des EIS nehmen allerdings nur relativ wenige Staaten die Dienste des Amtes in Anspruch; etwa die Hälfte der unterstützten Ermittlungen werden von Polizeien in den Niederlanden, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Spanien durchgeführt. Außerdem war Europol an 17 gemeinsamen Ermittlungsgruppen (Joint Investigation Teams – JITs) direkt beteiligt, setzte sein „mobiles Büro“ – sprich: Beamte mit Laptops und Direktzugriff auf Europols Datenbanken – mehr als 80-mal in Bewegung und unterstützte Mitgliedstaaten mit Informationen anlässlich diverser sportlicher und politischer Großereignisse.

Auch wenn euphorische Stimmen in Europols Jahresberichten gerne zitiert werden, ist unklar, ob das Amt den eigenen Ansprüchen wirklich gerecht wird. Zur Unterstützung der 13.700 Anfragen nach Ermittlungshilfe wurden ca. 2.400 Trefferbenachrichtigungen, Analysen etc. produziert, d.h. bei mindestens vier von fünf Anfragen blieb man rat- und sprachlos.[24] Und auch wenn sich die Teilnahme Europols an JITs kontinuierlich steigert, liegt seine Beteiligung immer noch deutlich unter der seiner kleineren staatsanwaltschaftlichen Schwester Eurojust, die 2011 in 29 JITs direkt eingebunden war.[25] Unklar ist auch, wie empfänglich sich nationale Polizeien zeigen, wenn Europol versucht, aufgrund seiner Erkenntnisse Ermittlungen in den EU-Mitgliedstaaten anzuregen.

Gewichtiger scheint dagegen die Bedeutung der strategischen Lagebilder, allen voran des „Organised Crime Threat Assessment“ (OCTA), das seit 2006 jährlich vorgelegt wird. Ganz im Sinne der Ideologie des „intelligence-led policing“ verspricht sich Europol, mit Hilfe der OCTA-Analysen proaktiv „vor die Lage“ zu kommen und „komplementäre Maßnahmen gegen die Organisierte Kriminalität zu entwickeln, die die ministerialbürokratische und politische Ebene mit jener der Polizeipraktiker vor Ort verbinden“.[26] Im Kern geht es darum, strategische Prioritäten zu setzen und auf dieser Grundlage die europaweite Polizeiarbeit stärker zu synchronisieren. Hatten die ersten OCTAs bereits den Projekten des „Comprehensive Operational Strategic Planning for the Police“ (COSPOL) unter Leitung der mittlerweile aufgelösten European Police Chiefs Task Force als Richtschnur gedient, wurde ihnen 2010 im Rahmen des „Harmony“-Prozesses zur Entwicklung eines „EU Crime Intelligence Models“ die entscheidende Rolle zugedacht: OCTA, das ab 2013 „Serious and Organised Crime Threat Assessment“ (SOCTA) heißen soll, liefert seit 2011 im Rahmen eines vierstufigen „Policy Cycle“ das Lagebild, auf dessen Grundlage Risiken priorisiert und entsprechend Mehrjahrespläne zu ihrer Bekämpfung entwickelt werden, die wiederum in jährliche Aktionspläne heruntergebrochen und regelmäßig evaluiert werden.

Zwar ist der neue Ständige Ausschuss für die operative Zusammenarbeit im Bereich der Inneren Sicherheit (COSI) auf Ebene des EU-Ministerrates das entscheidende Gremium und das Scharnier zu den nationalen Innenministerien in diesem Prozess, aber Europol gibt mit den (S)OCTAs nicht nur die Richtung vor, sondern spielt auch bei der Umsetzung der Maßnahmen eine wichtige Rolle. Anknüpfend an die COSPOL-Projekte ist die Umsetzung der jährlichen Aktionspläne nun Sache der European Multidisciplinary Platforms Against Criminal Threats, kurz EMPACT. Hauptverantwortlich für die Koordination der einzelnen EMPACT-Plattformen sind leitende Polizeibeamte aus den Mitgliedstaaten, aber ihr ständiges Sekretariat und die Überwachung der Aktivitäten übernimmt Europol. Idealerweise sollen die verantwortlichen Europol-Beamte auch die Manager entsprechender Analyseprojekte sowie das „intellektuelle Herz“ der jeweiligen EMPACT-Plattform sein und sich nicht scheuen, Informationen einzufordern, um den Datenhunger ihrer Arbeitsdateien zu stillen.[27]

Ins Zentrum der Macht

Dass einzelstaatliche Interessen sich in Europols Risikoanalysen widerspiegeln und im Rahmen der Prioritätensetzung des gegenwärtigen „Policy Cycle“ 2011-2013 reproduziert werden, ist angesichts politischer Opportunitäten und der Abhängigkeit von den ungleichen Informationsflüssen kein Wunder. Gleichwohl hat sich Europol als entscheidender Filter zwischen den Polizeien der Mitgliedstaaten und der europäischen Entscheidungsebene etabliert, wenn es um die Deutungshoheit in Sachen Kriminalpolitik geht. So ist es in einer komfortablen Position, eigene Interessen zu verfolgen, wie sich an den Diskussionen um die Bekämpfung der „Wanderkriminalität“ illustrieren lässt.

Das Thema wurde 2010 auf die Agenda der EU-Sicherheitspolitik gesetzt, als die belgische Polizei die anstehende Ratspräsidentschaft des Königreiches als willkommene Chance begriff, ihren Kampf gegen die Eigentumskriminalität „nomadischer“ Täter zu europäisieren. Unterstützt von der französischen Gendarmerie wurde im Rat eine Schlussfolgerung zum Kampf gegen „mobile kriminelle Gruppen“ auf den Weg gebracht, die Ende 2010 verabschiedet wurden. Neben der impliziten Rechtfertigung der Räumung von Roma-Lagern und anderer „administrativer“ Maßnahmen wurden alle Mitgliedstaaten zur Kooperation eingeladen und Europol und Eurojust aufgefordert, ein entsprechendes Lagebild zu erstellen. Als im April 2011 das jährliche OCTA veröffentlicht wurde, konnte man dort Sätze wie diesen lesen: „Bulgarische und rumänische (zumeist ethnische Roma), nigerianische und chinesische Gruppen stellen vermutlich die schlimmste Gefahr für die Gesellschaft als Ganzes dar. Organisierte krimi­nelle Roma-Gruppen sind extrem mobil und nutzen ihre traditionell nomadische Natur bestens.“ Als die Innen- und Justizminister im Sommer des Jahres den „Policy Cycle“ 2011-2013 abgesegneten, fand sich unter den acht Prioritäten auch der Kampf gegen „mobile organisiert-kriminelle Gruppen“. Belgien und Frankreich übernahmen die Koordination des entsprechenden EMPACT-Projektes. Anfang 2012 lancierte die dänische Ratspräsidentschaft mit Unterstützung Europols im Rat ein Papier zur intensiveren Nutzung des EIS für den Kampf gegen die „Wanderkriminalität“. Zentrales Argument: Die Delikte „nomadischer“ Gruppen, eigentlich Bagatellkriminalität, stellten in ihrer Summe ein schwerwiegendes Problem dar, das zudem häufig organisiert zu sein scheine, so dass die Anlieferung entsprechender Informationen an Europol durchaus gerechtfertigt sei. Entsprechend ermuntert eine im Sommer vom Rat verabschiedete Schlussfolgerung die Mitgliedstaaten, das EIS zur besseren Bekämpfung „grenz­überschreitender Kriminalität“ insbesondere „mobiler krimineller Gruppen“ vermehrt mit Daten zu füttern.[28] Dass Europols Zuständigkeit sich auf die Bekämpfung schwerer Kriminalität beschränkt, wird mit keiner Silbe erwähnt.[29] Somit konnte das Amt die gegen Roma gerichtete Moralpanik erfolgreich nutzen, um laut und deutlich seinen Informationsbedarf anzumelden und schleichend die Grenzen seines Mandats zu erweitern.

Doch auch andernorts wird ehrgeizig daran gearbeitet, Angelpunkt des Informationsaustausches zu werden. Bei der Umsetzung der „Informationsmanagement-Strategie für die Innere Sicherheit der EU“ hat Europol die Führung zentraler Projekte übernommen. U.a. ist es federführend in der Gruppe, die erarbeitet, wer 2015 wie in die Informationsflüsse eingebunden sein soll.[30] Wenig überraschend war es daher, als die EU-Kommission im Dezember 2012 die Ideen für das „Europäische Modell für den Informationsaustausch“ präsentierte und einerseits neue Datenbanken wie einen EU-Kriminalaktennachweis für unnötig erklärte, anderseits aber empfahl, den „Europol-Kanal“, sprich SIENA, zum Standardkanal für Informationsübermittlungen zu machen – in der Erwartung, dass zukünftig mehr Daten in Den Haag hängen bleiben.[31]

Auch für andere Bereiche lässt sich beobachten, wie Europol seine Stellung ausbaut: So hat sich aus dem 2002 ins Leben gerufenen High Tech Crime Centre und der „Check the Web“-Initiative zur Beobachtung dschihadistischer Internetinhalte der Plan entwickelt, ein Europäisches Cybercrime-Zentrum (EC3) bei Europol anzusiedeln, das im Januar 2013 seine Arbeit aufnehmen soll.[32] Im Bereich Sicherheitsforschung will das Amt seine Rolle konsolidieren und die Stimme der Polizei beim Agenda-Setting für künftige Forschungspolitik sein. Ausbauen will es seine Position beim Kampf gegen gewaltsamen Extremismus. Dabei wird es nicht nur auf die Mitarbeit im 2011 ins Leben gerufenen „Radicalisation Awareness“-Expertennetzwerk setzen, sondern auch auf die in seiner Arbeitsdatei CT akkumulierten Informationen und den jährlichen „Terrorism Situation and Trend Report“.[33] Flankiert wird die Wachstumsstrategie durch „Roadshows“, Schulungen und andere Werbeveranstaltungen, die skeptische Polizeipraktiker an der Basis vom Mehrwert der fernen EU-Agentur überzeugen sollen. Dass die Expansion der EU-Polizeiakademie CEPOL und der Netzsicherheitsagentur ENISA Konkurrenz macht, scheint bislang niemanden zu stören.

Neue Vollmachten unter besserer Kontrolle?

Während Europol also munter wächst, wird die erneute Novelle seiner Rechtsgrundlage diskutiert. „Das Europäische Parlament und der Rat legen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen den Aufbau, die Arbeitsweise, den Tätigkeitsbereich und die Aufgaben von Europol fest“, heißt es im Art. 88 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU. Bereits im Vorfeld des Inkrafttretens des Lissabon-Vertrages drängte das Europaparlament, das seit jeher die mangelnde demokratische Kontrolle Europols beklagt, daher auf eine rasche Ablösung des Europol-Beschlusses durch eine neue Verordnung.

Im April 2010 begann die EU-Kommission mit der Arbeit an einem solchen Gesetz und startete mit der Nominierung einer Kontaktgruppe ihren „Reflexionsprozess“. Im Dezember folgte eine Mitteilung mit Empfehlungen zu „Verfahren für die Kontrolle der Tätigkeiten von Europol durch das Europäische Parlament unter Beteiligung nationaler Parlamente“.[34] Ende 2011 vergab der Verwaltungsrat des Polizeiamtes den Auftrag für eine externe Evaluierung zur Durchführung des Europol-Beschlusses an RAND Europe. Parallel zur Evaluierung zettelte die dänische Ratspräsidentschaft im Frühjahr 2012 bei COSI eine Diskussion über einen „visionären Ansatz“ für Europols Zukunft an.[35] Im April 2012 diskutierten Kommissionsvertreter erste Ideen für die Novelle mit COSI;[36] im Mai folgte eine Präsentation vor Abgeordneten aus Europa- und nationalen Parlamenten.[37] Im Juni legte RAND die Ergebnisse seiner Evaluation vor.[38] Ihren Vorschlag für die neue Verordnung wollte die Kommission ursprünglich noch vor Ende 2012 vorlegen, aber offensichtlich gestaltet sich der Prozess schwieriger als erwartet.

Leitmotiv der Kommission in den bisherigen Diskussionen war die Stärkung der operativen Effizienz Europols bei gleichzeitiger Verbesserung seiner Kontrolle. Überlegungen zu einer Erweiterung des Mandates, z.B. durch eigene Ermittlungskompetenzen oder die Ausweitung der Unterstützung im Bereich öffentliche Sicherheit und Ordnung, waren in den Mitgliedstaaten auf taube Ohren gestoßen. Eine Ausnahme könnten allerdings Internetermittlungen im Rahmen des kommenden EC3 werden. „Vertiefung der bestehenden Kompetenzen“ war stattdessen das Stichwort. Erinnert wird an die bestehende Möglichkeit, mandatsfremde Informationen für sechs Monate auf eine eventuelle Relevanz zu prüfen. Einig ist man sich, dass die ENUs durch Anreize zu besseren Datenübermittlungen bewegt werden sollen. Die Datenverarbeitung soll flexibler werden und nicht länger auf definierte Systeme beschränkt sein. Geplant ist offensichtlich ein gigantisches Datenarchiv, das beliebig analysiert werden kann – selbstverständlich projektbezogen und mit dem Segen des Datenschutzes. Offen blieb, wie die praktische Umsetzung der Analysen zu erreichen sei. Ungern möchten die Mitgliedstaaten Weisungen aus Den Haag entgegennehmen. Ein europäisches FBI droht mit der kommenden Verordnung wohl nicht. Hoheitliche Maßnahmen werden auch weiterhin einzelstaatlichen Behörden vorbehalten bleiben. Zu erwarten ist aber eine deutliche Stärkung Europols als Informations- und Analysezentrum, das mit seinem „Wissen“ Polizeiarbeit in Europa steuern möchte. Selbstverständlich wachsen damit auch Gefahren der Befugnisleihe, bei der das Polizeiamt Maßnahmen in seinem Sinne veranlasst.

Umso drängender stellt sich die Frage, ob und wie diese Wissensmacht kontrolliert werden kann. Aktuell bleibt der Schutz Einzelner vor kafkaesken EDV-Prozessen, wichtiger wird aber die politische Kritikfähigkeit gegenüber den zentralpolizeilichen Analysen. Was die Kommission zu diesem Thema bislang vorgeschlagen hat, ist dürftig. Sie weist darauf hin, dass dem Europaparlament per Europol-Beschluss bereits neue Befugnisse übertragen wurden, z.B. die Beteiligung an Bewilligung und Kontrolle des Budgets. Allerdings räumt sie angesichts der fragmentierten Rechenschaftspflichten Europols und schwacher Auskunftsrechte der Abgeordneten „eine Reihe ungelöster Fragen“ ein. Doch fiel ihr kaum mehr ein, als die Schaffung eines gemeinsamen Forums der parlamentarischen Innenausschüsse. Ein solches könnte zur Mehrjahresstrategie konsultiert werden, soll aber in den Jahren dazwischen auf keinen Fall ins operative Geschäft reinreden. Für eine Änderung der bisherigen Mechanismen zur „Ex-Post-Kontrolle“ fehlten der Kommission Ideen. An den dünnen Berichten Europols, auf die Fragen und Anhörungen durch Abgeordnete Bezug nehmen könnten, wird der Vorschlag für die Europol-Verordnung trotz aller sonstigen Ambitionen wohl leider nichts ändern. Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Parlamente hierzu verhalten.

[1] Europol: Making Europe safer, The Hague 2011, p. 7
[2] so die Deutungshilfe in Europol: Data protection at Europol, The Hague 2011, p. 7
[3] Europol Strategy 2010-2014, EU-Ratsdok. 6517/10 v. 22.2.2010
[4] Busch, H.: Die Rolle Europols. Von den Schwierigkeiten des polizeilichen Zentralismus, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 91 (3/2008), S. 33-41; De Moor, A.; Vermeulen, G.: The Europol Council Decision. Transforming Europol into an Agency of the European Union, in: Common Market Law Review, vol. 47, pp. 1089-1121
[5] Europol General Report 2009, Ratsdok. 10099/10 v. 31.5.2010, p. 9; General Report on Europol Activities in 2011, Ratsdok. 10036/12 v. 24.5.2012, p. 14
[6] General Report on Europol Activities in 2011 a.a.O. (Fn. 5), p. 21
[7] Discussion paper on intelligence-led policing through closer cooperation with Europol in the fight against itinerant criminal groups, Ratsdok. 6038/12 v. 8.2.2012
[8] Europol Work Programme 2013, Ratsdok. 12667/12 v. 17.7.2012, p. 22
[9] davon 478.000 in der AWF SOC und 75.000 in der AWF CT, so ein Mitarbeiter des Europol-Datenschutzbüros auf dem „Grünen Polizeikongress 2012“ am 5.10.2012 in Hamburg
[10] Busch a.a.O. (Fn. 4), S. 37
[11] Protokoll der 61. Sitzung der Gemeinsamen Kontrollinstanz von Europol v. 30.11.2011
[12] Europol Report 2011 a.a.O. (Fn. 5), p. 21; Europol Work Programme 2013 a.a.O. (Fn. 8), p. 46
[13] Europol Report 2011 a.a.O. (Fn. 5), pp. 22-25
[14] IntCen, ehemals das Joint Situation Centre (SitCen)
[15] http://www.europol.europa.eu/content/page/international-relations-31
[16] Amtsblatt der EU L 325 v. 11.12.2009, S. 12 f.
[17] Ratsdok. 15237/12 v. 22.10.2012
[18] Ratsdok. 12660/04 v. 28.9.2004
[19] RAND Europe: Evaluation of the implementation of the Europol Council Decision and of Europol’s activities, 2012; http://www.europol.europa.eu/sites/default/files/publi
cations/rand_evaluation_report.pdf, p. 113
[20] Relations with Russia, Ratsdok. 17649/11 v. 28.11.2011
[21] Europol Report 2011 a.a.O. (Fn. 5), p. 19
[22] ebd., p. 24
[23] ebd., p. 15 und Europol Report 2009 a.a.O. (Fn. 5), p. 9
[24] Europol Report 2011 a.a.O. (Fn. 5), p. 37
[25] Eurojust Annual Report 2011, Ratsdok. 8853/1/12 v. 24.4.2012, p. 10
[26] Europol: EU Organised Crime Threat Assessment 2006, p. 3
[27] Amending the COSPOL Framework into EMPACT, Ratsdok. 15386/1/11 v. 3.11.2011
[28] vgl. Töpfer, E.: Targeting Roma. How the EU Security Apparatus is mobilised for the „fight against itinerant crime”, www.statewatch.org/news/2012/mar/08itinerant-crime.htm
[29] www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/jha/130729.pdf [30] Implementation of the EUROPOL led action points related to the IMS action list – Progress Report, Ratsdok. 11087/10 v. 15.10.2010
[31] KOM(2012) 735 endg. v. 7.12.2012
[32] KOM(2012) 140 endg. v. 28.3.2012
[33] Europol Working Programme 2013 a.a.O. (Fn. 8)
[34] KOM(2010) 776 endg. v. 17.12.2010
[35] Ratsdok. 5778/1/12 v. 14.2.2012 und 7336/12 v. 12.3.2012
[36] Ratsdok. 8261/12 v. 29.3.2012 und 9104/12 v. 23.5.2012
[37] www.statewatch.org/news/2012/may/eu-com-note-europol-legal-basis-meeting-libe.pdf
[38] RAND Europe a.a.O. (Fn. 19)