Seit wann sind Grenzen intelligent? Die EU will mehr „Lagebewusstsein“ für Schengen

von Matthias Monroy

Zuviel Grenzüberwachung und Migrationskontrolle: Das ist das Ergebnis der „Borderline“-Studie, die im April dieses Jahres in Berlin veröffentlicht wurde. Die Migrationsabwehr wird zunehmend ins Vorfeld verlagert.

Die Wissenschaftler Ben Hayes und Mathias Vermeulen untersuchten im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung das „europäische Grenzüberwachungssystem“ EUROSUR und die „Initiative für intelligente Grenzen“.[1] Mit letzterer (engl. „Smart Border Package“) wollen die Innenminister der Europäischen Union die Handhabung wachsender „Reiseströme an den Grenzen“ verbessern.[2] Kontrollen gegen unliebsame MigrantInnen werden durch technische Hilfsmittel verschärft, während gleichzeitig Privilegien für „legal Reisende“ geschaffen werden. Damit soll Personal entlastet werden: Laut dem Verordnungsvorschlag der EU-Kommission werden die Außengrenzen der 27 EU-Mitgliedstaaten jährlich rund 700 Millionen Mal übertreten. Ein Drittel der Einreisen an Land, auf See und in der Luft werden „Drittstaatsangehörigen“ zugeschrieben. Allein für den Luftverkehr wird bis 2030 von einer Zunahme von 400 auf rund 720 Millionen Reisende im Jahr 2030 ausgegangen.

Die Initiative sieht nun einerseits den Aufbau eines „Entry/Exit System“ (EES) vor, in dem die Ein- und Ausreisen aller Drittstaatsangehörigen erfasst werden – und zwar unabhängig davon, ob diese ein Visum für den Schengen-Raum benötigen oder nicht. Damit will die EU gegen so genannte „Overstayer“ vorgehen. Gemeint sind MigrantInnen, die zunächst mit einem gültigen Aufenthaltstitel in die EU einreisen, den Schengen-Raum aber nicht fristgemäß wieder verlassen. Wird die Ausreise nicht vor Ablauf des Visums oder der üblichen 90 Tage visumsfreien Aufenthalts registriert, soll das System eine Meldung ausgeben. Diese führt jedoch nicht automatisch zu einer Fahndungsausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS). Dazu müsste eine neue Datenkategorie in diesem gemeinsamen Fahndungssystem geschaffen werden, was sowohl technische als auch rechtliche Veränderungen erfordern würde.[3] Vorerst erwartet sich die Kommission in erster Linie genauere Statistiken und eine „faktenbasierte Politik“ und nur in zweiter Linie eine Zunahme von Ausweisungen von Personen ohne Aufenthaltsstatus.

Zwar regelt der Schengener Grenzkodex, dass die Personenkontrollen an den Binnengrenzen (jedenfalls im Normalfall) wegfallen – ungeachtet der Nationalität von Reisenden.[4] Jedoch sieht das Schengen-Reglement „Ausgleichsmaßnahmen“ vor. Möglich sind etwa verstärkte Kontrollen von Verkehrsknotenpunkten im Inland oder auch „Gemeinsame Polizeioperationen“ (JPO), bei denen das EES künftig als ein weiteres technisches Instrument genutzt werden könnte. An diesen Großaktionen nehmen regelmäßig bis zu 20.000 Einsatzkräfte teil, die innerhalb mehrerer Tage EU-weite Kontrollmaßnahmen durchführen.[5] Auch die Grenzschutzagentur Frontex ist mit an Bord. Diese zur Bekämpfung unerwünschter Migration inzwischen halbjährlich stattfindenden „Joint Police Operations“ stehen unter der Leitung der jeweiligen EU-Präsident­schaft. Der federführende Mitgliedstaat erarbeitet einen Schlussbericht für die Ratsarbeitsgruppe „Strafverfolgung“ und dokumentiert eingesetzte Ressourcen, Material und Ausrüstung sowie operative Ergebnisse.

Zur „Initiative für intelligente Grenzen“ gehört auch das „Registrierungsprogramm für Reisende“ (RTP), mit dem sich Vielreisende aus Drittländern vorab in den konsularischen Vertretungen oder den geplanten gemeinsamen Visastellen überprüfen lassen können. Durch diese freiwillige Aufgabe von Privatheit können sich „Drittstaatsangehörige mit niedrigem Risikoprofil“ („Bona-fide-Reisende“) das Privileg erkaufen, an automatisierten „Kontrollgates“ schneller und diskreter in die EU einzureisen. Dieser Status wäre beispielsweise für alle EU-Staaten gültig. Voraussetzungen sind unter anderem der Nachweis „ausreichender Existenzmittel“ und der Besitz eines biometrischen Passes.

Milliarden zur „Abschreckung illegaler Einwanderer“

EES und RTP gehen auf eine Initiative der Kommission von 2008 zurück.[6] Anfallende Informationen sollen zur „Verhütung von Terrorismus und schwerwiegenden kriminellen Aktivitäten“ genutzt werden. Die Maßnahmen sollen aber vor allem der „Abschreckung illegaler Einwanderer“ dienen.[7] Das lässt sich die EU etwas kosten: Für die beiden Projekte der „Initiative für intelligente Grenzen“ hat die Kommission 1,1 Milliarden Euro im geplanten Fonds für innere Sicherheit reserviert. Gegenüber der Öffentlichkeit werden die Investitionen mit einer „effizienten Grenzverwaltung“ begründet, von der nicht weniger als die „Glaubwürdigkeit der EU nach innen wie nach außen“ abhängen würde.[8]

Profitieren werden von der Errichtung von EES und RTP jedoch vor allem die großen Rüstungskonzerne der EU-Mitgliedstaaten, die eine breite Palette von Anwendungen zum elektronischen Grenzmanagement entwickelt haben. Die jährlichen Betriebskosten gibt die Bundesregierung in der Antwort auf eine Kleine Anfrage für das EES mit 88 Millionen bzw. für das RTP mit 101 Millionen Euro an.[9] Dies deckt sich mit Angaben der Europäischen Kommission, die Unterhaltskosten von jährlich 190 Millionen Euro in den ersten fünf Jahren vorsieht. Die Zahl der mit den Systemen aufgespürten „Overstayer“ dürfte mit den milliardenschweren Ausgaben kaum im Verhältnis stehen: Laut Bundesregierung hat die Bundespolizei 2010 lediglich 5.405 Personen festgestellt, deren Visum bzw. Aufenthaltstitel abgelaufen war. Fünf Jahre zuvor waren es noch 7.454.[10]

Technisch muss aber gelöst werden, wie EES und das RTP mit anderen Datensammlungen kommunizieren und welche zusätzlichen Kosten dafür veranschlagt werden müssten. Denn alle Zugangspunkte müssen unter den 27 Mitgliedsstaaten kompatibel sein. Deutschland, die Niederlande und Großbritannien testen bereits Anwendungen für „registrierte Vielreisende“. In Großbritannien können Reisende ihre biometrischen Daten im Vorfeld hinterlegen. Innerhalb eines Pilotprogramms für „registrierte Vielreisende“ werden am Flughafen Frankfurt/Main die „auto­ma­ti­sierte biometriegestützte Grenzkontrolle“ (ABG) und das „auto­mati­sierte Grenzkontrollsystem“ (EasyPASS) erprobt.[11] Beide Systeme zum automatisierten Grenzübertritt sollen die Zeit der Kontrollen verkürzen. Hierfür hatte sich die Bundespolizei bis 2008 am EU-Projekt „BioDEV II“ beteiligt, das an den Flughäfen Berlin-Tegel und Berlin-Schönefeld installiert war. „EasyPASS“ nutzt als biometrisches Merkmal das Gesichtsbild, „ABG“ berechnet die Augen-Iris. Die Bundesregierung bezeichnet beide biometrische Merkmale als „für automatisierte Verfahren geeignet“.

Angehörige von Staaten, die ein Visum zur Einreise in Schengen-Staaten benötigen, werden seit Oktober letzten Jahres bereits im neuen Visa-Informationssystem (VIS) gespeichert, auf dessen biometrische Komponente sich auch das EES und das RTP stützen sollen.[12] Das VIS ging kurz nach dem „arabischen Frühling“ in Ägypten, Algerien, Libyen, Mauretanien, Marokko und Tunesien in Betrieb. Weitere Länder werden nach und nach angeschlossen. Bis Ende nächsten Jahres sollen weltweit sämtliche Konsulate der Schengen-Staaten mit dem System arbeiten.

Im Frühjahr 2013 soll nach jahrelanger Verspätung das Schengener Informationssystem (SIS) in seiner neuen Version starten. Grund für die Verzögerung der erweiterten Fahndungsdatenbank ist der Zuwachs neuer Mitgliedstaaten, aber vor allem die Aufnahme neuer Datenkategorien, darunter biometrische Daten von Reisedokumenten. Eine der Herausforderungen ist zudem die Interoperabilität der Betriebssysteme der nationalen SIS-Da­ten­ban­ken. VIS und SIS dienen der Migrationskontrolle und werden künftig von der „Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Groß­systemen im Bereich Freiheit, Sicherheit und Recht“ verwaltet. Die sogenannte „IT-Agentur“ wird in der estnischen Hauptstadt Tallinn errichtet und soll auch die Fingerabdruckdatenbank (EURODAC) führen. Unter Umständen werden auch das EES und RTP in die „IT-Agentur“ integriert.

Satelliten und Drohnen für mehr „Lagebewusstsein“

Parallel zur „Initiative für intelligente Grenzen“ treibt die Europäische Union ihr „Europäisches Grenzüberwachungssystem“ EUROSUR voran.[13] Unerlaubte Grenzübertritte an Land und auf See sollen ab 2014 in einer neuen Aufklärungsplattform erfasst werden. Neben der Verbesserung des „Lagebewusstseins“ soll insbesondere die Reaktionsfähigkeit von EU-Agenturen gestärkt werden. Eingebunden werden satellitengestützte Positionsdaten, etwa aus Schiffsortungssystemen und Fischereiüberwachungszentren. Das System basiert aber auch auf Daten aus der Satellitenaufklärung, die im Rahmen des EU-Vorhabens Global Monitoring of Environment and Security (GMES) gewonnen werden. Hinzu kommen Radarstationen sowie die Aufklärung aus der Luft mit Flugzeugen und Drohnen. Auch nachrichtendienstliche Erkenntnisse sollen beim Aufspüren von Flüchtlingen helfen.

EUROSUR wird als „neues politisches Instrument“ beworben: Die Grenzüberwachungsbehörden aller Mitgliedstaaten werden untereinander vernetzt und können operative Informationen austauschen. Im Mittelpunkt steht die Zentrale der EU-Grenzschutzagentur Frontex in Warschau. Zunächst startet EUROSUR mit sieben Mitgliedstaaten an den Grenzen der südlichen und östlichen EU-Länder, die hierfür „Nationale Koordinierungszentren“ (NCC) eingerichtet haben. Seit November 2011 ist Frontex im „Pilotbetrieb“ mit Finnland, Frankreich, Italien, Polen, der Slowakei und Spanien vernetzt. Ausweislich der Studie „Borderline“ haben auch Bulgarien, Estland, Rumänien und Slowenien ein „Nationales Koordinierungszentrum“ aufgebaut. Für 2012 ist laut Bundesregierung ein „Aufwuchs auf insgesamt 18 EU-Mitgliedstaaten“ vorgesehen.[14] Nach den Vorstellungen der Bundesregierung soll ein deutsches NCC im Bundespolizeipräsidium angesiedelt sein.[15] Die Überwachung der Seeaußengrenzen könnte im „Gemeinsamen Lagezentrum See in Cuxhaven“ angebunden werden. Zu den Aufgaben der NCC zählt die Bundesregierung neben dem Informationsaustausch die „Fortschreibung und ständige Aktualisierung des nationalen Lagebildes“ und das „Betreiben nationaler Grenzüberwachungssysteme“. Für die hochgerüstete Migrations­abwehr werden auch Staaten außerhalb der EU integriert. Die Zusammenarbeit mit den „Drittstaaten“ wird in Projekten wie „Seahorse Atlantic“ eingefädelt, in das Spanien und Portugal Erfahrungen und Infrastruktur ihrer seeseitigen Migrationsabwehr einbringen. Beteiligt sind Mauretanien, Senegal, Kap Verde, Gambia, Guinea Bissau und Marokko. Ein ähnliches Projekt „Seahorse Mediterraneo“ ist jetzt mit Libyen, aber auch Tunesien geplant.[16]

Bis 2020 sollen für die Einrichtung, Aufrüstung und Wartung der nationalen Koordinierungszentren und des Lagezentrums von Frontex nach vorsichtigen Schätzungen der Kommission mindestens 338,7 Millionen aufgewendet werden. Je nachdem für welche Option der Umsetzung sich der Europäische Rat entscheidet, könnten sich die Ausgaben sogar verdoppeln. In der Schätzung fehlen Kosten, die von der EU im Vorfeld in Forschungsprojekte zur Entwicklung der benötigten Kapazitäten gesteckt werden. Das Vorhaben „Autonomous MAritime Surveillance System“ (AMASS) hat hierfür automatisierte, unbemannte „Überwachungsplattformen“ erforscht. Im Projekt „Transportable autonomous patrol for land border surveillance“ (TALOS) wurde der Prototyp eines unbemannten Landroboters entwickelt, während „Wide maritime area airborne surveillance“ (WIMASS) die Einbindung von Drohnen untersuchte. Die zahlreichen Einzelmaßnahmen sollen innerhalb von „Sea border surveillance“ (SEABILLA) in einer einzigen Anwendung verzahnt werden. Ebenfalls nicht im Kostenplan von EUROSUR enthalten sind jene Projekte, die innerhalb der Satellitenaufklärung „Global Monitoring of Environment and Security“ finanziert werden. Im GMES-Projekt „MARItime Security Service“ (MARISS) werden Anwendungen entwickelt, um verdächtige, kleinere Boote leichter zu entdecken. 2010 hatte auch das deutsche Bundeskriminalamt Bilder von MARISS angefordert um zu prüfen, inwieweit auf der Ostsee „Schleusungskriminalität und Rauschgifthandel per Wasserfahrzeug“ aus dem All aufgespürt werden könnte.[17] Die maritime Abteilung der Bundespolizei (BPOL See) hat einen bis 2013 gültigen Kooperationsvertrag mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) unterzeichnet. Das DLR liefert hierfür Bilder der Radarsatelliten TerraSAR-X und TanDem-X, die gemeinsam mit der Firma Astrium betrieben werden. „Schon heute können wir auf Produkte aus der Kooperation zurückgreifen, die es ohne sie gar nicht oder erst in ein paar Jahren gebe“, lobt der Leiter der Bundespolizei See.[18]

Paradigmenwechsel in der Migrationsabwehr

Die Einrichtung von EUROSUR unterstreicht einen Paradigmenwechsel in der Migrationsabwehr: Die Verschiebung von einem „patrouillengestützten Ansatz“ hin zu einem „erkenntnisgestützten Ansatz“. Die Rede ist von einem größeren „Situationsbewusstsein für die Lage an den Außengrenzen“.[19] Damit wäre etwa die deutsche Bundespolizei stets im Bild über Vorkommnisse auf den griechischen Inseln oder vor der tunesischen Küste. Wichtiges Ziel ist die Bereitstellung der Informationen möglichst in Echtzeit.

EUROSUR stellt zwar bereits ein „System of Systems“ dar, indem verschiedene Ebenen der Überwachung in einer einzigen Plattform aufgehen. Jedoch soll auch EUROSUR in den „gemeinsamen Informationsraum“ („Common Information Sharing Environment“, CISE) für den maritimen Bereich der EU integriert werden.[20] Neben den Grenzwächtern gehören Behörden der Seeverkehrssicherheit, Fischereiaufsicht, Meeresverschmutzung und des Militärs zu den Nutzern des CISE. Auch die „Reaktionsfähigkeit der Nachrichtendienste“ soll verbessert werden. Die zivil-militärischen „Akteure“ wollen so ihren Informationsaustausch unter „regionalen, gemeinschaftlichen, militärischen und internen Sicherheitssystemen“ vorantreiben. Rechtsvorschriften oder andere „Hemm­nisse für den Austausch von Kontroll- und Überwachungsdaten“ sollen beseitigt werden.

Die Plattformen EES und RTP, aber auch die oben beschriebenen „Gemeinsamen Polizeioperationen“ dienen dem zunehmend „erkenntnisgestützten Ansatz“: Die mehrtägigen Kontrollen sammeln statistische Daten für Frontex in Warschau. Laut EU-Kommission sollen die Behörden auf diese Weise stets eine „exakte und zuverlässige Berechnung der zulässigen Aufenthaltsdauer“ vornehmen können.[21] Frontex erstellt aus den Daten regelmäßige Risikoanalysen in einem „Common Prefrontier Intelligence Picture“ (CPIP), das zu EUROSUR gehört. Ausgewertet werden unter anderem Quellen der sogenannten „Open Source Intelligence“ (OSINT) sowie „Imagery Intelligence“ (IMINT). Gemeint sind öffentlich zugängliche Informationen etwa von Webseiten oder Sozialen Netzwerken, die mit automatisierten Verfahren durchforstet werden können. Zur intelligenten Auswertung von statistischem Material innerhalb des „Common Prefrontier Intelligence Picture“ arbeitet Frontex an Verfahren zum „Text Mining“.[22] Dabei handelt es sich um eine automatisierte Texterschließung und Suche nach Auffälligkeiten oder Zusammenhängen. Die Grenzschutzagentur nimmt hierfür am For­schungs­projekt „Open Source Text Information Mining and Analysis“ (OPTIMA) teil.[23] Die Errichtung dieser mathematischen Aufklärungsplattform ging mit dem Versand eines Fragebogens einher, in dem die Mitgliedstaaten Stellung zu dem Projekt nehmen sollten.[24] Die deutsche Bundesregierung hält das CPIP für sinnvoll, um „Informationen aus dem vorgelagerten Grenzbereich für die strategische Risikobewertung von Migrationsbewegungen zu nutzen“.[25] Auch die in Drittstaaten entsandten Verbindungsbeamten der Mitgliedstaaten und von Frontex sollten Hinweise beisteuern.

Rasterfahndung zur Gefahrenabwehr

Dass die Systeme der „Initiative für intelligente Grenzen“ und EUROSUR auf ernsthaften Widerstand stoßen, ist nicht abzusehen. Grund dafür gäbe es aber genug: Zu kritisieren wären nicht nur die weiter zunehmende Datensammelwut europäischer Grenzpolizeien und die Einrichtung neuer Informationssysteme. Problematisch ist auch der fortschreitende Kompetenzzuwachs für die Grenzschutzagentur Frontex, die zum operativen Lagezentrum für gemeinsame Operationen der Mitgliedstaaten mutiert. Auch der zunehmende Einsatz von Überwachungstechnologie als Antwort auf soziale und politische Phänomene ist bedenklich. EUROSUR und die „Initiative für intelligente Grenzen“ seien die „zynische Antwort der EU auf den arabischen Frühling“, folgern die grünen Auftraggeber der „Borderline“-Studie.[26] Die Innenminister der 27 Mitgliedsstaaten schotten sich demnach zunehmend ab – auf Kosten von Grundrechten.

Die Kritik lässt aber außer Acht, dass EES, RTP und EUROSUR den Trend von Polizeibehörden fortschreiben, die Bekämpfung unerwünschten Verhaltens zunehmend ins Vorfeld verlagern. Einer Gefahrenabwehr wird so mit dem Instrument teilweise automatisierter „Risikoanalysen“ den Vorzug vor der Strafverfolgung gegeben. Die Verfahren können überdies den Charakter einer Rasterfahndung tragen: Wenn nämlich weitere, vorhandene oder neu zu errichtende Datensammlungen ebenfalls abgefragt werden. So plant die EU ein eigenes System, um Fluggastdaten zu speichern und zu analysieren. Als Ziel wird nicht nur die Strafverfolgung postuliert, sondern auch „terroristische Straftaten und schwere Kriminalität wirksam zu verhüten“.[27] Von Interesse sind 19 Kategorien von Daten, die sich auf rund 60 verschiedene Datensätze auffächern. Die derart erlangten Informationen können dann mit anderen polizeilichen Datenbanken abgeglichen werden, in denen etwa gesuchte Personen und Gegenstände abgelegt sind. Laut EU-Kommission können durch diese Rasterung „Personen ermittelt werden, die bislang nicht ‚bekannt‘ waren“. Dass dabei Daten „von unschuldigen und unverdächtigen Personen“ prozessiert werden, bestätigt die Kommission.[28] Der bekannte US-Aktivist Edward Hasbrouck, der bis zu dessen Ratifizierung im April diesen Jahres gegen das PNR-Abkommen mit den USA kämpfte, hatte dies erst nach jahrelangem Tauziehen vom Department of Homeland Security erfahren. Die Heimatschützer hatten noch nach Jahren gespeichert, mit wem er früher gereist war, welches Geschlecht die Person hatte und ob bei einer Übernachtung ein Zimmer mit getrennten Betten oder Doppelbett gebucht wurde.[29]

[1] Hayes, B.; Vermeulen, M.: Borderline – The EU’s New Border Surveillance Initiatives, Heinrich Böll Foundation, Berlin 2012
[2] KOM MEMO/11/728 v. 25.11.2011
[3] Eine Verknüpfung des EES mit dem SIS ist zwar in der Diskussion, derzeit aber noch nicht vorgesehen. Das heutige Schengener Durchführungsübereinkommen bzw. die Verordnung für das SIS der zweiten Generation sehen bisher nur eine Ausschreibung von DrittausländerInnen zur Zurückweisung an den Grenzen, nicht aber zur Ausweisung vor.
[4] Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.3.2006
[5] Monroy, M.: Ende der Freizügigkeit im Schengen-Raum, in: Telepolis v. 19.8.2011
[6] KOM(2008) 69 endg. v. 13.2.2008
[7] KOM(2010) 623 v. 27.10.2010
[8] KOM(2011) 248 endg. v.4.5.2011
[9] BT-Drs. 17/8084 v. 6.12.2011
[10] ebd.
[11] ebd.
[12] Bundesinnenministerium: Pressemitteilung v. 11.10.2011
[13] KOM(2011) 873 endg. v. 12.12.2011
[14] BT-Drs. 17/7018 v. 20.09.2011
[15] BT-Drs. 17/8277 v. 29.12.2011
[16] Ratsdok. 15905 v.12.11.2012
[17] BT-Drs. 17/7806 v. 25.11.2011
[18] „Wir wollen das Meer sicherer machen“ – Interview mit der Bundespolizei See zur Kooperation mit dem DLR, 4.7.2011, www.dlr.de/dlr/desktopdefault.aspx/tabid-10213/335_read-952
[19] so die offizielle Zusammenfassung des Projekts EUROSUR auf der Homepage der Europäischen Union, http://europa.eu/legislation_summaries/justice_freedom_security/free_move
ment_of_persons_asylum_immigration/l14579_de.htm
[20] KOM(2009) 538 endg. v. 15.10.2009
[21] KOM(2011) 680 endg. v. 25.10.2011
[22] Real-Time Text Mining in Multilingual News for the Creation of a Pre-frontier Intelligence Picture, www.ling.helsinki.fi/~sihuttun/Texttypes/KDD_2010.pdf
[23] Open Source Text Information Mining and Analysis, Joint Research Centre, http://projects.jrc.ec.europa.eu/jpb_public/act/publicexportworkprogramme.html?actId=417&d-2325611-p=5)
[24] Ratsdok. 12542/11 v. 6.7.2011
[25] BT-Drs. 17/8277 v. 29. 12. 2011
[26] Unmüßig, B.; Keller, S: Vorwort zur Studie: „Grenzwertig: Eine Analyse der neuen Grenzüberwachungsinitiativen der Europäischen Union“ v. 24.5.2012
[27] Ratsdok. 8916/12 v. 23.4.2012
[28] BR-Drs. 73/11 v. 3.2.2011
[29] „In dieser Datenbank steht, wer mit wem schläft“, Zeit Online v. 12.9.2010, http://www.zeit.de/reisen/2010-09/edward-hasbrouck

Bibliographische Angaben: Monroy, Matthias: Seit wann sind Grenzen intelligent? Die EU will mehr „Lagebewusstsein“ für Schengen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 101-102 (1-2/2012), S. 98-106