Literatur

Zum Schwerpunkt

Die fortgeschrittenen Technologien der Grenzkontrollen scheinen in mehrfacher Hinsicht entfernt. Das klassische Bild einer physisch gesicherten und nur an Kontrollstellen durchlässigen Grenze ist für Europäer*innen erst an den Schengen-Außengrenzen erfahrbar. Werden diese in ihrem teilweise und zunehmend befestigten Formen in den Blick genommen, so sehen wir regelmäßig nur die durch Zäune, Mauern, Gräben, Wachtürmen errichteten Grenzen. Kaum bis gar nicht wahrnehmbar sind hingegen die mit den Potenzialen der Digitalisierung aufgerüsteten Formen der Überwachung des Grenzraums, der Kontrolle von Einreisewilligen sowie der präventiven Durchleuchtung der Grenzgeschehens. Der Wandel staatlicher Grenzen seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ist verbunden mit der Etablierung neuer Grenzkontrolltechnologien. Wer letztere verstehen will, muss zugleich in Rechnung stellen, dass Funktionen, Formen und Orte von (staatlichen) Grenzen sich verändert haben.

Mit der Europäisierung des Außengrenzgeschehens hängt vermutlich zusammen, dass zu diesem Thema nur wenige Text in Deutsch vorliegen. Wir geben im Folgenden eher Hinweise auf wenige leicht oder kostenlos zugängliche Veröffentlichungen, die einen exemplarischen Zugang zum Thema ermöglichen. Damit werden wir weder der umfänglichen Diskussion über den Form- und Bedeutungswandel von Grenzen gerecht, noch den vielfältigen zivilgesellschaftlichen Initiativen, die kritische Öffentlichkeit herstellen, Protest und Solidarität mit durch Grenzen Ausgeschlossenen praktizieren. In den Beiträgen des Schwerpunktes finden sich entsprechende Hinweise.

Mau, Steffen: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenzen im 21. Jahrhundert, München 2021

Das Buch ist eine Pflichtlektüre für diejenigen, die den Kontext der neuen (staatlichen) Grenzen und deren technologische Basis verstehen wollen. Es ist eine der wenigen einschlägigen Veröffentlichungen in deutscher Sprache.  Mau beginnt mit der Klarstellung eines Missverständnisses: Wer glaubte, Globalisierung sei gleichbedeutend mit der Abschaffung von Grenz(kontroll)en, der/die irrte von Anfang an. Umgekehrt, so Mau, macht die Globalisierung andere, aber intensivierte Grenzen erforderlich. Denn nur so kann gewährleistet werden, dass in den globalisierten Strömen nur die ins Land kommen, die erwünscht sind. Dass darin die Funktion der neuen Grenzen liegt, das sagt bereits der Titel: Als „Sortiermaschinen“ gewährleisten sie unaufwändige Grenzüberschreitungen der Privilegierten, die Kontrolle der legal Einreisenden und das Fernhalten der Unerwünschten. Fußend auf seinen Forschungen zu den nationalen Grenzen im globalen Kontext unterscheidet Mau verschiedene Grenztypen. Die modernen Detektions- und Überwachungstechnologien ersetzen oder erweitern das Arsenal „fortifizierter“ (also mit physischen Barrieren geschützte) Grenzen, indem sie gleichzeitig deren permanente Überwachung mit wenig Personaleinsatz und die zielgenaue Identifikation von Personen erlauben. Für die neuen Grenzen sind laut Mau vier Merkmale kennzeichnend: Menschliche Mobilität wird als Sicherheitsproblem wahrgenommen, der Kontrollraum verschiebt sich von der Grenzlinie nach innen wie nach außen, die Grenzarrangements realisieren ein System gestufter Mobilitäts- und Freiheitsrechte, und sie sind schließlich Ausdruck einer globalen hierarchischen Ordnung.

Huber, Georg Johannes: Power, policies, and algorithms – technologies of surveillance in the European border surveillance regime, Karlsruhe 2022, www.ksp.kit.edu/site/books/10.5445/KSP/1000129465/download/8720

In der zuvor vorgestellten informativen und überzeugenden Analyse Mais erscheinen die Grenzen des 21. Jahrhunderts als ein quasi zwangsläufiges Produkt von ebenso zwangsläufigen Globalisierungsprozessen. In Hubers Untersuchung, seine politikwissenschaftliche Dissertation von 2020, ist der Gegenstand einerseits begrenzter (auf das EU-Grenzregime), andererseits aber weiter, indem er auch darauf schaut, welche Akteur*innen, Gruppen und Institutionen den Aus- und Umbau der Grenzen betreiben. Im Anschluss an die Darstellung der zeitgeschichtlichen Entwicklung der Europäischen Grenzpolitik und einem theoretischen Zwischenkapitel werden auf 40 Seiten die „digitalen Wände“ und die mit Algorithmen programmierten Grenzübergänge vorgestellt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Ausbau der diversen (grenz-)polizeilichen Datenbanken – vom Schengener Informationssystem bis zum Reiseinformationssystem ETIAS – und der Darstellung von Eurosur. Auch wenn die technischen Details nicht erläutert werden, das Zwischenfazit ist eindeutig: die Grenzüberwachung sei „teilweise automatisiert, teilweise biometrisch ausgerichtet, ein auf Big Data beruhendes System der Massenüberwachung, mit einer zunehmenden Tendenz, präventiv intendierte Prognosen anhand mathematischer Verfahren zu erstellen“. Im Anschluss an die Arbeiten von Statewatch und Ben Hayes wird auf die Existenz eines Netzwerks aus EU-Agenturen, Regierungen der Mitgliedstaaten, Sicherheitsbehörden und Rüstungsindustrie, hingewiesen, das im Gleichklang ihrer Interessen die Einführung der modernen Grenzüberwachungstechnologien betreibt.

Akghar, Babak; Kavellieros, Dimitrios; Sdongos, Evangelos (Hg.): Technology Developement for Security Praktioners, Cham 2022, https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/978-3-030-69460-9.pdf

Einen Einblick in die Werkstätten den Sicherheits-Technokraten gewährt dieses Werk. Neben den anderen Anwendungsfeldern (Cybercrime, Organisierte Kriminalität, Kritische Infrastrukturen und Krisenbewältigung) wird die Grenzsicherheit in sechs Beiträgen auf 100 Seiten abgehandelt. Vorgestellt werden verschiedene Projekte: TRESSPASS verspricht ein „innovatives Konzept“ hin zu einem risikobasierten Ansatz des Grenzmanagements. Dazu werden Daten unterschiedlichster Quellen – Gepäckverfolgung, Bewegungsüberwachung, Web-Analysen, Kontrollpraktiken – mit Dritt- und Nachbarstaaten ausgetauscht, schließlich re-personalisiert und einem Sicherheitslevel zugeordnet. EWISA, ein Projekt der Grenzschutzbehörden Griechenlands, Finnlands, Spaniens und Rumäniens, hatte zum Ziel, Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit der Grenzbehörden angesichts von Bedrohungen zu steigern. Das System basiert auf einer Überwachung per Video, Radar und Sensoren, die schließlich zusammengeführt und ausgewertet werden. Die Ergebnisse in den vier Studienregionen fassen die Autoren folgendermaßen zusammen: Die entwickelten Technologien erzeugten einen außergewöhnlichen zusätzlichen Wert für die Überwachung der Grenzen.“ In den weiteren Beiträgen wird der Einsatz von Drohen in Schwarmformation, das Projekt FOLDOUT – ein gestuftes System der Grenzüberwachung von Satelliten bis zu verschiedenen Sensoren an Land –, das Netzwerk von Sicherheitsagenturen aus Mittelmeer- und Schwarzmeerstaaten MEDEA sowie das Projekt ANDROMEDA vorgestellt. Kennzeichnend für die Lage ist, dass die zuerst genannten Beiträge ihren technischen Horizont an keiner Stelle überschreiten, während es einem gesonderten Vorhaben überlassen bleibt, die rechtlichen und ethischen Aspekte der Grenzüberwachungstechnologien zu erörtern. ANDROMEDA tut dies am Beispiel der Überwachung der Seegrenzen. Das Fazit ist eindeutig: Sichtbar wurden mehrere Konflikte mit den rechtlichen Grundlagen, mit den international verbürgten Menschenrechten, mit anerkannten ethischen Prinzipien und dem internationalen Flüchtlingsrecht, „insbesondere im Hinblick auf das Recht auf Privatheit, auf den personenbezogenen Datenschutz und den non-refoulement-Grundsatz“. Derartige Konflikte könnten nur vermieden werden, wenn diese Aspekte bereits in der Entwicklung der Technologien und des Einsatz-Designs berücksichtigt würden.

Border Violence Monitoring Network: EU Member States‘ use of new technologies in enforced disappearances, 2023, https://borderviolence.eu/app/uploads/Input-for-the-thematic-study-on-new-technologies-and-enforced-disappearances_version-2.pdf

Exemplarisch für die realen Auswirkungen technisierter Außengrenzen steht diese Publikation des Border Violence Monitoring Network, eines Zusammenschlusses verschiedener NGOs, das Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen dokumentieren und Gewalt gegen Migrant*innen stoppen will. Der aktuelle Bericht stellt eine Stellungnahme für die UN-Arbeitsgruppe zum „erzwungenen Verschwindenlassen“ dar. Das Netzwerk hat Belege für Verhaftung, Festsetzung oder Zurückschiebung von fast 25.000 Personen seit 2017 gesammelt. Drohnen waren demnach an den Pushbacks von über 1.000 Personen beteiligt. Im Anhang werden 48 derartiger Einsätze mit genauen Daten aufgelistet.

Aizeki, Mizue; Bingham, Laura; Narváez, Santiago: The Everywehere Border. Digital Migration Control Infrastructure in the Americas, tni v. 14.2.2023, www.tni.org/en/article/the-everywhere-border

Dieser Beitrag beleuchtet beispielhaft, dass die technologiegestützte Abschottung keine europäische Spezialität ist. Er zeigt, wie die Südgrenze der USA weit in die Nachbarstaaten vorverlegt wird. Ermöglicht werde dies durch eine „digitale Infrastruktur, die auf den Erzeugnissen der Rüstungsindustrie und den Innovationen aus dem Silicon Valley beruht“: interoperable Datenbestände tauschen Fingerabdrücke zwischen den nationalen Polizeibehörden aus, biometrische Daten werden von mexikanischen Behörden an die der USA weitergegeben, Soziale Medien und Apps werden ebenso zu Überwachungstools für die Polizei wie Identifizierungssysteme, die eigentlich den Zugang zu Hilfen gewährleisten sollen.

Aus dem Netz

https://migration-control.info

Der Fokus dieses Portals ist weniger die technische Aufrüstung der europäischen Außengrenzen, sondern deren Vorverlagerung (Externalisierung). In Fortsetzung eines ehemals von der taz betriebenen Projekts liegt der Schwerpunkt in der Dokumentation des Ausmaßes der Externalisierungspolitik und der Folgen in den Herkunfts- und Transitländern des afrikanischen Kontinents.

Migration-control beschreibt sich selbst als „ein transnationales Netzwerk aus antirassistischen Aktivist*innen, Journalist*innen, Übersetzer*innen und Forscher*innen“. Dreizehn selbst wieder international aufgestellte Initiativen aus europäischen Ländern werden als Kooperationspartner aufgeführt. Durch die Links zu deren Homepages eröffnet die Seite einen Zugang zur zivilgesellschaftlichen Kritik an der Festung Europa und deren Ausbau.

Die (teilweise in vier Sprachen angebotenen) Informationen der Seite sind über die drei Kategorien „Wiki“, „Blog“ und „Archiv“ gegliedert. Das „MigWiki“ – systematisch und alphabetisch aufrufbar – enthält einerseits ausführliche Darstellung zentraler Begriffe und Institutionen, andererseits bietet es den Zugang zu länderbezogenen Veröffentlichungen. Im „Blog“ werden aktuelle Nachrichten, Kommentare etc. eingestellt; seit gut zwei Jahren gibt es dort eine monatliche Zusammenfassung aktueller Artikel und Berichte. Im Blog kann anhand von acht Kategorien die Suche thematisch eingegrenzt werden. Das englischsprachige „Archiv“ enthält die Sammlung weitergehender Analysen und Berichte, die nach inhaltlichen Schwerpunkten (von „Criminalization of Borderwork“ bis „Sea Rescue Operations“) geordnet sind.

Die Archiv-Suche unter „Border Surveillance Technology & Industry“ ergibt 76 Treffer (März 2023). Zwar sind viele der angebotenen Links nicht mehr aktuell, die Kurz-Infos zu den Berichten führen dann aber doch zu interessanten Dokumenten: etwa der Bericht von migreurop vom Dezember 2020 („Data and New Technologies, the Hidden Face of Mobility Control“) oder Petra Molnars Abhandlung zu den Technologien der Migrationskontrolle („Technological Testing Grounds“, 2020) oder das (als vertraulich eingestufte) gemeinsame Lagebild von Frontex und Europol zur Bedeutung von Apps und digitalen Medien für das „migrant smuggling“. (alle: Norbert Pütter)

Neuerscheinungen

Thüne, Martin; Klaas, Kathrin; Feltes, Thomas (Hg.): Digitale Polizei. Einsatzfelder, Potentiale, Grenzen und Missstände, Frankfurt (Verlag für Polizeiwissenschaft) 2022, 353 S., 32,90 Euro

Der Band gibt einen guten Einstieg in das Thema „Digitale Polizei“ und einen gelungenen Überblick über die aktuell zentralen Themen im Feld: das erste Kapitel behandelt „Grundüberlegungen“ zur Annäherung, eröffnet von einem eher launig-anekdotischen Beitrag von Thomas Feltes aus über 40 Jahren Feldforschung in der Polizei. Vor allem der Beitrag von Jo Reichertz und Sylvia Marlene Wilz beleuchtet die Änderungen, die die Digitalisierung für die Arbeit in der Polizei hat – von der Mail-Kommunikation über das vermehrt in Datenbanken und zugehörigen Anwendungen zu findende polizeiliche Wissen bis hin zur notwendigen Entwicklung dieser polizeilichen Arbeitswerkzeuge durch private Firmen. Ein zentrales Thema ist dabei die Zurückdrängung von informeller Arbeitskooperation innerhalb der Polizei, die mit traditionellen Werten wie Zusammengehörigkeit und Loyalität zur Organisation in Konflikt geraten kann. Eine Beobachtung, die für die gesamte Arbeitswelt der Büroangestellten gilt, findet sich auch hier wieder. Weitergabe von Wissen, Austausch mit erfahrenen Kolleg*innen, gemeinsame Reflexion von Erfahrungen und Arbeitsergebnissen hatten ihren Ort in der „Teeküche“. Doch die Arbeit in einem Kommissariat heute, so berichten Reichertz und Wilz aus einer empirischen Studie, die sie 2018 bis 2020 durchgeführt haben, findet ihren Takt vor allem durch die Mail-Kommunikation: alle leben in dem Gefühl, Mails innerhalb weniger Minuten bearbeiten zu müssen, bei Problemen werden Verteiler möglichst groß gezogen, um Verantwortung abgeben zu können („Melden macht frei“). Informationen werden nur noch in kleiner Runde, „zwischen Tür und Angel“, weitergegeben und damit aber wird zugleich – hier in gegenläufiger Tendenz zur festgestellten Zurückdrängung des Informellen – ein neuer, verkleinerter Raum geschaffen, in dem Praxiswissen erarbeitet und weitergegeben werden kann.

Hierzu findet sich im zweiten Kapitel zum Thema „Algorithmenbasierte Arbeit Konzepte polizeilicher Arbeit“ weitere Vertiefungen unter anderem in dem lesenswerten Beitrag von Kai Seidensticker und Felix Bode „Predictive Policing und die Gefahr der Abstraktion von Polizeiarbeit“. Sie führen dort den Begriff der „Abstraktion und Dekontextualisierung“ von Polizeiarbeit ein: durch „predictive policing“ und „intelligence-led policing“ werde Polizeiarbeit durch eine Form der Informationsverarbeitung und der Generierung neuer Ermittlungsansätze gesteuert, die schon aufgrund mangelnder Kompetenzen in der Polizei nicht verstanden und nachvollzogen werden könnten – obwohl die Anwendung des so generierten „Wissens“ „auf der Straße“ mit polizeilichen Grundrechtseingriffen einhergehen könne. Zugleich sehen sie hierin auch ein Potential, Polizeiarbeit transparenter und objektiver zu machen, etwa weil der vorurteilsbelasteten Konstruktion polizeilichen „Wissens“ in einzelnen Räumen der Stadt mithilfe von umfassender Datenaufbereitung entgegengewirkt werden könne – unter der Voraussetzung, dass es ausreichend digitale Expertise und Reflexionsfähigkeit gibt. Deutlich wird, dass Seidensticker und Bode unter dem Schlagwort der „holistischen Polizeiarbeit“ („holistic policing“) eine stärker informations- und raumbasierte Polizeiarbeit befürworten, die gleichzeitig einer „weiteren Distanzierung“ der Bevölkerung von der Polizei entgegenwirken solle. Hier ist der Beitrag von Simon Egbert zur „Digitalisierung als Präpressionstreiber“ im selben Kapital schon deutlich kritischer und vermutlich realitätsnäher. Martin Thüne schließt das Kapitel mit einem Rundumblick zum Einsatz „Künstlicher Intelligenz“ in der Polizei ab.

Die beiden weiteren Kapitel des Bandes widmen sich der „Polizei in sozialen Netzwerken“ und der „Digitalisierung der polizeilichen Einsatz- und Ermittlungsarbeit“. Im Eröffnungsbeitrag zu ersterem gehen Caren Stegelmann und Tabea Louis unter dem Titel „Teilen und Herrschen: zur Polizierung des Sicherheitsgefühls und der ‚guten Ordnung‘ in der Timeline“ unter anderem der These nach, dass die sozialen Medien eine Rückkehr zur Vorstellungen der Polizey im 18. Jahrhundert befördern, als „einer produktiven Ordnungsinstanz, die sich für gesellschaftliche Vorgänge ganz allgemein zuständig fühlt und stimulierend, nicht nur repressiv, … Einfluss nehmen möchte.“ (S. 164). Die Mechanismen zur Herstellung einer emotional-affirmativen Haltung in der Bevölkerung hierzu stellt unter anderem Ben Hundertmark vor (vgl. auch seinen Beitrag in CILIP 128). Das letzte Kapitel widmet sich in der Betrachtung des Einsatzes von Kameras und Body-Cams sowie der polizeilichen Datenverarbeitung eher „klassischen“ Themen der bürgerrechtlichen Kritik an der Polizei, die allerdings in einem solchen Band nicht fehlen dürfen. (Dirk Burczyk)

Richart, Laurent; Rigaud, Sandrine: Die Akte Pegasus. Wie die Spionagesoftware Privatsphäre, Pressefreiheit und Demokratie attackiert, München (Droemer) 2023, 415 S., 22,00 Euro

Am 18. Juli 2021 veröffentlichten siebzehn Medien aus zehn Ländern auf drei Kontinenten nahezu zeitgleich und inhaltlich abgestimmt Berichte, in denen aufgedeckt wurde, dass mit der Software „Pegasus“ in vielen Ländern der Welt Journalist*innen, politische Aktivist*innen und Oppositionelle ausgeforscht wurden. Das von der israelischen Firma NSO entwickelte und weltweit vertriebene Werkzeug zum Ausspionieren von und mithilfe von Mobiltelefonen war öffentlich bereits seit 2011 bekannt. Die Herstellerfirma preist Pegasus als wirksames Instrument zur Aufdeckung von Terrorismus und schwerer Kriminalität. Es werde nur an Regierung demokratischer Staaten verkauft; sein Export sei zudem an eine Lizensierung durch das israelische Verteidigungsministerium verbunden.

Bereits vor 2021 gab es Vermutungen, dass die Software auch in eher diktatorisch als demokratisch regierten Staaten genutzt und gegen Regimekritiker*innen eingesetzt wird. Aber erst als ein Whistleblower eine Liste mit über 50.000 Handynummern an Journalist*innen weitergab, konnte die Vermutung bestätigt werden. Laurent Richard und Sandrine Rigaud schildern in ihrem Buch den langen und aufwändigen Weg, der vom Erhalt der Liste bis zur Publikation im Juli 2021 führte. Es handelt sich um den Bericht der zentralen Personen eines internationalen Geflechts aus investigativen Journalist*innen und den IT-Spezialisten des Security Labs von Amnesty International („Pegasus Project“). Den journalistischen Kern stellte dabei der Zusammenschluss „Forbidden Storys“ dar, der 2016 bereits die „Panama Papers“ veröffentlicht und 2020 mit dem „Cartel Project“ die Drogenkartelle in Mexiko unter die Lupe genommen hatte. Beeindruckend an dem vorliegenden Buch ist der personelle, technische und logistische Aufwand, der betrieben werden musste, um Pegasus als ein mächtiges Instrument zur Verfolgung Oppositioneller (besonders Journalist*innen) zu entlarven. Interessant an der Darstellung sind auch die vielen nationalen Kontexte, die in die Darstellung eingebunden werden: Ob in Mexiko oder Aserbeidschan, ob in Marokko oder in den Golfstaaten, bei der Suche nach Überwachungsspuren wird immer der politischen Kontext erläutert, warum eine bestimmte Person hätte ausgeforscht werden können. Quasi nebenbei liefert das Buch Kurzbiografien vieler aufrechter Journalist*innen, die ihre Arbeit mit staatlicher Überwachung, mit Gefängnis oder mit dem Tod bezahlen mussten.

Die 50.000er-Liste aus dem Hause NSO bildete den Ausgangspunkt der Recherchen. In einem ersten Schritt mussten den Handy-Nummern Namen zu geordnet werden. Gelang das, hatte man potentielle Pegasus-Zielpersonen. Im zweiten Schritt mussten dann deren Handys untersucht werden: Ließen sich Angriffsversuche nachweisen, ließen sich erfolgreiche Angriffe oder der Abfluss von Informationen nachweisen. Dabei kämpfte das Team mit einer ständig verbesserten Software, die schließlich in der Lage war, Spuren ihres eigenen Eindringens in das Gerät zu verwischen. Gelingt der Eingriff in das Gerät, dann haben die Überwachenden nicht nur Zugriff auf alle Daten (Chats, SMS, Fotos, Kontakte etc.), sondern Kamera und Mikrofon können unbemerkt aus der Ferne eingeschaltet werden. Das Buch schildert minutiös, welche Vorkehrungen getroffen werden mussten, um nicht selbst von Pegasus überwacht und durch Gegenmaßnahmen von PSO behindert zu werden.

Wer hingegen in der „Akte Pegasus“ erhofft, was eine „Akte“ verspricht, wird enttäuscht werden. Das Buch handelt von der interessanten Arbeit des „Pegasus Projekts“, aber viel zu wenig und zu unsystematisch von der Überwachungspraxis durch Pegasus. Es fehlt eine konkretisierte Übersicht über die Zahl der Personen zugeordneten Telefonnummern, der nachgewiesenen Angriffsversuche und Überwachungen. Derartige Angaben finden sich an verstreuten Stellen des Buches oder sie müssen in den Veröffentlichungen der beteiligten Medien nachgesucht werden. Aber selbst eine Übersicht über die wichtigsten Pegasus-Publikationen der beteiligten Journalist*innen fehlt. Zwar wird aus vielen Quellen zitiert, aber keine einzige wird so konkret benannt, dass sie für Leser*innen nachprüfbar wäre. So bleibt es eine interessante Geschichte über die Arbeitsweise investigativen Journalismus‘ in Zeiten maximaler Überwachung.

Bedauerlich an der „Akte Pegasus“ ist zudem, dass an keiner Stelle die regierungsamtlich-legale Überwachung infrage gestellt wird. Pegasus wurde immerhin in 45 Länder geliefert (auch nach Deutschland an das Bundeskriminalamt und den Bundesnachrichtendienst). Angeblich im Kampf gegen Terror und schwere Kriminalität. Auch hier – und nicht nur gegen Journalist*innen und Oppositionelle in diktatorischen Regimen – attackiert Pegasus „Privatsphäre … und Demokratie“ (Untertitel). Erst wenn in Rechnung gestellt wird, das Terror und schwere Kriminalität unscharfe, bedeutungsoffene Begriffe sind, dass es regelmäßig um das präventive Eindringen in verdächtigte Szenen geht, erst dann würde das volle Ausmaß der Pegasus-Bedrohung deutlich werden. Das fehlt im vorliegenden Band – leider.                                                        (Norbert Pütter)

Richter, Frank-Arno (Hg.): Phänomen Clankriminalität. Grundlagen – Bekämpfungsstrategien – Perspektiven. Stuttgart u.a. (Richard Boorberg Verlag) 2022, 310 S., 38,00 Euro

Erst nach Herausgabe des CILIP-Schwerpunktes zur Clankriminalität erschien der von dem Essener Polizeipräsident Frank Richter herausgegebene Sammelband über das „Phänomen Clankriminalität“. Recht offensiv bewirbt der Boorberg-Verlag seine als Pflichtlektüre und praxisorientierter Leitfaden deklarierte Neuerscheinung; im Verlagsflyer ist von einem kompetenten Autorenteam die Rede, das „neue Wege zur Bekämpfung der Clankriminalität“ vermittelt. Hinsichtlich der Stoßrichtung der Publikation gibt der Flyer eine klare Richtung vor, wenn mehrmals von der „Bekämpfung der Clankriminalität“ und der Ankündigung eines strafrechtlichen Verfolgungskonzeptes die Rede ist. Der Band beinhaltet neben dem Vorwort des Herausgebers und einem Geleitwort seines Dienstherrn, des NRW-Innenministers Herbert Reul, elf Beiträge. Ein Autoren- und ein Stichwortverzeichnis runden das Werk ab.

In der Gesamtbetrachtung kann der Sammelband in mehrfacher Hinsicht nicht überzeugen. Auf der einen Seite scheitert er an seinem eigenen Anspruch, denn das Buch eignet sich weder als Pflichtlektüre noch als Leitfaden. Wer die angekündigten neuen Wege zur Bekämpfung der Clankriminalität sucht, wird nicht fündig werden. Die Aufsatzsammlung weist zudem eine geringe kriminologische Reflexionstiefe auf. Aus einer vornehmlich polizeilichen Perspektive werden die üblichen Stichwörter bedient, die bislang bereits zur kriminalpolitischen Skandalisierung herangezogen wurden. Dazu zählt beispielsweise der vornehmliche Rekurs auf die Organisierte Kriminalität (OK), der sich in diesem Umfang in den polizeilichen Lagebildern nicht wiederfindet. Die anzutreffende Einbeziehung der italienischen OK in den Clan-Diskurs lässt zudem vermuten, dass die OK-Bekämpfung der Polizei neue kriminalpolitische Impulse benötigt. Bemerkenswert ist des Weiteren die geringe kultur-, politik- und verwaltungswissenschaftliche Perspektive. Beispiele: Die als weltweite Einmaligkeit bezeichnete Endogamie ist bereits im europäischen Adel anzutreffen – und damit direkt vor unserer Haustür. Literatur, die das Vorhandensein der wiederkehrend behaupteten Parallelgesellschaft kritisch reflektiert, fehlt. Die skandalisierte Verweigerung von Aussagen gegenüber der Polizei durch Familienmitglieder beschreibt schlichtweg das strafprozessuale Recht zur Zeugnisverweigerung. In vielen Clanfamilien soll häusliche Gewalt intern geregelt werden und nicht – wie „nach deutscher Rechtslage“ – mit Erstattung einer Strafanzeige. Dass in bio-deutschen Familien eine Strafanzeige auch nicht üblich ist, zeigt der Blick in vorliegende Dunkelfeldstudien. Ebenso wenig überzeugen die oberflächlichen migrationsrechtlichen Ausführungen, die bei Wendt und Kromberg anzutreffen sind, wobei Kromberg, Beigeordneter der Stadt Essen, auf rund 10 von 24 Seiten zum Teil mehrseitige Zitate aneinanderreiht.

Die Ankündigung eines kompetenten Autorenteams erweist sich fast durchgängig als zu hoch gegriffen, denn es fällt schwer, hier „ausgewiesene Kenner der kriminellen Clanszene“ auszumachen. Am ehesten überzeugt der Beitrag von Arndt Sinn, der sich lehrbuchhaft mit der Anwendbarkeit des § 129 StGB auf Aspekte der Clankriminalität befasst. Redaktionell ist die mangelnde Abstimmung innerhalb der Beiträge zu beanstanden. So beschreibt die Mehrzahl der Autorenschaft das Definitionsproblem bzw. nimmt zum Teil umfangreich Bezug auf vorliegende Definitionen zur Clankriminalität. Die nach Redaktionsschluss getroffene Verständigung auf eine bundeseinheitliche Definition hat es nur noch in zwei Beiträge geschafft. Verlagsseitig ist die uneinheitliche Zitierweise sowie das mäßige Stichwortverzeichnis zu kritisieren. Dass etwa der Begriff „Clankriminalität“ mit den Einträgen „Begriff der Clankriminalität“ und „Clan-Begriff“ doppelt genannt ist, hätte im Lektorat auffallen sollen. Ein einheitliches Literaturverzeichnis hätte sich schon deshalb angeboten, da es etliche Redundanzen bei den verwendeten Quellen gibt. Analog zu vergleichbaren Publikationen zur Clankriminalität werden auch hier umfangreich Zeitungsartikel zitiert bzw. Aufsätze der üblichen Verdächtigen.

Der Sammelband kann nur in geringem Maß Fundiertes zu „Grundlagen – Bekämpfungsstrategien – Perspektiven“ beitragen. Der Anspruch des Herausgebers, Wissenschaft und Praxis zusammenzuführen, scheitert durch die geringe wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Untersuchungsgegenstand. Wer zudem Argumente gegen die proklamierte Akademisierung der Polizei sucht, wird bei den Aufsätzen der Polizeipraktiker*innen fündig werden. Die teils problematischen kriminologischen Kompetenzen von Polizeischüler*innen bzw. -studierenden werden durch die Mängel in diesem „Leitfaden“ eher verstärkt, statt sie im Rahmen der Ausbildung fundiert zu verringern. Der polizeilich geprägte Sammelband ist vor diesem Hintergrund nicht zu empfehlen. In Fortschreibung der 2020 erschienenen Broschüre der Essener Polizei über „Arabische Familienclans“ lässt sich das Buch am ehesten noch als Werbung für die Politik der 1.000 Nadelstiche betrachten. (Karsten Lauber)

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