von Philipp Knopp
Leitstellen sind Knotenpunkte in der Koordination von Polizeieinsätzen. Sie lösen auch Polizeieinsätze aus, z. B. auf der Basis von Notrufen. Digitale Technologien strukturieren dabei auch weite Teile des Alltags von Polizist*innen – Beobachtungen aus einer Leitstelle in Österreich.
Die kritischen Debatten um die Technologien der Polizei fokussieren häufig neue und aufsehenerregende Systeme, internationale Datenbanken oder KI-gestützte Kriminalistik. Eine Besprechung des Funks und der Informationssysteme der Einsatzleitzentralen als wichtige Kommunikationsinfrastrukturen der Polizei erdet diese Debatten, weil aufgezeigt wird, dass avancierte Technologien den Alltag der Polizei seit vielen Jahrzehnten prägen. Gleichermaßen rückt der Blick auf den Polizeifunk Aspekte der Konnektivität in den Vordergrund. Dies gilt für komplexe Großeinsätze bei großen Versammlungen oder Fußballspielen wie auch für den Polizeialltag.
Funkinfrastrukturen binden stets weitere Medientechnologien ein. Der seit den 1990er Jahren verbreitete Datenfunk ermöglicht auch den Versand von Nachrichten und kleinen Datenpaketen zwischen Leitstellen und Streifenwagen. Einsatzleitsysteme nutzen diese Funktionen, um die verschiedenen Orte und Episoden der polizeilichen Einsatzbearbeitung miteinander zu verknüpfen. Mithilfe der Leitsysteme werden Polizeieinsätze ausgelöst, an die Funkstreifenwagen weitergegeben und zwischen den Einsatzkräften vor Ort und Leitzentralen koordiniert. Die Streifenwagen funken Berichte, die von Leitstellenbeamt*innen protokolliert und vom Einsatzleitsystem mit automatisch generierten Daten ergänzt werden. Die Berichte werden von dienstführenden und leitenden Beamt*innen mehr oder minder eingehend geprüft. All diese Tätigkeiten finden ihren schriftlichen Niederschlag in einem Datensatz pro Einsatz.
In der österreichischen Leitstelle, die ich während meiner Forschung besuchte, nennen die Polizist*innen diesen Datensatz „Einsatzblock“. Diesen für einen digitalen Datensatz zunächst irritierenden Namen übernahmen sie aus der vordigitalen Zeit. Einsatzblöcke waren gedruckte Papierblöcke mit einer Tabelle, mit denen die Beamt*innen Ort, Zeit, entsandte Einheiten und Einsatzinformationen protokollierten, um sie dann per Förderband an den benachbarten Funkbereich zu schicken, wo nicht nur gefunkt wurde, sondern die Papierzettel auch säuberlich gestapelt wurden. Die Polizeibroschüre „Sicherheit und Hilfe“ aus dem Jahr 1998 beschreibt die Digitalisierung dieser Einsatzblöcke, wie folgt: „Bildschirme ersetzen die bis dahin üblichen handgeschriebenen Zettel, deren Lesbarkeit umgekehrt proportional dem Streß in der Dienststelle war.“ Über die Lesbarkeit von Handschriften hinaus veränderte sich aber auch die Art und Weise, wie die Polizei die „Einsatzblöcke“ versteht. Sie werden nun Mittel und Gegenstand einer anhaltenden Standardisierung in der Bearbeitung von notrufbasierten Polizeieinsätzen. Die Einsatzzeiten und Bearbeitungsperioden werden nicht mehr mit der individuellen Armbanduhr-Zeit gemessen, sondern mit der omnipräsenten Digitaluhr des Einsatzleitsystems. Damit wird die performance der Leitstellenbeamt*innen und der Funkwagen zahlenmäßig mess- und vor allem vergleichbar. Die Digitalisierung der Informationssysteme der Polizei ist damit auch die Grundlage für neue Formen des accounting von Zeit- und Kosteneffizienz, weil sie mit den standardisierten Datensätzen das Rohmaterial betriebswirtschaftlicher Prüfungen zu produzieren vermag. Ebenso begleitete den Datensatz ein verbindliches Klassifikationssystem für Einsätze und darauf aufbauend ein „Einsatzmittelvorschlag“ als automatisierte Entscheidungsunterstützung bei der Auswahl von Funkwagen. Die bereits seit 1994 mit einem Einsatzleitsystem ausgestattete Wiener Leitzentrale galt auch dem österreichischen Rechnungshof als Klassenprimus hinsichtlich der Effizienz der Zeit- und Einsatzmittelverwendung sowie ihrer Überprüfbarkeit. Denn die übrigen (damals) 89 österreichischen Polizeileitstellen im ländlich geprägten Alpenland waren weniger zentralisiert und konnten zum Zeitpunkt der Prüfung im Jahr 2010 schlicht nicht gemäß der ökonomischen Kriterien beurteilt werden – es fehlten vergleichbare Daten.
Die Einführung des digitalen Datensatzes ermöglichte also die Ver-messung und Neuorganisation des Alltags der Leitstellen. Die Technisierung und Standardisierung, die nicht selten von der Objektivitätsfiktion des Technischen begleitet wird, prägt dabei den polizeilichen Umgang mit Ereignissen, legt die Abläufe des Einsatzes aber keineswegs fest.[1] Vielmehr werden die Technologien mit polizeilichen Gebrauchsnormen verbunden, die die Art und Weise, wie Daten produziert und verbreitet werden, wie dokumentiert und wie von Funkwagen mit Einsatzaufforderungen umgegangen wird, ausrichten.
Die Reise des Einsatzblocks
Die Relevanz der Einsatzdatensätze im Polizeialltag verdeutlicht bereits ein Blick auf die Zahlen: In Österreich werden jährlich bis zu 2 Mio. Notrufe bearbeitet, die einzeln registriert werden. Ihre alltagsweltliche Bedeutung kristallisiert sich aber erst heraus, wenn wir sie auf ihrer Reise durch die Leitzentrale verfolgen. Die klassifizierten und klassifizierenden Datensätze sind mit singulären Einsätzen verknüpft. Die (Un)Sicherheitsform ‚Not‘ wird in den Klassifizierungsprozessen erst hervorgebracht durch polizeiliche Zeitfenster und -regulierungen, die Gefahrenereignisse unter anderem entlang ihrer Dringlichkeit hierarchisieren. Sie organisieren so die vielschichtigen Zeiten der Leitstelle, indem sie Identität und Differenz von Ereignissen festlegen, an denen sich der Alltag in der Leitstelle, aber auch der Alltag der Streifenwagen orientiert. Ebenso prägen sich die produzierten Daten in die alltäglichen Rhythmen und Geschwindigkeiten des Alltags und der Leitstellenkultur ein.
Die polizeilichen Kategorien nehmen eine sachliche Lageeinordnung vor, verorten die Ereignisse aber auch innerhalb einer Hierarchie der polizeilichen Einsatztypen. Lärmbelästigungen haben eine sehr geringe Priorität und können auch zurückgestellt werden, insofern die situative Einsatzmittelökonomie es verlangt. Ein Geisterfahrer oder eine aktuelle Körperverletzung erhalten hingegen hohe Prioritäten. Das bedeutet, dass ein Funkwagen etwa in der Großstadt Wien innerhalb von drei bis dreieinhalb Minuten vor Ort sein soll. Damit ist angedeutet, dass Zeit ein knappes Gut der Notrufleitstelle ist, das verwaltet werden muss.
Die meisten Datensätze beginnen ihre Reise am Telefon der „Aufforderer“ – einige werden von Alarmanlagen oder Polizist*innen im Streifendienst angestoßen. Egal ob Technik oder Mensch – beide melden Störungen des gesellschaftlichen Lebens. Bereits die Ankunft eines Notrufs in der Leitzentrale wird automatisch dokumentiert und mit einer ID versehen – die Stunde null des „Einsatzblocks“. Bis ein*e Polizist*in den Notruf zu Gesicht bekommt und die Anrufer*innen hört, wird die Telefonnummer entanonymisiert, sofern eine SIM-Karte eingelegt ist oder ein registrierter Festnetzanschluss genutzt wird. Wenn von den Beamt*innen „am Notruf“ (neuer: call taker) abgehoben wird, werden die Nummern automatisch in einen Einsatzblock eingefügt. Das folgende Notrufgespräch dient Polizist*in, Einsatzleitsystem und Anrufer*in dazu, den „Einsatzblock“ mit relevanten Informationen zu versehen. Die Eingabemaske legt dem Notrufgespräch über obligatorische Eintragungen bestimmte Themen nahe.[2] Ohne diese kann kein Einsatz ausgelöst werden. Die handelsüblichen Einsatzleitsysteme verlangen meist die Eingabe eines Ortes und die Vergabe eines „Stichworts“, das den Einsatz klassifiziert und ihn damit in ein Vergleichsverhältnis zu anderen setzt.
Für die Polizist*innen gilt die Regel: „Wir führen das Gespräch.“ Da Regeln und Regelbefolgung zweierlei Dinge sind, werden die Gespräche jedoch weder technisch determiniert, noch durch Ansprüche und Anweisungen zur Beherrschung der Gesprächsführung vorherbestimmt. Die Klassifizierung, ob es sich beim Notruf um eine polizeilich relevante Störung des gesellschaftlichen Lebens handelt, ist vielmehr durch Aushandlungen geprägt – bis hin zu Konflikten, in denen die „Aufforderer“ Ansprüche geltend machen, die polizeiliche Deutungsroutinen anfechten.
Die Datensätze können durch inhaltliche Notizen zum Gespräch ergänzt, Verdächtige beschrieben oder sonstige Hinweise eingetragen werden. Auf der Grundlage der Aussagen der Aufforderer*innen werden auch Bewertungen über die Anrufenden als einsatztaktisches Wissen weitergegeben, wie Sprachkenntnisse, Staatsangehörigkeiten oder Einschätzungen über den physischen oder psychischen Zustand von Personen. Entsprechende Ergänzungen zum Sachverhalt halten die Beamt*innen – als Vertreter*innen einer wesentlich schriftlich kommunizierenden, aber nicht sonderlich schriftaffinen Polizist*innenkultur – kurz und bündig. Die Gespräche und Eintragungen dauern selten mehr als 1,5 Minuten. Ist der Datensatz erst angelegt, erfolgt die Weiterleitung an „den Funk“.[3]
Die Zweiteilung der Notrufbearbeitung führt mit den Funker*innen (neuer: Disponent*innen) eine zusätzliche Instanz der Klassifizierung und Prüfung ein. Wie viele bürokratische Organisationen schreitet die Leitzentrale dabei berichtend voran. Die Funker*innen öffnen und lesen den Datensatz und entscheiden selbst oder mit dem standardisierten Einsatzmittelvorschlag, welche und wie viele Funkwagen sie entsenden. Zudem werden optionale und verpflichtende Maßnahmen vorgeschlagen. Wie und ob man mit den technischen Vorschlägen arbeitet, ist gleichsam eine Frage des Selbstverständnisses der Beamt*innen. Während der Vorschlag des Einsatzleitsystems als sichere Bank gilt, mit der individuelle Verantwortung und Kompetenz an das System delegiert werden kann, verteidigen andere Beamt*innen die selbstverantwortliche Entscheidung über die Einsatzmaßnahmen als Zeichen der Versiertheit und Möglichkeit insbesondere den Alltag der Kolleg*innen im Streifendienst durch eine nicht nur effiziente, sondern auch (zeit-)„gerechte“ Einsatzverteilung zu erleichtern.
In den meisten Fällen ist das Erstellen und Lesen des Datensatzes die einzige einsatzbezogene Kommunikationsform zwischen call-taker*innen und den Dispontent*innen. Bei besonderen Umständen, besonderer Dringlichkeit oder um nicht verschriftlichtes Wissen schnell weiterzugeben, rufen Beamt*innen sich Einsatzinformationen zu oder gehen durch den Raum und weisen die Funker*innen auf entsprechende Aspekte hin.
Die Disponent*innen delegieren den Einsatz nun an die Funkwagen. Entscheidend ist dabei zunächst der Ort des Ereignisses und dessen Position in einem Raster von Zuständigkeiten der Polizeiinspektionen. Im Falle hoher Priorität, Komplexität oder zur ‚Eigensicherung‘ werden auch mehrere Einsatzwagen aus dem jeweiligen Funkkreis beordert bzw. Zusatzkräfte angewiesen. Wenn ein Einsatz den Funkwagen via Sprechfunk zugeteilt wird, sendet das Einsatzleitsystem automatisch einen Teil des Einsatzblocks an die Funkwagen. So vermitteln die Beamt*innen Lagewissen über den Einsatzort, die Telefonnummer der Aufforderer*innen, die Einordnung in das Klassifikationssystem sowie weitere nicht standardisierte Informationen. Der Versand und die Annahme des Datensatzes werden gespeichert und sind Gegenstand späterer Routineprüfungen. Die Funkwagen klassifizieren den Einsatz wiederum und entscheiden zum Beispiel in vielen Situationen selbst, ob mit oder ohne Blaulicht zum Einsatzort gefahren wird.
In der Leitstelle wird der Datensatz Bestandteil einer Liste aktueller Einsätze. Der Datensatz, der zuvor als Eingabeformular für das Notrufgespräch fungierte und danach als Handlungsaufforderung für die Funker*innen und Streifenwagen, wechselt nun wieder seine praktische Rolle. Er ist nun vorrangig Einsatzprotokoll. An dieser Bearbeitungsform des Datensatzes ist das Einsatzleitsystem aktiv beteiligt, indem es automatisiert Prozessdaten hinzufügt, wie z. B. Ankunftszeiten von Funkwagen an Einsatzorten und aufgezeichnete Funksprüche. So ist auch das Protokollieren keine rein menschliche Praktik. Die Funker*innen notieren im Protokoll Funksprüche, Anordnungen (z. B. Anlegen von Schutzwesten) sowie mündliche Abschlussberichte der Funkwagen, wenn diese den Einsatzort verlassen. Am Ende der Funkwagenschicht wird nochmals ein eigener Bericht angefertigt.
Das Protokollieren formalisiert die mit Bewertungen des Einsatzes verbundenen Funksprüche. Sie werden übersetzt und ‚in Form‘ gebracht. Das Protokollierte ist gerichtsfest und kann nicht modifiziert werden. Vor dem Einsatzabschluss sollen die Funker*innen ebenfalls prüfen, ob die von ihnen eingesetzten „Einsatzmittel“ (Funkwagen, Sonderkräfte usw.) der initialen Klassifizierung des Einsatzes entsprechen, ob sie also entsprechend der Prognose der Beamt*innen am Notruf gehaushaltet haben. Ist dies nicht der Fall, soll eine Re-Klassifizierung entsprechend der tatsächlichen Ökonomie des Einsatzes erfolgen.
Wenn Funkwagen und Funker*innen den Einsatz abschließen, wird der Datensatz an dienstführende Beamt*innen versandt, die mit der Prüfung der Einsatzbearbeitung in erster Instanz beauftragt sind. Die Klassifizierungen in vorherigen Prozessschritten sind dabei entscheidende Anhaltspunkte, wie eingehend die Überprüfung stattfindet. Geringpriorisierte Einsätze, wie Lärmbelästigungen oder „Verparkungen“, werden im Gegensatz zu Einsätzen höchster Priorität weniger eingehend kontrolliert. Eine letzte zeitnahe Prüfung der als prüfrelevant erachteten Einsätze übernimmt eine*n Vertreter*in des Polizeipräsidenten.
Danach wird der Datensatz mit Aufzeichnungen des Notrufgesprächs archiviert. Er kann zur Grundlage der Überprüfung von Beschwerden werden. Die in den letzten Jahren in Österreich angestrengten Gerichtsprozesse gegen Notrufbeamt*innen reklamierten etwa, dass zu spät oder gar nicht auf Notrufe reagiert wurde. Beschwerden gibt es aber auch gegen die rigorose Gesprächsführung am Notruf. Laut den Beamt*innen hat dies aber selten umfangreichere Folgen.
Not macht nicht alle gleich
Während in vielen solcher Fälle wissenschaftlich, wie auch vor Gericht situative Dynamiken und Kommunikationsprobleme geltend gemacht werden, produziert die Erstellung von Einsätzen gleichsam ihre eigenen wiederkehrenden Normalitäten und Marginalisierungen. Einerseits merken Beamt*innen an, dass sie betrunkene Personen oft nicht verstehen können,[4] mitunter werden Anrufer*innen psychische Störungen zugeschrieben, die die Ernsthaftigkeit ihrer Aufforderung infrage stellen. Besonders bedeutsam für den Alltag der Beamt*innen ist andererseits, dass sie kaum eine Möglichkeit sehen, einen Notruf zu bearbeiten, der nicht auf Deutsch oder Englisch vorgebracht wird. Es wäre jedoch zu einfach, diese Problematik der Notrufgespräche auf die Kompetenzen oder gar einen Unwillen der Beamt*innen zu reduzieren. Vielmehr zieht die gegenwärtige soziale und technische Konfiguration der Notrufbearbeitung eine Exklusionslinie entlang der Sprachkenntnisse der Beamt*innen. Diese Grenzziehung geht aus den dominanten Relevanzsetzungen der privat-öffentlich organisierten Sicherheitsproduktion hervor. Ihr Fokus auf Geschwindigkeit, Zeit- und Kosteneffizienz sowie Eigensicherung konstituiert einen Normalanwendungsbereich von Polizeitechnologien, der den Alltag der Notrufbearbeitung und den Anforderungen an die Verfügbarkeit der Sicherheitsproduktion in den europäischen Migrationsgesellschaften kaum mehr entspricht. Dies spiegelt sich in den Diskursen und Entwicklungspraktiken der führenden Technologiehersteller*innen wider, wie sie auf den zentralen Technologiemessen beobachtbar werden. Auf dem Technologiemarkt des Sicherheitssektors sind etwa praktikable Übersetzungssoftwares noch immer genauso peripher wie Technologien, die den Grundrechtsschutz in polizeilichen Praktiken explizit regulieren wollen. Es geht daher letztlich um die Perspektive, die die Sicherheitsproduktion einnimmt: Geht es um eine effiziente security für die Normalbevölkerung und die Bekämpfung immer wieder gleicher ‚Anderer‘ oder um safety for all, wie dies soziale Bewegungen auch in Österreich in den letzten Jahren wiederholt forderten?