Der schweizerische Bundesrat, die Regierung des Landes, will sowohl das strafrechtliche Anti-Terror-Instrumentarium als auch die präventiv-polizeilichen Befugnisse gegen „Gefährder“ ausbauen. Das gerade neu gewählte Parlament wird sich im nächsten Jahr mit zwei umfangreichen Gesetzespaketen auseinandersetzen müssen.
Anders als in Deutschland ist das Repertoire an Anti-Terror-Gesetzen in der Schweiz bisher vergleichsweise klein. 2003 ratifizierte das Parlament zwar das UN-Übereinkommen gegen Terrorismusfinanzierung und fügte einen entsprechenden Artikel ins Strafgesetzbuch (Art. 260 quinquies StGB) ein, aber eine generelle Terrorismusstrafnorm lehnte es ebenso ab wie eine dem deutschen § 129a (terroristische Vereinigung) vergleichbare Strafbestimmung.
Wichtigstes strafrechtliches Instrument in diesem Bereich blieb der Art. 260ter StGB – „kriminelle Organisation“ –, der 1994 als Folge der großen Aufregung über „organisierte Kriminalität“ eingeführt worden war. Mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedroht wird demnach die Beteiligung an oder die Unterstützung von Organisationen, „die ihren Aufbau und ihre personelle Zusammensetzung geheim (halten) und die den Zweck (verfolgen), Gewaltverbrechen zu begehen oder sich mit verbrecherischen Mitteln zu bereichern“. Das gilt auch für ausländische Organisationen, wenn sie „ihre verbrecherische Tätigkeit ganz oder teilweise in der Schweiz“ ausüben oder auszuüben beabsichtigen.
Noch in einem Bericht von Ende 2010 sah der Bundesrat keinen Bedarf für eine Ausweitung der Strafnorm.[1] Sie weise „weder Mängel noch Lücken auf“, die „Gerichtspraxis“ fasse unter dem Begriff kriminelle Organisation „auch terroristische Gruppierungen“.
Seine Wirksamkeit zeigte der Artikel vor allem als Türöffner für geheime Ermittlungsmethoden – von der Telekommunikationsüberwachung über den Lauschangriff bis hin zum Einsatz von V-Leuten und Verdeckten Ermittler*innen. Die Zahl der Verurteilungen blieb dagegen sowohl im Bereich der gewöhnlichen Kriminalität als auch des „Terrorismus“ gering. Die Gerichte bewilligten zwar Auslieferungen von ehemaligen Mitgliedern der Roten Brigaden nach Italien, angeblichen Unterstützer*innen der ETA nach Spanien oder der TKP/ML nach Deutschland. Auf den Art. 260ter gestützte Ermittlungen gegen die kurdische PKK wurden dagegen eingestellt. 2018 scheiterte die Bundesanwaltschaft auch vor dem Bundesstrafgericht mit ihrer Anklage gegen Mitglieder der Tamil Tigers (LTTE), die nach Auffassung des Gerichts keine „kriminelle Organisation“ darstellen. Das Verfahren hatte neun Jahre gedauert und Kosten von über vier Millionen Franken verursacht.[2]
Erfolglos waren in den Nullerjahren auch diverse Verfahren wegen angeblicher Unterstützung von Al Qaida geblieben.[3] Neuere Verurteilungen beziehen sich vor allem auf Internetpropaganda für islamistisch-terroristische Organisationen oder auf Versuche der Anwerbung von Dschihadist*innen oder richten sich gegen Dschihad-Rückkehrer*innen. Zum Teil stützen sich diese Urteile auch auf das „Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen Al Qaida und Islamischer Staat“, das Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren oder Geldstrafen für die Beteiligung an den oder die Unterstützung der verbotenen Organisationen vorsieht.
Das Gesetz, das bis Ende 2022 befristet ist, war 2014 im Vorgriff auf das Nachrichtendienstgesetz (NDG) verabschiedet worden, das erst nach dem Referendum im September 2015 in Kraft trat. Das NDG regelt nicht nur die Überwachungsbefugnisse des Geheimdienstes, zu denen bei der Terrorismusbekämpfung auch die Telekommunikationsüberwachung und der Einsatz von Trojanern gehören. Es gibt dem Bundesrat auch die Kompetenz zum Erlass strafbewehrter Organisationsverbote. Allerdings liegt die Höchststrafe hier bisher bei drei Jahren.
Kriminalisierung des Vorfeldes
Geht es nach dem Bundesrat, so soll die gesetzgeberische Sparsamkeit beim Anti-Terror-Strafrecht nun definitiv vorbei sein. Die Schweiz soll das Europaratsübereinkommen zur „Verhütung des Terrorismus“ von 2005 samt dem Zusatzprotokoll von 2015 ratifizieren.[4]
Zu deren Umsetzung sieht der Entwurf vom September 2018 zunächst eine Verschärfung des Art. 260ter StGB vor. Bei der „kriminellen Organisation“ (Abs. 1) bleibt der bisherige Strafrahmen – Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe – erhalten. Allerdings soll das Tatbestandsmerkmal der Geheimhaltung von Aufbau und personeller Zugehörigkeit entfallen. Neu einführen will der Bundesrat eine Bestimmung über „terroristische Organisationen“ (Abs. 2), die durch den von ihr verfolgten Zweck definiert sein soll, nämlich „Gewaltverbrechen zu begehen, mit denen die Bevölkerung eingeschüchtert oder ein Staat oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen genötigt werden soll“. Das setzt nicht voraus, dass die Organisation bereits entsprechende Straftaten begangen hätte. Der Tatbestand der Beteiligung an oder Unterstützung von solchen Organisationen ist auch nicht erst dann erfüllt, wenn sich eine Person an konkreten Gewaltverbrechen oder an deren Vorbereitung beteiligt oder diese unterstützt. Sowohl die Gewaltverbrechen selbst als auch „planmäßig konkrete technische oder organisatorische Vorkehrungen“ dazu (Art. 260bis StGB) sind auch heute schon strafbar. Die neue Strafnorm gegen „terroristische Organisationen“ kriminalisiert vielmehr das Vorfeld. Die Höchststrafe soll hier bei zehn Jahren liegen. Wenn „der Täter einen bestimmenden Einfluss in der Organisation“ ausübt, liegt der Strafrahmen sogar zwischen drei und zwanzig Jahren Haft.
Im Vorfeld konkreter strafbarer Handlungen bewegt sich auch der neue Art. 260sexies, der die Anwerbung für die Begehung eines Gewaltverbrechens, die Ausbildung an Waffen, Sprengstoff etc. und das Sich-Ausbilden-Lassen, „grenzüberschreitende Reisen“ für die Begehung von, Beteiligung an oder Ausbildung für solche Straftaten sowie die Finanzierung oder Organisierung solcher Reisen mit bis zu fünf Jahren Haft oder Geldstrafe bedroht. In Bezug auf die Anwerbung heißt es beispielsweise in der „Botschaft“ des Bundesrats, es sei für die Strafbarkeit nicht erforderlich, dass „ein mit der Rekrutierung im Zusammenhang stehender konkreter Terrorakt in seinen Konturen bereits erkennbar“ sei. Die Anwerbung müsse auch nicht erfolgreich sein. Es reiche, dass die angeworbene Person „das Vorgehen und Bestreben des Täters zumindest zur Kenntnis nimmt“.
Neben den Verschärfungen im „Kernstrafrecht“ will der Bundesrat auch die Höchststrafe für die Beteiligung an oder die Unterstützung von verbotenen Organisationen von bisher drei auf fünf Jahre heraufsetzen. Der Bundesrat kann ein Verbot nach Anhörung der zuständigen Parlamentskommissionen selbst verfügen. Immerhin muss sich ein Verbot weiterhin auf einen Sanktionsbeschluss der Vereinten Nationen stützen. Strafbar soll nach dem neu gefassten Art. 74 NDG aber nicht nur die Unterstützung oder Propaganda für eine solche Organisation, sondern auch für ihre Ziele sein.
Für Ausländer*innen sollen Verurteilungen nach den neuen Bestimmungen des StGB und des NDG „unabhängig von der Höhe der Strafe“ automatisch zu einer Landesverweisung und einer Einreisesperre von fünf bis fünfzehn Jahren führen. Nicht verwunderlich gehören zu diesem Paket auch die Vereinfachung der internationalen Rechtshilfe sowie die Aufnahme der neuen Strafbestimmungen in die Deliktkataloge der Strafprozessordnung für die Telekommunikationsüberwachung und die verdeckte Ermittlung.
Präventivpolizeilicher Zwang
Mit der strafrechtlichen Vorverlagerung will es der Bundesrat nicht bewenden lassen. Im Mai präsentiert Justizministerin Karin Keller-Suter ein umfangreiches Paket von präventivpolizeilichen Zwangsmaßnahmen gegen „terroristische Gefährder*innen“,[5] die im „Bundesgesetz über Maßnahmen zur Wahrung der Inneren Sicherheit“ (BWIS) verankert werden sollen.
In seiner ursprünglich 1998 in Kraft getretenen Fassung beinhaltete dieses Gesetz die rechtliche Grundlage für die Tätigkeit des Inlandsgeheimdienstes, der zu dieser Zeit noch zum Bundesamt für Polizei gehörte. 2009 wurde der Inlands- mit dem Auslandsgeheimdienst zum Nachrichtendienst des Bundes vereinigt und beim Verteidigungsministerium angesiedelt. Mit dem Nachrichtendienstgesetz von 2015 wurden die staatsschützerisch-geheimdienstlichen Aspekte aus dem BWIS gestrichen. Übrig blieben Regelungen zur Personensicherheitsüberprüfung, zum Schutz von Diplomat*innen und Amtsträger*innen und von Gebäuden des Bundes sowie ein Teil der Maßnahmen gegen Sportfans, die 2006 im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft eingeführt worden waren. Die nun gegen „Gefährder*innen“ geplanten Befugnisse entsprechen in Teilen denen, die gegen Sportfans in Anschlag gebracht werden, gehen aber darüber hinaus.
Der Entwurf sieht eine umfangreiche Erhebung, Bearbeitung und Übermittlung von Informationen vor – einschließlich Daten zu Gesundheit und „religiösen und weltanschaulichen Ansichten und Tätigkeiten“. Bedienen will man sich auch bei den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, Integrationsfachstellen, Fremdenpolizeien und beim Staatssekretariat für Migration.
Die Spanne der vorgesehenen Zwangsmaßnahmen reicht von der Pflicht zur Teilnahme an einem Gespräch mit einer „Fachperson“ und zu regelmäßigen Meldungen bei der Polizei über Kontaktverbote, Ein- und Ausgrenzungen (d. h. dem Verbot, sich aus einem bestimmten Bereich zu entfernen oder ihn zu betreten), Ausreiseverbote verbunden mit dem Einzug des Passes bis hin schließlich zur „Eingrenzung auf eine Liegenschaft“, also zum Hausarrest.
Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) soll all diese Maßnahmen verfügen. Die kantonalen Polizeibehörden und der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) können sie beantragen. Mit Ausnahme des Hausarrestes können diese Maßnahmen gegen Personen ab zwölf Jahren verhängt werden. Sie können zunächst für sechs Monate angeordnet und dann um weitere sechs Monate verlängert werden. Für den Hausarrest muss die betroffene Person 15 Jahre alt sein. Er kann für drei Monate verhängt und dann zweimal – ebenfalls um je drei Monate – verlängert werden. Zur Kontrolle, ob die diversen Verbote und der Hausarrest eingehalten werden, kann das Fedpol zudem eine elektronische Überwachung über die Standortdaten des Mobiltelefons oder durch eine elektronische Fußfessel anordnen.
Wer aber sind die „Gefährder*innen“?
Wie viele Personen von den präventiven Maßnahmen betroffen sein könnten, ist unklar. Am 24. Mai 2019 gab der NDB bekannt, dass er derzeit 66 Personen als „Risikopersonen“ einstuft, die „aufgrund ihrer terroristischen Motivation und Aktivitäten ein erhöhtes Risiko und eine primäre Bedrohung für die innere und äußere Sicherheit der Schweiz darstellen.“[6] Was notwendig ist, um vom NDB als Risikoperson oder vom fedpol als „Gefährder*in“ angesehen zu werden, bleibt auch dann unklar, wenn man die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Definition zu Rate zieht: „Als terroristische Gefährderin oder terroristischer Gefährder gilt eine Person, wenn aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird“, so der künftige Art. 23e BWIS.
Das wichtigste Wort in diesem Satz lautet „wird“. Ob eine Person als Gefährder*in eingestuft wird, entscheidet sich nämlich nicht aufgrund dessen, was sie in der Vergangenheit getan hat, sondern aufgrund einer polizeilich-geheimdienstlichen Prognose darüber, was sie in Zukunft tun „wird“ oder besser gesagt: tun könnte. Gefährder*innen sind nicht Beschuldigte einer Straftat, die ihnen im Rahmen eines Strafverfahrens entweder nachgewiesen werden kann oder nicht. Im präventiv-polizeilichen Bereich gibt es keine Unschuldsvermutung. Die Betroffenen können zwar gegen diese Maßnahmen Beschwerde führen, aber die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts dürfte zudem mehrere Monate auf sich warten lassen. Nur der Hausarrest soll einer richterlichen Anordnung bedürfen – und zwar durch das Zwangsmaßnahmengericht des Kantons Bern, das ansonsten für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen von der Verhaftung bis zur Telefonüberwachung zuständig ist. Praktisch ist die Beweislast hier jedoch umgekehrt: Die Betroffenen müssten nachweisen oder mindestens glaubhaft machen, dass sie in der Zukunft keine „terroristische Aktivität“ ausüben werden. Wie aber soll das gehen?
Ein bisschen Präventivhaft
Die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektor*innen (vergleichbar mit der deutschen Innenministerkonferenz) hatte im Zuge der Debatte über den Vorentwurf des Ministeriums auch eine „gesicherte Unterbringung für Gefährder“ in Betracht gezogen. Praktisch wäre das nichts anderes als eine Präventivhaft gewesen. Wenigstens von diesem Vorhaben haben Bund und Kantone sich zumindest vorerst verabschiedet, nachdem der Zürcher Rechtsanwalt und Professor Andreas Donatsch in einem Gutachten erklärt hatte, dass diese „Unterbringung“ nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist.[7]
Eine präventive administrative Haft wird es daher nur für die nicht-schweizerischen „Gefährder*innen“ geben. Für die Ausschaffungshaft wird im Ausländergesetz ein neuer Haftgrund eingeführt: Ohne Strafverfahren können dann Ausländer*innen inhaftiert werden, wenn sie „Erkenntnissen“ von fedpol oder des NDB zufolge die „innere oder äußere Sicherheit der Schweiz“ gefährden. So einfach ist das.