Zwischen Alltagskriminalität und Feindstrafrecht – „Clankriminalität“ in der Praxis der Strafverfolgung

Interview mit Ulrich von Klinggräff

Der Berliner Rechtsanwalt Ulrich von Klinggräff ist seit Jahrzehnten als Strafverteidiger tätig und vertritt dabei immer wieder auch Mandanten, die von Justiz, Politik und Medien sog. „Clans“ zugerechnet werden. Das Interview führte Benjamin Derin. 

„Clankriminalität“ ist derzeit in aller Munde, und man könnte den Eindruck gewinnen, die Kriminalitätslandschaft in deutschen Großstädten bestünde nur noch aus diesem Bereich – welche Rolle spielt das Phänomen aus Einschätzung eines Strafverteidigers im Alltag tatsächlich?

Es ist, denke ich, insgesamt ein Nischenbereich, der in der Statistik sicherlich nur eine untergeordnete Rolle spielt. Jedenfalls, soweit man damit eine Form von sog. Organisierter Kriminalität (OK) meint und sich an den diese angeblich kennzeichnenden Merkmalen orientiert. Das Problem ist: In dem Moment, in dem ein Angeklagter einen bestimmten Familiennamen trägt, wird das regelmäßig als OK gewertet, auch wenn die Tat überhaupt nicht in den Katalog hineinpasst. Wenn man alles dazu zählt, was in den staatsanwaltschaftlichen OK-Abtei­lungen behandelt wird, obwohl dort z. B. auch eine einfache Beamtenbeleidigung durch diese Angeklagten landet, gewinnt es natürlich eine ge­wis­se Relevanz. Es dürfte aber immer noch prozentual ein kleiner Bestandteil sein. Das hat mit OK nichts zu tun, läuft aber trotzdem unter diesem Label.

Schauen wir uns den Begriff doch mal genauer an: Was ist eigentlich ein „Clan“, was ist „Clankriminalität“?

Eine feste Definition gibt es meiner Kenntnis nach nicht, sondern es wird so wie ich das wahrnehme allein an dem Familiennamen festgemacht. „Clankriminalität“ definiert sich allein über eine Abstammung, nicht anhand der Straftat. D. h. es wird einfach eine gesamte Familie stigmatisiert, da wird gar nicht mehr differenziert, und auch Familienmitglieder, die strafrechtlich vielleicht völlig unbescholten sind, werden, wenn sie eine Bagatellstraftat begehen, automatisch in diesen Bereich einbezogen. Da stehen sich OK und „Clankriminalität“ in gewisser Weise gegenüber. Würde man jemanden hier in Berlin auf der Straße fragen, was er oder sie mit „Clankriminalität“ verbindet, würde laienhaft vermutlich ausgedrückt werden, was in den Richtlinien der Senatsverwaltung zur OK steht, also es würden schwerkriminelle Bereiche genannt werden. In der Praxis ist es so, dass diese sog. Clankrimi­nalität ein ganz eigenständiges Leben führt, das nach meiner Wahrnehmung unabhängig vom Bereich der OK ist. Es mag da Überschneidungen geben, aber die Wertung der „Clankriminalität“ setzt in der Praxis nicht voraus, dass man sich im OK-Bereich nach dieser Definition bewegt.

Grob geschätzt, wie viel davon hat deiner Erfahrung nach mit „OK“ zu tun?

Das ist für mich schwer zu sagen. Ich vertrete eine bestimmte Familie, die im besonderen Fokus der Öffentlichkeit steht, habe aber keinen Gesamtüberblick. Die Fälle, die ich mache und die der „Clankriminalität“ zugewiesen werden, sind zum allergrößten Teil, ich würde sagen zu 90%, nicht aus dem Bereich der Schwerkriminalität. Das ist Alltagskriminalität. Straßenverkehrsdelikte, Beamtenbeleidigung, Diebstahl, ohne Ende Infektionsschutzgesetz-Geschichten. Das ist, bei einzelnen Ausreißern, die große Masse der Verfahren, mit denen ich hier zu tun habe.

Du hast gesagt, es geht um bestimmte Familien – was für Familien sind denn da gemeint?

Damit sind Familien gemeint, die alle die Übereinstimmung haben, dass es nichtdeutsche Familien sind, jedenfalls von der familiären Herkunft über die letzten Jahrzehnte. Sie haben teils einen deutschen Pass. Es wird gesagt, sie kommen überwiegend aus der Türkei und dem Libanon, also in der herkömmlichen Definition „arabische Familien“.

Hast du das Gefühl, dass diese vage praktische Definition sich wandelt, dass es sich auch verändert, wer dazu zählt und wer nicht, oder ist es ein feststehender Begriff und ein abgeschlossenes Projekt der Kriminalisierung?

Ich habe den Eindruck, das ist abgeschlossen. Man hat sich bei der Staatsanwaltschaft irgendwann einmal entschieden, welche Familien in diesen Kreis zählen sollen. Wir haben jetzt viel über die Staatsanwaltschaft gesprochen, aber das läuft ja parallel mit politischer Stimmungsmache. Falko Liecke etwa ist sehr bekannt dafür, dieser Bezirksstadtrat aus Neukölln. Das ist so die politische Begleitmusik. Auch Tom Schreiber von der SPD, das sind so zwei namhafte Politiker aus Berlin. Diese Politik befördert das auch. Die sagen nicht etwa, wir müssen in den Bereich Schwerkriminalität rein und sind da schlecht aufgestellt, sondern die suggerieren, wer diesen Namen trägt, wird straffällig werden. Wenn da ein Freispruch erfolgt, sagt Liecke, wir haben heute eine Niederlage erlitten. Das ist die Anerkenntnis davon, dass die Verfahren von ganz eigener Art sind, was von der Politik auch so betrieben wird. Das merkt man übrigens auch in Gerichtssälen. Richter*innen haben teils große Angst vor dieser öffentlichen Wahrnehmung, davor, ein zu mildes Urteil oder sogar freizusprechen, weil sie die Sorge haben, sie werden in der Öffentlichkeit zerrissen. Und das erkennt man auch am Handeln der Staatsanwaltschaft.

Wie wirkt sich das in den Strafverfahren aus?

Ich versuche, das an einem konkreten Beispiel festzumachen: Der Mandant mit einem bekannten Familiennamen soll Hupe und Lichthupe benutzt haben und damit einen anderen Verkehrsteilnehmer genötigt haben, sich dann auch teilweise vor diesen gesetzt und ihn ausgebremst haben. Ein absoluter Alltagsfall, banal. Normalerweise würde das nicht sofort zu einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis führen, in diesem Fall geschieht das sofort. Und dann nicht etwa in der Form, wie das üblich ist, dass die Betroffenen die Möglichkeit haben, den Führerschein innerhalb einer Frist selbst abzugeben. In diesem Fall kamen die gleich morgens um fünf, haben eine Durchsuchung gemacht und den Führerschein dort sichergestellt. Völlig ungewöhnlich. Das zieht sich dann weiter durch das gesamte Strafverfahren. Der zentrale Zeuge wird richterlich vernommen. Richterliche Vernehmungen sind absolute Ausnahmen, das macht man, wenn man konkrete Anhaltspunkte hat, dass ein Zeuge später nicht mehr verfügbar ist oder so. So etwas macht deutlich, dass in solchen Verfahren offenbar eigene Regeln gelten. Das war hier noch nicht mal die OK-Abteilung, sondern eine Oberamtsanwältin, die sich – man kann das gar nicht anders erklären – offensichtlich zu diesen ausschreitenden Maßnahmen allein aufgrund des Familiennamens des Beschuldigten veranlasst gesehen hat.

Ein anderes Beispiel: Ein Verfahren mit mehreren Verhandlungstagen, es geht um Ladendiebstahl, der Mandant schweigt. Er sitzt in anderer Sache in Strafhaft und per Zufall erfahre ich, dass es eine neue Vollzugsplanfortschreibung[1] gibt und da etwas von der Richterin, bei der wir gerade verhandeln, drinsteht. Ich lasse mir die Unterlagen mitbringen und lese dort:

„Im Zusammenhang mit diesem anhängigen Verfahren vermittelte die zuständige Richterin vom Amtsgericht am […], dass sie auch Bedenken gegen eine mögliche Verlegung in den offenen Vollzug erhebt. Diese Einschätzung begründete sich u. a. durch das Auftreten seitens Herrn [R.] im Rahmen der Hauptverhandlung, welches als ausgesprochen respektlos wahrgenommen werde. Herr [R.] reflektiere auch nicht ansatzweise seine Rolle im Zusammenhang mit der Straffälligkeit, zeige keine Akzeptanz im Hinblick auf die geltende Normen- und Werteordnung, so dass auch nicht von einer strafffreien veränderten Verhaltensweise auszugehen sei“.

Das teilt diese Richterin der Haftanstalt mit bei einem Angeklagten, der sich in der Verhandlung noch nie geäußert hatte. Ich habe da ein Befangenheitsgesuch gestellt, das ist dann auch durchgegangen. Das ist vielleicht ein besonders krasses Beispiel, zeigt aber eine Haltung, die weitverbreitet ist. Allein aufgrund des Namens geht man von vorneherein davon aus, dass das Wertesystem nicht akzeptiert werde, die Schuld steht fest. Das Verfahren läuft zwar noch, aber die Unschuldsvermutung gilt nicht.

Dieses vermeintliche Wissen konnte ja nicht aus dem Verfahren gezogen werden, sondern musste schon bestehen. Haben sich solche Wissensbestände in Staatsanwaltschaft, Justiz usw. verfestigt?

Genau, das ist so. Und das sagen einem zum Teil auch die Richter*innen und Staatsanwält*innen in diesen Verfahren: Wenn ich einen Vorschlag mache, heißt es, das können wir nicht machen, da werden wir doch in der Öffentlichkeit zerrissen. Oder sie rufen angsterfüllt ein paar Tage vorher an, was in diesem Verfahren zu erwarten sei, ob es Störungen geben werde. Ganz normale Verfahren, es gibt überhaupt keinen Hinweis auf Störungen. Aber allein dieser Name löst Angstreflexe aus.

Das Beispiel mit der Durchsuchung zeigt auch einen größeren Ermittlungsaufwand, man hängt die Sache von vorneherein höher. Kann das auch dazu führen, dass man als Richter*in dann bestätigen muss, was man selbst vorgegeben hat, sodass man im Sinne einer „self-fulfilling prophecy“ nicht mehr einstellen oder freisprechen kann?

Das Problem existiert. Man hat den Eindruck, die Hürde für einen Freispruch ist deutlich höher, für die Einstellung sowieso. Was die Einstellungsmöglichkeiten betrifft gelten auch eigene Regelungen. Dass man beispielsweise auch bei nicht vorbelasteten Menschen, die diesen Familiennamen tragen, selbst bei Bagatellvorwürfen üblicherweise nicht über eine Verfahrenseinstellung reden kann. Auch bei praktisch unbelasteten Jugendlichen, da würde man die meisten Verfahren, die bei mir auftauchen, in aller Regel gleich einstellen. Die werden aber zur Anklage gebracht. Weil man denkt, das sind desolate Familienstrukturen, hier muss der Staat frühzeitig erzieherisch wirken, die ganze Vorurteilsstruktur greift durch. Und dann muss dieser Jugendliche auch wegen eines kleinen Ladendiebstahls und obwohl vorher noch nichts war, zum Gericht gehen.

Was die Freispruchsgrenze betrifft: Ich habe das in einem besonders spektakulären Verfahren erlebt, da ging es um einen Mordvorwurf gegen ein Mitglied dieser Familie. Der ist zwar am Ende nach über einem Jahr Verhandlung freigesprochen worden, aber trotzdem hatte ich die ganze Zeit den Eindruck, das richterliche Verhalten, die Ängstlichkeit, die ich bei der Justiz wahrgenommen habe, die ist ganz stark in der Sorge begründet, bei einem Freispruch werde es in der Öffentlichkeit zu heftiger Kritik kommen. Das zeigt sich z. B. daran, dass dieser heranwachsende junge Mann bis zur Urteilsverkündung in Untersuchungshaft geblieben ist, insgesamt ca. 1,5 Jahre, obwohl nach meiner Auffassung der Freispruch schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt zum Greifen nahe lag. Dass es so lange gedauert hat, lag in meiner Wahrnehmung auch an der besonderen öffentlichen Beobachtung dieses Verfahrens. Die Messlatte hängt einfach höher.

Kommen auch höhere Strafen als in anderen Verfahren heraus?

Nicht durchgängig, aber ich könnte mehrere Verfahren anführen, in denen die Strafe das übliche Niveau verlässt. Ich habe den Eindruck, dass das Prinzip der Abschreckung, also generalpräventive Erwägungen in diesen Verfahren eine ganz andere Rolle spielen als in „normalen“ Verfahren. Dass man ohnehin unterstellt, dieser Mensch kommt aus höchst problematischen Strukturen, die Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten sei enorm groß, sogar da, wo es keine entsprechenden Hinweise gibt, und dass man insoweit generalpräventive Erwägungen in besonderer Weise durchschlagen lässt. Ganz deutlich kann ich einen Unterschied feststellen, was die Strafanträge bei der Staatsanwaltschaft betrifft, die den üblichen Rahmen teils komplett verlassen. Nur ein Beispiel: Für zwei Verstöße gegen Covid-19-Bestimmungen gab es einen Strafbefehl über 100 Tagessätze, insgesamt 3.000 Euro. Üblicherweise würde so ein Verfahren eingestellt werden, zumindest, wenn man weiß, welchen Hintergrund die angeblichen Verstöße gehabt haben sollen: Da ging es nämlich um die Trauerfeier für ein Elternteil. Diese Trauerfeier wurde von der Polizei intensiv beobachtet, und zwar nur unter der Prämisse, wo können wir Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit Covid-19 erkennen. Dann sind im Grunde genommen sämtliche Beerdigungsteilnehmende mit diesen Strafverfahren überzogen worden. Da sind die auch über gesetzliche Bestimmungen hinweggegangen, das hat sich später als falsch erwiesen, strafbar war das alles nicht. Die Strafbefehle mussten dann alle zurückgenommen werden, aber erstmal sind die mit diesen exorbitanten Strafen rausgehauen worden.

Stichwort Generalprävention: Es gibt ja generell im Bereich OK oder auch bestimmten anderen ethnisierten Bereichen die Wahrnehmung in der Justiz, das sei doch ohnehin nur die Spitze des Eisbergs, man treffe jedenfalls nicht die Falschen. Kannst du da mit dem Begriff „Feindstrafrecht“ etwas anfangen?

Auf jeden Fall. Ich komme nochmal darauf zurück, was der Neuköllner Bezirksstadtrat Falko Liecke dazu sagt, davon bleibt ja vielleicht in der Justiz auch was hängen. Liecke postete nach diesem Freispruch in dem Mordverfahren auf Facebook:

„Ein mutmaßlicher Mörder wird freigesprochen. Und der Vater und Clanchef randaliert im Gericht. Das Auftreten von Issa [R.] zeigt die völlige Respektlosigkeit vor unseren Gerichten und unserem Wertesystem. Wer Millionen Euro ergaunert und zwei Hand voll Intensivtäter in die Welt gesetzt hat, sollte den Ball dem Staat gegenüber sehr flach halten. Das Gericht hat entschieden und so schwer es mir fällt, das Urteil ist zunächst anzuerkennen. Rechtskräftig ist es aber noch nicht. Der Staatsanwalt wird Rechtsmittel einlegen. Gut so! Wir haben gestern verloren. Das ist bitter und ein Rückschlag im Kampf gegen die Clans. Aufgeben werden wir aber trotzdem nicht. Irgendwann kriegen wir sie. Denn eines ist sicher: Sie werden weiter Straftaten begehen.“[2]

Das ist natürlich eine Einzelmeinung eines bestimmten Politikers, aber übertragen auf die Justiz ist das ja genau die Definition von Feindstrafrecht: Wir gegen sie. Ich will da nicht alle über einen Kamm scheren, ich finde es gibt durchaus Richter*innen, die sich dagegen wehren, mit denen man vernünftig reden kann. Aber wir haben regelmäßig das Problem, dass dieses von der Politik projizierte Bild auch viele Richter*innen nicht völlig unbelastet lässt, sondern dass sie bereit sind, mitzugehen und diese feindstrafrechtlichen Erwägungen – wir wissen doch, sie werden weiter Straftaten begehen, im Grunde sind es verlorene Familien – da eine große Rolle spielen. Sieht man sich die Familie, von der da die Rede ist, genauer an, sieht man, das sind acht Söhne mit völlig unterschiedlichen Biografien. Einer völlig unbelastet und studiert. Aber er hat diesen Familiennamen und fällt mit unter die „zwei Hand voll Intensivtäter“.

Was heißt das aus der Perspektive der Betroffenen, wie ist das für die?

Das wird als Stigmatisierung extrem wahrgenommen. Diese Feinderklärung, die ich teilweise in der Politik, teilweise in der Justiz, ich würde sagen fast durchgängig bei der Polizei erkenne, spielt für das Leben dieser Leute eine riesige Rolle. Bei Polizeikontrollen hat man oft so seine Zweifel, ob das wirklich zufällig war. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass bestimmte Fahrzeuge, wenn man sie einer Familie zuweisen kann, regelmäßig kontrolliert werden. Und was mir die Mandanten dann erzählen, diese komplette Respektlosigkeit, diese Beleidigungen, das ansatzlose Duzen. Da wird sofort eine aufgeladene Stimmung herbeigeführt, die natürlich öfters – und das wäre dann der polizeiliche Erfolg – in einer Strafanzeige resultiert, weil am Ende doch einer die Nerven verliert und dann doch eine Beamtenbeleidigung ausstößt.

Es betrifft aber noch eine weitere Ebene. Ich hatte ein Verfahren, da soll der Mandant in der Silvesternacht Böller am Ku‘damm geworfen haben. Daran hat sich eine Verfolgungsjagd durch die Westberliner City angeschlossen. Der Mandant dachte nur: Wenn die mich jetzt kriegen – es gibt ja auch diesen Jagdfieber-Effekt –, werden die mich zusammenschlagen, und zwar nicht zu knapp, das ist meine Erfahrung mit meinem Familiennamen. Ich muss einen Ort finden, der sie vielleicht davon abhält, der kameraüberwacht ist. Der Mandant setzt sein Fahrzeug also auf eine Tankstelle. Es gab tatsächlich eine Kamera und auf der Aufnahme sieht man, wie er aus dem rollenden Fahrzeug springt, die Arme hochreißt, unmittelbar danach mehrere Polizeifahrzeuge. Und dann fängt ein polizeiliches Toben an: Dieser Mensch, der da mit erhobenen Händen steht, wird zu Boden gerissen und geschlagen, die Beifahrerfensterscheibe zerschlagen und der Beifahrer mit Brachialgewalt durch das Fenster gezogen, auf das Autodach klettert ein Polizeibeamter, der wie besinnungslos auf das Auto einschlägt, während andere von allen Seiten die Scheiben einschlagen. Ein weiterer Beamter zieht seine Knarre und richtet sie auf die Festgenommenen. Darin drückt sich diese besondere Behandlung aus, die anfängt bei der Polizei und sich dann eben in der Justiz fortsetzt. In der Akte hatten die Polizisten natürlich ganz andere Stories erzählt: Der wollte abhauen und hat Fluchtbewegungen gemacht, deshalb sind wir auf ihn drauf. Es gibt bei der Polizei ganz eklatante Feindbilder was diese Familien betrifft. Das führt z. B. dazu, dass ein anderer Mandant mir mal gesagt hat: Ich habe in meinem Schlafzimmer eine Kamera installiert, die auf mein Bett zeigt, weil ich weiß, es gab öfter Durchsuchungen bei mir, die stürzen sich auf mich, auch wenn ich im Bett bin, und schlagen mich erstmal zusammen, und ich möchte wenigstens das über diese Kamera dokumentiert wissen.

Was heißt das für das Verhältnis und Vertrauen zu Staat, Justiz und Polizei, wenn man nur noch mit Kamera über dem Bett schläft?

Genau, das ist im Grunde natürlich nicht mehr zu kitten, wenn man schon so weit gegangen ist, dass man diese Angst hat. Das bedeutet, dass dieses Vertrauen – was es möglicherweise nie gegeben hat, weil es sehr frühzeitig auch gestört ist, etwa durch den Umgang der Ausländerbehörden mit diesen Familien – unrettbar verloren ist in vielen Fällen. Auch das kann sicher nicht verallgemeinert werden. Es gibt ja auch Menschen aus diesen Familien, die einen völlig bürgerlichen Weg einschlagen, bestimmte Erfahrungen vielleicht nicht gemacht haben. Natürlich gibt es Familien, in denen eine erhöhte Zahl von Straftaten feststellbar ist, das will man ja gar nicht wegdiskutieren, aber es bedingt sich in gewisser Weise gegenseitig, es entsteht eine Dynamik.

Inwiefern kann man sich denn bei dieser Ausgangslage ein bürgerliches Leben aufbauen?

Die Grundvoraussetzungen sind massiv erschwert. Ein Mandant hat versucht, eine Sicherheitsfirma aufzumachen. Er ist, von ein oder zwei Bagatellgeschichten abgesehen, strafrechtlich praktisch unbelastet. Der bekam einen mehrseitigen Schrieb vom Ordnungsamt, wo ihm die Gewerbeerlaubnis versagt wird. Da habe ich den Eindruck, die haben wirklich alles zusammengetragen, was man finden kann, auch ein Bescheid eigener Art, von eigenem Begründungsansatz, der sich gar nicht anders erklären lässt, als dass man gesagt hat: Wir wollen nicht, dass ein Mensch mit diesem Familiennamen eine Sicherheitsfirma aufmacht.

Kannst du noch mehr zu diesen außerstrafrechtlichen Folgen sagen, etwa im Aufenthaltsrecht?

Eine Aufenthaltsverfestigung wird von vorneherein torpediert. Der überwiegende Anteil von den strafrechtlich in Erscheinung Tretenden hat eine sog. Kettenduldung. In anderen Kreisen kennt will man den Menschen nach Jahrzehnten irgendwann doch eine Perspektive bieten  und fängt an, ihnen befristete und später weitergehende Aufenthaltsgenehmigungen zu erteilen. In unserem Bereich ist es viel schwieriger, diese Leute aus diesem gesellschaftlichen Abseits rauszukriegen. Wenn man keine Perspektive hat und schon als Jugendlicher vermittelt bekommt, einen Job wirst du ohnehin nicht kriegen, denn du kriegst ja keine Arbeitserlaubnis, wenn die als Schüler schon wissen, auch wenn ich meine Schule richtig abschließe, ich kriege trotzdem nur eine Duldung mit Arbeitsverbot, wo soll die Motivation herkommen? Insoweit wird der Weg in eine bürgerliche Existenz für viele Leute erschwert.

Ist das auch ein Ersatzdenken, wenn wir sie strafrechtlich schon nicht rankriegen, versuchen wir es anders?

Das wird ja im Grunde auch offiziell propagiert, als Nadelstich-Politik. Man will sie mürbe machen, zeigen: Wir sind die ganze Zeit ganz nah dran, beobachten jeden Schritt von euch. Bei den Betroffenen gibt es in der Folge keinerlei Erwartungshaltung mehr, dass man vielleicht mit Unterstützung rechnen darf, was ja auch eine denkbare Variante wäre bei Leuten, die sich aus bestimmten Kreisen entfernen wollen. Es wird aber von vorneherein allen mit großem Misstrauen begegnet: Ihr habt ja sowieso keine Chance. Als wäre die Neigung zu Kriminalität in deren Genen oder Blut enthalten.

[1]   In solchen Plänen kann insbesondere über mögliche Lockerungen der Haftbedingungen entschieden werden.
[2]   Post vom 18.7.2019, Anm. d. Red.

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