Leipzig: Größte Strukturermittlung seit 1989

Stephan Martin

Von Oktober 2013 bis zur Einstellung im November 2016 führte zunächst die Staatsanwaltschaft Dresden und schließlich die der sächsischen Generalstaatsanwaltschaft angegliederte „Integrierte Ermittlungseinheit Sachsen“ (INES) ein Verfahren gegen insgesamt 14 Beschuldigte wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 Strafgesetzbuch.[1] Dessen Ausgangspunkt war ein Vorfall im April 2013: Zwei „Rechte“ waren am Besuch des „Impericon Festival“ gehindert und anschließend von bis zu acht vermummten Personen verprügelt worden. Drei der mutmaßlichen Täter hatte die Polizei feststellen können. Sie vermutete jedoch von Anfang an, dass eine kriminelle Organisation, die „systematisch und gewaltsam gegen politisch unliebsame Personen“ vorgehe, hinter dieser und anderen Attacken stecken würde.[2]

In den Fokus der Ermittlungen gerieten dabei schnell (linke) Fans des Fußball-Oberliga-Clubs BSG Chemie Leipzig samt eines Fanbetreuers, deren Umfeld nun im Rahmen der „größten Strukturermittlung in Leipzig seit 1989“, so die Leipziger Internet-Zeitung, ausgeforscht wurde. In ihrem Abschlussvermerk vom 19. September 2016 musste die Generalstaatsanwaltschaft Dresden frustriert feststellen, dass sich den „umfangreichen Akten … nicht ohne weiteres entnehmen lasse, welche konkreten einzelnen Straftaten – neben der Prüfung des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung gem. § 129 StGB – Bestandteil des Verfahrens sind.“ Aus dem großen Verdacht ist nichts geworden – trotz großflächiger Überwachung.

Von Dezember 2013 bis August 2014 erließ das Amtsgericht Dresden insgesamt 26 Anordnungen zur Telekommunikationsüberwachung (TKÜ, 21 Erstanordnungen, fünf Verlängerungen). Die Protokolle der Gespräche füllen 41 Aktenbände. 56.118 Verkehrs- und 838 Bestandsdatensätze wurden dabei erhoben. Zwei Funkzellenabfragen ergaben weitere 68.925 Verkehrsdatensätze. Hinzu kamen der Einsatz eines IMSI-Catchers und Observationsbeschlüsse gegen sieben Beschuldigte, von denen vier tatsächlich während drei Monaten überwacht wurden. Eine ebenfalls eingesetzte Observationskamera wurde allerdings gestohlen.[3]

Bei den Telefonüberwachungen geht die sächsische Landesregierung von 240 Betroffenen aus. 177 wurden nach der Einstellung des Verfahrens informiert, bei den anderen hätten keine aktuellen Anschriften vorgelegen. Die restlichen fast 600 Bestandsdaten hätten „keiner real existierenden Person zugeordnet werden können“ oder die AnschlussinhaberInnen seien nicht die NutzerInnen gewesen. Die Landesregierung musste inzwischen einräumen, dass von den Überwachungsmaßnahmen auch BerufsgeheimnisträgerInnen betroffen waren: neun JournalistInnen – von der Leipziger Volkszeitung bis hin zu Bild und Spiegel –, drei ÄrztInnen sowie zehn RechtsanwältInnen, die teils sogar als StrafverteidigerInnen belauscht worden waren.[4] Bei den drei erfassten „TKÜ-Ereignissen“ der ÄrztInnen handelte es sich um absolut geschützte Inhalte des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Von den insgesamt 366 „TKÜ-Ereignissen“ der JournalistInnen und AnwältInnen waren nach Auffassung der Behörden nur 60 wegen beruflichen Bezuges schützenswert. Angesichts der Aktenmasse ist völlig offen, ob der Skandal sich nicht noch ausweitet. Zudem ist für die Betroffenen nicht absehbar, in welche Datenbanken ihre Daten eingespeist wurden und dort vielleicht Jahre später wieder hervorgeholt werden – etwa um, wie beim G20-Gipfel, den Entzug einer Presseakkreditierung zu begründen.

[1]   Leipziger Volkszeitung v. 17.11.2016
[2]   Leipziger Internet Zeitung v. 25.8.2017
[3]   Sächsischer LT, Drs.6/7112 v. 14.12.2016 und 6/9812 v. 5.7.2017
[4]   Sächsischer LT, Drs.6/10620 v. 2.10.2017

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